Himmelskörper (eBook)
319 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3156-7 (ISBN)
Drei Frauen, drei Generationen: Zwischen Berlin und Polen ist eine junge Frau einem Familiengeheimnis auf der Spur
»Es gibt so viel Ungeklärtes in unserer Familie, das mir plötzlich keine Ruhe mehr läßt. Als hätte eine Art Wettlauf mit der Zeit begonnen ... vielleicht ist es ein unbewußter Drang, zu wissen, in was für einen Zusammenhang, in was für ein Nest ich da mein Kind setze ...«
Freia, die junge Meteorologin aus Berlin, ahnt mehr und mehr, daß es in ihrer ach so normalen Familie nicht nur ein Geheimnis gibt, weswegen vertuscht, gelogen, verdrängt wird. Was immer Freia erfragt oder vermutet, alles scheint 1945 begonnen zu haben - an jenem bitterkalten Morgen im Krieg, als die Großmutter mit Freias Mutter, damals ein Mädchen von fünf Jahren, auf einem der letzten Schiffe aus Westpreußen über die Ostsee fliehen wollte. Freia, die jetzt selbst ein Kind erwartet, muß dieser Geschichte auf den Grund gehen, um sich von der Vergangenheit zu befreien ...
Tanja Dückers wurde 1968 in Westberlin geboren. Sie studierte Nordamerikanistik, Germanistik und Kunstgeschichte. Neben Prosa und Lyrik schreibt sie Essays, Hörspiele und Theaterstücke. Sie erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, die sie u. a. nach Kalifornien, Pennsylvania, Gotland, Barcelona, Prag und Krakau führten. Sie lebt in Berlin.
1
Bahnsteig, abends
Ich hatte das Foto nicht dabei. Unruhig durchwühlte ich meine Reisetasche, durchblätterte einen Notizblock, eine Zeitung, schlug meinen Paß auf, suchte zwischen Bahn-Card und Bibliotheksausweis, zwischen Thermoskanne und getrockneten Früchten das kleine Schwarzweißbild, das ich gestern aus dem Foto-Schuhkarton genommen und auf meinen Schreibtisch gelegt hatte. Ich biß mir vor Wut auf die Lippen. Als ich den Kopf hob, begegnete ich dem Blick eines stark geschminkten jungen Mädchens, der nicht Mitleid, sondern Verachtung ausdrückte. Schließlich schlug ich den weißen Ordner mit den vielen Klarsichtfolien wieder auf, einen Ordner, der mich seit Jahren weite Reisen unternehmen ließ.
»EINE BITTE UM WOLKENBILDER. – Die Internationale Meteorologische Konferenz hat beschlossen, bei ihrem nächsten Treffen, 1894 in Uppsala, einen farbigen Wolkenatlas zu veröffentlichen, um die typischen Wolkenformationen nach der Nomenklatur von Hildebrandsson und Abercromby darzustellen. Das mit der Durchführung betraute Komitee bittet um die Ausleihe von farbigen Zeichnungen oder Gemälden nach der Natur, damit die geeignetsten in dem Atlas repoduziert werden können. Solche Wolkenstudien können zur Beurteilung an das amerikanische Mitglied der Kommission geschickt werden, A. Lawrence Rotch, Blue Hill Observatory, Readville, Massachusetts. Sie werden den Verleihern in gutem Zustand zurückgegeben.«
Mit dieser 1892 im American Meteorological Journal erschienenen Anzeige – nur ein typisches Beispiel von vielen ähnlichen Aufrufen – wollte ich morgen meinen Vortrag beginnen. Ich sortierte meine Notizblätter, die lose im hinteren Teil des Ordners gelegen hatten, auf meinem Schoß. Der Treibhauseffekt, die Klimaerwärmung würden natürlich ein Thema auf dem Kongreß sein, auch die Frage, wie man ohne Mitarbeit der USA an einem wirksamen Abkommen zur Reduktion der Luftverschmutzung arbeiten könnte. Es wurden Beiträge aus London, Rom, Kioto, Sydney und Wellington erwartet, auf die ich sehr gespannt war, aber auch Referenten wie Dr. Tuben aus Wien, der über »Esoterik und Exosphäre« sprechen würde, interessierten mich, weil sie unkonventionelle Ansätze versprachen.
Ich selbst wollte einen historischen Überblick über die verschiedenen Wolken-Klassifikationsmodelle geben, um anschließend ein leidenschaftliches Plädoyer für einen neuen, umfassenderen Wolkenatlas mit internationaler Beteiligung zu halten.
»237 Kilometer pro Stunde« verriet die flackernde Anzeige. Ein kleines Kind neben mir weinte im Rhythmus des schaukelnden Zuges vor sich hin. Der Papierstapel auf meinem Schoß zitterte.
»Goethe glaubte, die Anziehungskraft der Erde und die Elastizität der Luft bewirke die Formung des atmosphärischen Wasserdampfs zu wolkenartigen Gebilden«, las ich meine in der Unruhe der letzten Wochen niedergeschriebenen Zeilen, »diese Ansicht gab er erst auf, als er 1815 eine Übersetzung von Luke Howards Abhandlung gelesen hatte. Mit Howards neu eingeführten Wolkentypen: Stratus, Kumulus, Zirrus und Nimbus betitelte er vier Gedichte – unter dem Obertitel ›Howards Ehrengedächtnis‹.«
Mein Doktorvater Dr. Remler würde wenig Verständnis für meinen poetischen Exkurs aufbringen. War das nicht schon immer so gewesen? Im Studium hatte ich zur verachteten Minderheit gehört, die Dr. Tubens ausufernden, Kunst- und Kulturgeschichte und selbst Parapsychologie berührenden Gastvorträgen gelauscht hatte.
Einen Moment schaute ich aus dem Fenster: Stratocumulus, Fractocumulus, gemischt mit Altocumulus Castellanus, turmförmigen Haufenwolken, darunter geziegelte Häuschen, Felder, ein Traktor, winzige Menschen, die auf den Boden anstatt in den Himmel guckten; kleine Regentropfen fingen an, schräg das Zugfenster zu streifen.
Peter im blauen Overall, im Garten, Kirschen über die Ohrmuscheln gehängt, lachend. Mäxchen mit Krücken am Bleichen See, vermutlich im Gespräch mit Silberlügenaalen, sehr nachdenklich. Jo auf einer Anhöhe stehend, mit bunter Daunenjacke, eine Kamera in der Hand. Paul auf Peters Arm, ihn mißtrauisch beäugend: Ich starrte auf die Fotos, die ich aus dem zerschlissenen Umschlag, den ich auf jeder Reise dabeihabe, gezogen hatte. Ein Foto jeder Person. Das genügte. Ich besaß keine Alben zu Hause.
Ich blickte noch einmal auf das Bild von Peter mit den Kirschen über den Ohren und mußte wieder daran denken, wie mein Vater früher taubengraue Briefe an »Gott« geschrieben und ins Meer geworfen hatte. »Papa, was hast du denn Gott geschrieben?« fragten Paul und ich. Peter antwortete nur: »Das bleibt mein Geheimnis.« Nach dem Abendessen stand er oft auf und verschwand. Erst im Morgengrauen kehrte er mit zerzausten Haaren und Blättern an den Ärmeln seines wetterfesten Anoraks zurück. Manchmal erzählte er uns, er habe im Wald mit Elfen gesprochen. Und dann malte Peter diese Elfen für uns. Paul und ich stritten oft, wer denn diese Zeichnungen jetzt in seinem Zimmer anstelle der langweiligen Tierposter aus der Apotheke aufhängen durfte. Meine Mutter lachte nur, wenn wir sie baten, etwas für uns zu zeichnen. »Das kann ich nicht«, sagte sie verlegen. Nicht einmal Silberlügenaale wollte sie malen, dabei gab es doch wirklich nichts Einfacheres. Man brauchte nur einen silbernen Edding dafür. Sie glaubte immer, etwas nicht zu können.
Der Regen wurde stärker, und bald waren die Häuschen, die Felder und die Traktoren nur noch rote, gelbe und grüne Flecken, begleitet von einem beständigen Prasseln und Trommeln. Pe-ter. Pe-ter. Pe-ter. Peter, der Kopfschmerzen hat, den eine Wespe gestochen hat, der am Strand auf eine Qualle getreten ist. Der am ersten Urlaubstag in Dänemark alle mit seiner schlechten Laune quälte, weil er keinen Zigarettenautomaten neben der Blockhütte fand. Der seine lustigen Geschichten schrieb, bis man vor Müdigkeit, und weil auch Lachen auf die Dauer anstrengend ist, nicht mehr konnte.
Weder Paul, der aus dem Stegreif Geschichten erfinden konnte, noch ich, das Mathe-As und Knobeltalent, und schon gar nicht meine Mutter, von der jeder glaubte, sie und ihre Frauenzeitschriften, ihren Kräutergarten und ihre Königsberger Klopse in- und auswendig zu kennen, standen im Mittelpunkt unserer Familie. Nein, es war immer Peter. Pe-ter. Die Regentropfen wiederholten seinen Namen mit geisterhaften nassen Zungen. Pe-ter. Pe-ter. Hatte schöne braune Augen, in denen der Schalk geschrieben stand, und Arme, die uns hoch in die Luft werfen konnten, als wir klein waren.
Breite Schlieren rannen die Scheiben entlang. Vom Fahrtwind wurde der rasche Weg der Wassertropfen nach unten gebremst, und sie liefen wie im Gleichschritt quer übers Fenster. Noch einmal versuchte ich, mich auf meine zum Unverständnis meiner Kollegen mit Füllfederhalter zu Papier gebrachten Sätze zu konzentrieren. Luftmassen, Haufenwolken, Kaltluftfronten schoben sich an mich heran. Doch bald wanderten sie weiter, die Gedanken, wie die eigensinnigen Regentropfen auf der Zugscheibe: Mein Vater, kein Held mehr, mit grauer Haut und fahrigen Bewegungen. Immer wieder versuchte er, vom Nikotin loszukommen, lief nachts in der Wohnung herum, fraß Schokolade. Und irgendwann rochen seine Lippen, seine Finger, seine Haare doch wieder nach Rauch. Paul und ich verstanden nicht, daß Peter irgend etwas nicht konnte. Etwas, das sich in nichts als Rauch auflöste, brachte ihn zum Weinen. Das Trinken dagegen hatte er sich abgewöhnt. Viele Jahre hatte Peter jeden Tag ein, zwei Flaschen Wein getrunken. Irgendwann hörte er damit von heute auf morgen auf und fing nie wieder an. Anfangs malte er sich noch jeden Abend mit Filzstiften, die er von uns Kindern borgte, eine Flasche Wein auf die Serviette neben dem Besteck, dann ließ er auch das. »Diese Glühstimmel sind teuflischer als eine Weinbrandflasche, mit der man jemanden erschlagen könnte«, sagte er einmal, bevor er durch die Hintertür in seine Praxis schlich.
Ich sah mein Spiegelbild in der Zugscheibe zittern und zerrinnen. Zwischen den platzenden Regentropfen suchte ich meine Augen. Die dunklen Augen und die dichten Wimpern, die ich von Peter geerbt hatte. Nicht nur das. Wie er stand auch ich gern im Mittelpunkt. Ich dachte an meine Liebhaber vor Christian: Sie waren geduldig an meiner Seite in Gummistiefeln am Strand entlanggestapft, während ich nur in den Himmel guckte und selten zu ihnen hinüber. Wenn es eine besondere Sternkonstellation gab, war ich nächtelang mit dem Fernrohr unterwegs. Bei den Männern konnte ich mir immer viel herausnehmen: Im Studienbereich Meteorologie lag der Frauenanteil bei 17 Prozent.
Ich versuchte wieder, einen Blick auf meine Unterlagen zu werfen, aber als ich anfing, die Überschrift als zitternden schwarzen Regenwurm zu sehen, spürte ich, daß Tränen in meine Augen getreten waren. Ich lehnte den Kopf ans Fenster und schaute in den Himmel, suchte ihn unwillkürlich nach Cirrus Perlucidus ab, dem durchsichtigen Cirrus, der einzigen Cirrus-Formation, die ich bisher nur von Beschreibungen aus verschiedenen Wolkenatlanten kannte und die ich seit Jahren überall auf der Welt suchte. Cirrus Perlucidus ist nämlich nicht zu verwechseln mit Cirrus Translucidus, dem durchscheinenden Cirrus, aber ihre Abgrenzung ist die Frage einer bisher niemals wissenschaftlich determinierten Nuance. Wann ist etwas durchscheinend, wann durchsichtig? Sonder- oder Begleitformen wie Arcus, eine Wolke mit Böenkragen, oder Virga, mit verdunstenden Fallstreifen, waren fotografisch dokumentiert worden, nur mit Cirrus Perlucidus wollte sich niemand recht beschäftigen. Selbst Luke Howard, mein Idol der Wolkenforschung aus dem 19....
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anett Gröschner • Bodo Mrozek • Erbe • FamilieGeschwister • Familiengeschichte • Familienstreit • Flucht • Jakob Hein • Jens Sparschuh • Kathrin Röggla • maike wetzel • Térezia Mora • Tod • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-8412-3156-X / 384123156X |
ISBN-13 | 978-3-8412-3156-7 / 9783841231567 |
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