Ich hätte da ein paar Fragen an Sie (eBook)
560 Seiten
Eisele eBooks (Verlag)
978-3-96161-177-5 (ISBN)
Rebacca Makkai ist eine der renommiertesten amerikanischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihr dritter Roman Die Optimisten bedeutete für sie den großen Durchbruch und wurde nicht nur ein New-York-Times-Bestseller, sondern stand auch auf der Shortlist für den Pulitzer Prize und den National Book Award. Ich hätte da ein paar Fragen an Sie ist ihr vierter Roman, der sofort nach Erscheinen auf die New-York-Times-Bestsellerliste sprang. Rebecca Makkai lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Chicago.
REBECCA MAKKAI ist eine der renommiertesten amerikanischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihr dritter Roman Die Optimisten bedeutete für sie den großen Durchbruch und wurde nicht nur ein New-York-Times-Bestseller, sondern stand auch auf der Shortlist für den Pulitzer Prize und den National Book Award. Ich hätte das ein paar Fragen an Sie ist ihr vierter Roman. Rebecca Makkai lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Chicago.
2
Entgegen aller Wahrscheinlichkeit fuhr ich im Januar 2018 in einem jener guten alten Blue Cabs, die mich vor langer Zeit so oft vom Flughafen in Manchester abgeholt hatten, in rasantem Tempo erneut zum Gelände des Internats. Mein Fahrer sagte, er habe schon den ganzen Tag Leute nach Granby chauffiert.
»Die waren alle irgendwo im Urlaub.«
»Die waren zu Hause in den Ferien«, sagte ich.
Er schnaubte, als hätte ich einen üblen Verdacht von ihm bestätigt.
Er fragte mich, ob ich Lehrerin in Granby sei. Kurz war ich erstaunt, dass er mich nicht für eine Schülerin hielt. Doch in seinem Rückspiegel sah ich: eine gestandene Erwachsene mit Falten um die Augen. Nein, sagte ich ihm, ich sei nur besuchsweise hier, um einen zweiwöchigen Kurs zu geben. Ich erklärte ihm nicht, dass ich in Granby zur Schule gegangen war und die Strecke, die wir fuhren, so gut kannte wie ein altes Lied. Es schien mir zu viel Information für eine zwanglose Unterhaltung. Ich erläuterte ihm auch nicht das Konzept des Minimesters, weil es zu einfach geklungen und exakt seiner Vorstellung davon entsprochen hätte, was die verwöhnten Kids da so trieben.
Es war Frans Idee, mich an die Schule zu holen. Fran selbst war in all den Jahren kaum weggewesen; nach dem College, Studium und einiger Zeit im Ausland war sie zurückgekehrt, um in Granby Geschichte zu unterrichten. Ihre Frau arbeitet im Zulassungsbüro, und sie leben mit ihren Söhnen auf dem Internatsgelände.
Mein Fahrer hieß Lee und erzählte mir jetzt, er »kutschiere diese Granby-Kids schon rum, seit ihre Großväter da zur Schule gingen.« Granby sei die Art von Schule, auf die man es nur mit familiären Beziehungen schaffe. Ich hätte ihm gern gesagt, wie falsch er da lag, aber die Gelegenheit, seine Annahme zu korrigieren, dass ich eine Außenstehende sei, war längst verstrichen. »Diese Kids machen so viel Mist, Sie würden’s nicht glauben«, fuhr er fort und fragte mich, ob ich den Artikel im Rolling Stone »vor ein paar Jahren« gelesen hätte. Dieser Artikel (»In Freiheit leben oder sterben: Alkohol, Drogen und Tod durch Ertrinken an einem Elite-Internat in New Hampshire«) war 1996 erschienen, und ja, wir hatten ihn alle gelesen und uns von unseren College-Wohnheimen aus Mails geschrieben, wütend über all die Fehler und Mutmaßungen – ähnlich wie wir uns neun Jahre später schreiben sollten, als Dateline alles wieder ans Tageslicht zerrte.
Lee sagte: »Die beaufsichtigen die Schüler da kein bisschen. Wenigstens gibt es die Regel, dass sie kein Uber benutzen dürfen.«
»Komisch, ich habe das Gegenteil gehört«, sagte ich. »Was das Beaufsichtigen angeht.«
»Na klar, die lügen. Die wollen, dass Sie da unterrichten, also erzählen sie Ihnen sonst was.«
In den fast dreiundzwanzig Jahren seit meinem Abschluss war ich nur dreimal in Granby gewesen. Es hatte ein frühes Klassentreffen gegeben, als ich in New York lebte; ich war eine Stunde geblieben. 2008 war ich zu Frans und Annes Hochzeit in der Internatskirche gekommen, der Alten Kapelle. Und im Juli 2013 war ich für ein paar Tage nach Vermont gefahren, um Fran und ihr erstes Baby zu sehen. Das war’s. Unser Zehntes, Fünfzehntes und Zwanzigstes hatte ich gemieden, die Alumni-Treffen in L. A. ignoriert. Erst als das Camelot-Video aufgetaucht war und Fran mich zu einem Gruppenchat hinzufügte, in dem dann am Ende Theatererinnerungen ausgetauscht wurden, bekam ich echte Sehnsucht nach der Schule. Ich dachte, ich würde auf 2020 warten – unser Fünfundzwanzigstes und zugleich die Zweihundertjahrfeier der Schule, zu der sicher viele aus meiner Klasse kommen würden. Doch dann erhielt ich diese Einladung.
Günstig war auch, dass Yahav, der Mann, mit dem ich eine sich hinziehende, ausweglose Fernaffäre hatte, nur zwei Stunden entfernt wohnte, weil er für ein Jahr an der Bostoner Uni Jura lehrte. Yahav hatte einen israelischen Akzent und war groß, brillant und neurotisch. Unsere Beziehung war nicht so, dass ich einfach hinfliegen konnte, um ihn zu sehen. Aber zufällig in der Gegend sein, das konnte ich.
Außerdem wollte ich herausfinden, ob ich dazu in der Lage wäre – ob ich trotz meiner Nervosität, meiner fast jugendlichen Panik, inzwischen so weit war, das Mädchen zu überflügeln, das als Schülerin in Granby gerade so zurechtgekommen war. In L. A. war mir zwar theoretisch klar, dass ich etwas zustande gebracht hatte – eine ehemalige College-Dozentin mit einem vielgepriesenen Podcast, eine Frau, die eine Mahlzeit aus Zutaten vom Bauernmarkt zubereiten und ihre Kinder vernünftig gekleidet auf den Weg zur Schule bringen konnte –, aber in meinem Alltag spürte ich nicht besonders deutlich, was für eine weite Strecke ich zurückgelegt hatte. In Granby, das wusste ich, würde es mich hart treffen.
Da waren also das Geld und der Kerl und mein Ego, und – unter alledem, als unhörbar tiefer Ton – Thalia und das Gefühl, ganz leicht aus dem Lot geraten zu sein, seit ich mir das Video angeschaut hatte.
Jedenfalls hatte man mich gefragt, und ich hatte zugesagt, und hier war ich nun und ließ mich, auf der Rückbank angeschnallt, von Lee, der fünfzehn Stundenkilometer zu schnell fuhr, zum Internat befördern.
Er sagte: »Was bringen Sie denen bei, Shakespeare?«
Ich erklärte ihm, dass ich zwei Kurse unterrichten würde: einen übers Podcasten und einen zweiten über Film.
»Film!«, sagte er. »Gucken die Schüler da Filme oder machen sie selber welche?«
Ich hatte das Gefühl, dass es keine Antwort gab, die Lee nicht noch schlechter von mir und der Schule denken lassen würde. Ich sagte: »Es geht um die Geschichte des Films«, was korrekt und unvollständig zugleich war. Also fügte ich noch hinzu, dass ich bis vor kurzem Filmwissenschaften an der UCLA unterrichtet hatte, mit dem erwünschten Effekt – ein Trick, den ich schon öfter angewendet habe –, dass er direkt auf die Bruins und Football zu sprechen kam. Ich konnte zustimmende Geräusche von mir geben, während er monologisierte. Wir hatten nur noch zwanzig Minuten Fahrt vor uns, und es war unwahrscheinlich, dass er mich jetzt noch über Podcasts ausfragen oder mir Quentin Tarantino herrklären würde.
Die Schule hatte mich an sich nur für den Filmkurs eingeladen; den zweiten Kurs hatte ich zusätzlich angeboten, weil es doppelt so viel Geld brachte – aber auch, weil ich noch nie gut stillsitzen konnte und keine Lust hatte, Däumchen zu drehen, wenn ich schon meine Kinder alleinließ und zwei Wochen im Wald verbrachte. Das Bedürfnis, immer auf Trab zu sein, ist ein Symptom hochfunktionaler Angst und zugleich der Schlüssel zu meinem Erfolg.
Der Podcast, den ich zu der Zeit produzierte, hieß Starlet Fever und war eine Serie zur Geschichte von Frauen im Film – dazu, wie sie von der Industrie verschlungen und wieder ausgespuckt wurden. Er lief so gut, wie man es von einem Podcast vernünftigerweise erwarten konnte, erreichte in diversen Downloadberechnungen manchmal sogar Spitzenplätze. Es ließ sich ein bisschen Geld damit verdienen, und manchmal, sehr aufregend, erwähnte uns ein Promi in einem Interview. Mein Co-Moderator Lance hatte seinen Landschaftsgärtnerjob aufgeben können, ich war in der Lage, die Hilfsprof-Krümel abzulehnen, die UCLA mir hinwarf, und es gab ein paar Literaturagenten, die angeboten hatten, uns zu vertreten, falls wir an einem Buch mitschreiben wollten. Wir steckten knietief in den Vorbereitungen für die kommende Sendung, in der es um Rita Hayworth gehen würde, aber die Recherche dafür konnte ich überall machen.
Auf der Route 9 folgten wir einem anderen Blue Cab mit zwei Jugendlichen hinten auf der Rückbank. Lee sagte: »Na bitte, das sind bestimmt welche von Ihren Schülern. Keins der Kids ist von hier. Die kommen sogar aus anderen Ländern. Heute Morgen habe ich ein paar Mädchen gefahren, die gerade aus China zurückkamen, die haben kein Wort gesagt. Wie können sie am Unterricht teilnehmen, wenn sie kein Englisch sprechen?«
Ich tat so, als müsste ich einen Anruf entgegennehmen, bevor sein Rassismus noch unverhohlener wurde.
»Gary!«, sagte ich zu dem Niemand in meinem Handy und verteilte dann zehn Minuten lang in gewissen Abständen meine M-hms und Okays, während draußen der eisige Wald vorbeiraste. Ohne die Ablenkung durch Lee hatte ich nun allerdings leider Gelegenheit, die Nervosität zu spüren, die ich bisher erfolgreich ignoriert hatte, und zu spüren, wie der Wald mich Richtung Granby verschluckte. Hier war die kleine weiße Kirche, die für mich immer als Zeichen gedient hatte, dass ich bald da sein würde. Hier kam die Abbiegung auf eine schmalere Straße, die sich tief in mein Muskelgedächtnis eingeprägt hatte.
Und prompt fielen mir die zu langen Jeans-Shorts und das gestreifte Tanktop ein, die ich 1991 auf meiner ersten Fahrt nach Granby getragen hatte. Und ich erinnerte mich, dass ich mich gefragt hatte, ob Leute aus New Hampshire einen Akzent hatten, nicht ahnend, wie wenige von meinen Mitschülerinnen und Mitschülern überhaupt aus New Hampshire stammten. Das sagte ich tunlichst weder zu Lee noch in mein Handy.
Die Robesons, die Familie, bei der ich damals lebte, hatten mich den größten Teil der Strecke, von Indiana aus, an nur einem Tag gefahren, und als wir am nächsten Morgen aufwachten, hatten wir nur noch einen einstündigen Weg vor uns. Ich saß bei heruntergelassenem Fenster hinten, hielt das Gesicht in den Fahrtwind und schaute auf das vorbeirollende kalenderblatthübsche Ackerland und die undurchdringlichen Wälder,...
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2023 |
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Übersetzer | Bettina Abarbanell |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
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ISBN-10 | 3-96161-177-7 / 3961611777 |
ISBN-13 | 978-3-96161-177-5 / 9783961611775 |
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