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Über die Berechnung des Rauminhalts I (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
170 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-0913-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Über die Berechnung des Rauminhalts I -  Solvej Balle
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Nach einer Geschäftsreise zu einer Antiquariatsmesse in Bordeaux beginnt für die Buchhändlerin Tara Selter, die mit ihrem Mann Thomas in einem Haus in Nordfrankreich lebt, die Zeit stillzustehen. Gefangen in einer Wiederholung, durchlebt sie stets von Neuem jenen 18. November, während es für Thomas und alle anderen Menschen, denen sie begegnet, ein immer neuer Anfang ist. Sie erinnern sich an nichts, was »gestern« war, erwachen stets zu ihrem ersten 18. November des Jahres. Genießt Tara diese Zeit des »Schwindels« im doppelten Sinne die ersten sechzig Tage noch, offenbart sich langsam ein Problem: Sie wird älter, Thomas nicht. Die beiden, die sich zuvor so nahegestanden haben, entfernen sich voneinander - und Tara versucht versessen, aus dem 18. November herauszufinden. Über die Berechnung des Rauminhalts I ist der erste Band eines groß angelegten Romanprojekts, in dem Solvej Balle die Fiktion von der Wirklichkeit befreit, ohne jedoch Science-Fiction zu schreiben. Mit einem präzisen, stets aufmerksam lauschenden Stil schildert Balle die Mechanik und Monotonie der Zeitschleife, in die ihre Protagonistin gerät, sowie die ungewöhnliche Liebesbeziehung, die sich daraus ergibt. Eindringlich führt sie uns vor Augen, wie jeder in seiner eigenen Blase lebt, und lehrt uns - wie es große Literatur oft tut -, die Welt mit neuen Augen zu sehen.

Solvej Balle, 1962 in Bovrup geboren, studierte Literatur und Philosophie in Kopenhagen und veröffentlichte 1984 ihren ersten Roman. Nach Jahren ausgedehnter Reisen durch Europa, Amerika, Kanada und Australien wurde sie 1996 Herausgeberin der literarischen Zeitschrift  Den blå port. Seither veröffentlicht sie in unregelmäßigen Abständen eigene literarischen Werke und übersetzte aus dem Englischen u.a. Rosemare Waldrop. Auf Deutsch erschien bislang der Roman Nach dem Gesetz.

Solvej Balle, 1962 in Bovrup geboren, studierte Literatur und Philosophie in Kopenhagen und veröffentlichte 1984 ihren ersten Roman. Nach Jahren ausgedehnter Reisen durch Europa, Amerika, Kanada und Australien wurde sie 1996 Herausgeberin der literarischen Zeitschrift  Den blå port. Seither veröffentlicht sie in unregelmäßigen Abständen eigene literarischen Werke und übersetzte aus dem Englischen u.a. Rosemare Waldrop. Auf Deutsch erschien bislang der Roman Nach dem Gesetz. Peter Urban-Halle, 1951 in Halle (Saale) geboren, wuchs in Dortmund auf und studierte Germanistik und Skandinavistik in Berlin und Kopenhagen. Er ist Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Dänischen (u. A. Peter Høeg und Janne Teller) und wurde mit mehreren Übersetzerpreisen ausgezeichnet. Er lebt in Berlin.

# 122


Ich erkenne es an den Geräuschen. Es ist derselbe Tag. Wieder bin ich im Gästezimmer aufgewacht, und wieder hat sich Thomas durch sein morgendliches Muster bewegt, die Rohre haben gesummt, Herd und Kühlschrank haben ihre Geräusche von sich gegeben. Gleich geht Thomas einkaufen und kommt mit seinen Tüten zurück, und während er fort ist, werde ich in die Küche gehen und eine Packung Kekse oder Zwieback holen oder was ich sonst finde, denn langsam geht mir der Vorrat aus.

Ich kann hören, dass er sich auf den Novemberregen vorbereitet. Ein schwaches Klirren, wenn er seine Schlüssel hervorkramt, und ein weiches Schaben des Stoffs an der Tapete im Entree, wenn er seinen Mantel vom Haken holt.

Ich habe die Tage gezählt. Es ist mein achtzehnter November #122. Vom siebzehnten hab ich mich weit entfernt, und ich weiß nicht, ob ich den neunzehnten jemals zu sehen kriege. Der achtzehnte aber kommt immer wieder. Er kommt und erfüllt das Haus mit Geräuschen. Dem Geräusch eines Menschen. Er geht im Haus umher, und jetzt geht er hinaus.

Das ist der Grund, warum ich angefangen habe zu schreiben. Weil ich ihn im Haus hören kann. Weil die Zeit aus den Fugen geraten ist. Weil ich im Regal eine Packung Papier gefunden habe. Weil ich versuche, mich zu erinnern. Weil das Papier sich erinnert. Vielleicht haben Sätze etwas Heilendes.

Ich habe am Fenster Platz genommen. Dort liegt ein kleiner Stoß Papier, auf dem steht, dass im Haus ein Mensch ist, den ich hören kann, wenn er umhergeht. Ich habe geschrieben, dass er wartet und dass er auf mich wartet. Ich habe geschrieben, dass die Zeit aus den Fugen geraten ist. Ich fange an, mich an den Gedanken zu gewöhnen. Ich habe geschrieben, dass ich anfange, mich an den Gedanken zu gewöhnen und dass Sätze etwas Heilendes haben. Vielleicht.

Aber der Tag ist weiterhin derselbe, und gleich, wenn ich etwas Essensvorrat aus der Küche geholt habe, wenn ich auf der Toilette gewesen bin und mir die Zähne geputzt habe und wenn ich meine Tür geschlossen und mich wieder hingesetzt habe, werde ich Thomas mit seinen Besorgungen zurückkommen hören. Ich werde hören, wie er die Sachen aus seinen Tüten holt und sie dort verstaut, wo sie hingehören. Ich werde hören, wie der Kühlschrank aufgeht und an den Küchentisch stößt. Ich werde ihn oben im Büro hören, in der Küche und im Entree. Ich werde das Geräusch einer Hand oder eines Ärmels hören, die an der Wand an der Treppe entlangstreifen, und ein schwaches »bums« auf den Dielen, wenn er Briefe und Päckchen ablegt.

Ich hatte es schon beim Frühstück gemerkt. Kurz vor halb acht war ich in meinem Zimmer im Hôtel du Lison aufgewacht, neben mir ein nasses Handtuch und an meiner Hand eine Brandwunde, die nicht mehr sonderlich wehtat. Ich nahm schnell eine Dusche und ging hinunter, um zu frühstücken. Ich bestellte Kaffee, bediente mich am Buffet und nahm eine Zeitung mit an meinen Tisch, aber bereits bei einem flüchtigen Blick auf die Titelseite sah ich, dass es dieselbe Zeitung war, die ich gestern gelesen hatte. Als ich am Empfang nach der Zeitung von heute fragte, bekam ich zur Antwort, dass ich die Zeitung von heute doch in Händen hielte, dass heute der achtzehnte November sei und gestern der siebzehnte gewesen war. Selbst wenn ich weiß, ich habe recht, lasse ich mich nur selten auf Diskussionen über derlei Einzelheiten ein, also nahm ich mir eine andere Zeitung von gestern, ging an meinen Tisch und trank meinen Kaffee aus.

Erst als einer der anderen Hotelgäste ein Stück Brot auf den Boden fallen ließ, bekam ich es mit der Angst zu tun. Nicht weil ich nicht wusste, dass sich derlei Zwischenfälle pausenlos in allen Hotels der Welt ereignen, sondern weil genau dieser Gast auch am Tag zuvor und an derselben Stelle im Frühstückszimmer ein Stück Brot hatte fallen lassen. Es war eine Scheibe Weißbrot, in der gleichen Größe, wie sie am Tag zuvor auf den Boden gefallen war, und der Fall geschah in der gleichen Geschwindigkeit, leicht schwebend, langsam genug, um zu zeigen, dass es sich um ein sehr leichtes Stück Brot handelte. Auch die Bewegungen des Gastes waren die gleichen. Das gleiche Zögern, als er sich nach der Scheibe bückte und sich anscheinend nicht schlüssig wurde, was er damit anfangen sollte, nachdem er sie vom Boden aufgehoben hatte. Er war offenkundig zwischen zwei Grundregeln hin- und hergerissen: der einen, die besagte, dass man unverdorbenes Essen nicht wegwirft, und der anderen, die besagte, dass Essen, das aus Schüsseln, Körben und Tellern der Zivilisation gefallen war, als Abfall zu betrachten sei. Jetzt sah ich die gleiche diskrete Bewegung wie am Tag zuvor, als er, nachdem er einen verstohlenen Blick durch den Raum geworfen hatte, sich entschied, das Brot in den Mülleimer zu schmuggeln und stattdessen ein Croissant zu nehmen.

In dem Augenblick, als ich diese zaudernde Geste sah, wusste ich, dass ich mich in einer Wiederholung befand. Ich wusste noch nicht, dass am nächsten Tag ein weiterer achtzehnter November folgen würde und danach noch einer und noch einer, aber ich wusste, dass etwas schiefgelaufen war.

Dass ich gleich anschließend losging, um im nächsten Kiosk das Datum auf den Zeitungen zu kontrollieren, dass ich darauf einen Geldautomaten ansteuerte, um mit meiner Kreditkarte Geld abzuheben, und dass ich dann zwei verschiedene Hotels aufsuchte, um am Empfang einen Blick auf den Kalender zu werfen, lag nicht daran, dass ich an meiner Beobachtung zweifelte, sondern ausschließlich daran, dass ich irgendetwas tun musste, um mit meiner Verwirrung fertig zu werden. Die Daten auf den Zeitungen, meiner Bankquittung und den Hotelkalendern bestätigten, dass heute der achtzehnte November war. Auch das Wetter war das gleiche. Als ich frühstückte, hatte es geregnet, aber jetzt hatten sich die Wolken verzogen, und ich durchquerte die nassen Straßen, in denen die ersten Geschäfte aufmachten. Es würde ein kühler, bedeckter Tag mit kurzen sonnigen Abschnitten werden.

Zurück im Hotel rief ich Thomas an. Unter dem Vorwand, vergessen zu haben, wann ich mit Nami Charet in der Bibliothèque 18 verabredet war, wurde mir bestätigt, dass es auch für Thomas der achtzehnte November war. Mein Termin sei am neunzehnten. »Morgen früh«, sagte er, »um elf«, und es war offensichtlich, dass der Tag für Thomas der erste und einzige achtzehnte November des Jahres war, ein neu eröffneter und beinahe ungebrauchter Tag. Der Tag nach dem siebzehnten und der Tag vor dem neunzehnten November, an dem ich wie geplant zurückkommen würde.

Unser kurzes Gespräch machte schnell klar, dass alles, was ich ihm am Abend zuvor von meinem Tag berichtet hatte, weg war, und dass er auch seinen eigenen verregneten Novembertag nicht mehr im Gedächtnis hatte. Seiner Meinung nach war er nicht auf der Post gewesen, weder mit Briefen noch mit Päckchen. Er war nicht an irgendeinem Fluss entlanggelaufen, war nicht von irgendeinem Schauer durchnässt worden und hatte keine Erinnerung an unser Telefongespräch am Abend des achtzehnten. In seinem Gedächtnis hatten sich keine Mitteilungen über meinen Besuch bei Philip Maurel abgelagert, und es gab keine Marie, keinen Gasheizofen, keine Brandwunde und keine Eiswürfel. Es waren keine Informationen über Eaux potables oder Heavenly Bodies aufzufinden und kein Gespräch über Jocelyn Mirons Unterscheidungen. Es gab nur unser vorheriges Gespräch. Vom Abend davor. Dem siebzehnten.

Danach saß ich mit dem Rücken an der Wand auf dem ungemachten Bett in meinem Zimmer, das Telefon lag neben mir. Ich hatte meine Fragen behutsam gestellt. Ich wollte ihn nicht beunruhigen, ich wollte nur wissen, ob ich alleine war, und das war ich. Thomas war nicht im achtzehnten November gewesen.

Vielleicht verging eine Viertelstunde, vielleicht eine halbe, bevor ich auf die Bücher aufmerksam wurde. Es war ein kleiner Bücherstapel, der kleiner geworden war. Die Bücher vom achtzehnten waren nicht da. Auf dem Tisch im Zimmer lagen die Bücher, die ich am siebzehnten gekauft hatte, der Atlas des araignées, The Anatomy of Animals und Musick of Nature’s Birds. Die Histoire des eaux potables und The Heavenly Bodies waren verschwunden.

Eine halbe Stunde später ging ich zu den beiden Antiquariaten, in denen ich die Bücher gekauft hatte. Das eine war noch nicht offen, aber als ich wenige Minuten später die Tür des zweiten aufstieß, sah ich sofort, dass Thorntons Heavenly Bodies auf dem Regal hinterm Ladentisch stand, wo die Buchhändlerin es am Tag zuvor für mich herausgezogen hatte. Die Dame, die ich des Öfteren auf Auktionen und in ihrem Laden in der Rue Renart getroffen hatte, konnte sich augenscheinlich weder daran erinnern, dass ich am Tag zuvor im Laden gewesen war, noch dass sie mir das Buch bereits verkauft hatte. Ich kaufte das Buch also noch einmal, entschuldigte meine Eile, kehrte zu dem anderen Antiquariat zurück, das mittlerweile geöffnet hatte, und fragte den Inhaber, ob er das Exemplar der Histoire...

Erscheint lt. Verlag 2.2.2023
Übersetzer Peter Urban-Halle
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Dänemark • Existenz • Liebe • Speculative Fiction • Spekulative Literatur • Universum
ISBN-10 3-7518-0913-9 / 3751809139
ISBN-13 978-3-7518-0913-9 / 9783751809139
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