Lou Reed (1942 bis 2013) war amerikanischer Songwriter, Gitarrist und Sänger. Zusammen mit John Cale gründete er die legendäre Band »The Velvet Underground« und schuf in seiner Solokarriere legendäre Hits wie »Walk on the Wild Side«. Reed gilt als Wegbereiter von Genres wie Punk, Noise-Rock oder Industrial. Er war von 2008 bis zu seinem Tod mit der Künstlerin und Musikerin Laurie Anderson verheiratet.Laurie Anderson ist eine der vielseitigsten und kreativsten amerikanischen Künstler*innen: Sie ist bildende Künstlerin, Komponistin, Lyrikerin, Fotografin, Filmmacherin, Musikerin. Seit 2008 war sie mit dem Musiker Lou Reed verheiratet.
EIN BUCH SCHREIBEN
A. M. HOMES
Autorin und Professorin für Creative Writing an der Princeton University
SCOTT RICHMAN: Die Arbeit an diesem Buch begann 2009. Lou fiel es damals nicht leicht, es auf den Weg zu bringen, und darum bat er um deine Hilfe. Wir kennen diese E-Mail.
STEPHAN BERWICK: Deine E-Mail hat uns tatsächlich sehr geholfen.
A. M. HOMES: Lou und ich haben häufig über kreative Prozesse gesprochen – wie macht man etwas, beziehungsweise wie schafft man etwas. Aber ich habe keine Ahnung, was ich zu ihm gesagt habe. Wenn ich mich an etwas erinnere, dann an seine Fragen, wie man Themen strukturiert, ausgestaltet und womit anfangen. Er sprach mit mir über Tai Chi, und oh, das klang kolossal. Tai Chi hatte ihn gerettet. Es war wirklich zentral für sein Wohlempfinden, seine Selbstkontrolle, das Bewusstsein für einen Ort, den es zu entdecken galt. Ich glaube, er fand Stärke und Energie und Ruhe in Tai Chi. Darüber hinaus gefiel es ihm, andere Menschen dafür zu gewinnen. Einfach wenn jemand das spannend fand, bedeutete ihm ungeheuer viel. Und er liebte es, zum Unterricht zu gehen, und ihm gefiel die Bandbreite der Leute, die ebenfalls dabei waren. Das war letztlich der Kern seines persönlichen Engagements. Und er fragte mich um Rat, wie man das in einem Buch formulieren könnte.
LAURIE ANDERSON: Könntest du uns bitte deine E-Mail an Lou vorlesen?
A. M.: Okay. »Anmerkungen für Lou. Lehrer, denk an Fragen. Mach ein ganzes, detailliertes Interview. Betr.: Wie er gesundheitlich zurechtkommt, mit seinen Gefühlen, seinen Kräften. Andere Lernende, was bedeutet ihnen das Training, ihre Lebensläufe, wie sie an diesen Punkt gekommen sind. Schreib davon, frag das ab. Lehrer ist Mentor. Schwachstellen. Warum lehren? Was bedeutet es, das weiterzugeben? Konzentration, die Beherrschung der Energie, wie man beim Training lernt, sich zu öffnen und dann anzuspannen, wie das ebenfalls für Entscheidungsfindung, den Umgang mit Ärger, die Gewohnheiten der Lernenden, die Entwicklung im Laufe der Zeit, die persönliche Veränderung und die Veränderung des Trainings gilt.«
LAURIE: Wir halten uns so weit wie möglich an deine Gliederung.
A. M.: [Liest weiter aus der Mail vor.] »Lou, schreib es in deinen eigenen Worten. Sei wie eine Kamera in Zeitlupe. Verwende deine Sprache, um das Lernen zu beschreiben. Geh gedanklich damit um wie mit einem langen Gedicht oder einem langen Songtext. Ich hab dir das schon eine Million Mal gesagt, hör heute einfach auf mich. Körperlich und ästhetisch aufregend, das könnte dein Leben verändern. Wie? Mach eine Liste mit zwanzig Punkten, ohne darüber nachzudenken. Und wenn du das immer wiederholst, passiert es nach einer Weile wie von selbst. Was bedeutet es, kampfbereit zu sein? Große Kraft in Reserve zu haben? Sitzen, so kann man nicht sitzen, so ist man nicht bereit.« Lou hat auch viel über Positionen gesprochen. Und manchmal griff er einfach rüber und schubste einen. Nur um dich umzuwerfen! Um dir zu beweisen, dass du einfach noch nicht bereit warst. Ich meine … wirklich? Darum geht es in dieser Mail.
[Liest weiter aus der Mail vor.] »Lou, deine Biografie, deine persönliche Geschichte rund um Tai Chi. Wann hast du damit angefangen? Wo standest du zu der Zeit? Wie sah dein Leben zu der Zeit aus? Wo hast du zum ersten Mal trainiert? Die frühen Lehrer. Was hast du gelernt? Gab es Unterbrechungen im Training? Was vom Training hast du mit auf Tour genommen? Wie sich dein Leben verändert hat. Wie du dich verändert hast.« Und hier ist ein Zitat [aus Lous Antwort-Mail]: »Ich mag Kampfkunst-Leute. Die sind gradlinig. Man weiß, sie haben das auch durchgemacht. Du musst dich vor den Klugscheißern in Acht nehmen – sobald die dir etwas gezeigt haben, tun sie dir weh.«
Er war sich eben dessen genau bewusst: Dass Menschen einander körperlich verletzen können, und was für eine Dummheit das ist. Die Dummheit, eine Bewegung zu machen, um zu zeigen, dass man seine eigenen Grenzen überschreitet. Und er sah einen an und lachte. »Ich könnte dich umbringen. Aber ich entscheide mich, es jetzt nicht zu tun.«
Lou besaß einen unglaublichen Sinn für Humor. Mitten in einem sehr ernsten Thema brach er in schallendes Gelächter aus. Was ihn meiner Meinung nach von einer Menge anderer Tai-Chi-Schüler unterscheidet, weil die nicht immer lachen. Er nahm sich schon ernst, aber da war immer eine Lücke, die für einen guten Witz aufgerissen werden konnte. Lou antwortete [in seiner Mail]: »Praktisch umsetzen, aufgrund von Stärke und Selbstvertrauen. Leute, die das spüren, können mich nicht umhauen.«
[Liest weiter vor] »Abschnitte deiner Geschichte, der Geschichte deines Lehrers. Überleg dir zehn oder fünfzehn Fragen, die du jeder Person stellen möchtest. Frag: ›Welches Geheimnis willst du mir nicht verraten? Wovor hast du am meisten Angst? Was treibt dich an?‹ Offene Fragen über das Leben, das Ziel, Sehnsüchte, Können. Wie sie bekommen, was sie sich vornehmen. Lernen zu handeln und der eigenen Intuition zu vertrauen.« Und dann: »Schau dir Lou Reed an, der jetzt nicht mehr zittert. Der Gegensatz zwischen dem, der du warst, und dem, der du geworden bist. Deine eigene persönliche Reise.« Und dann ist da noch diese große leere Seite, die Lou nicht ausgefüllt hat [in seiner Antwort].
Wenn wir über Tai Chi sprachen, sprachen wir über das Gefühl von Beherrschung und Kontrolle, und wenn Lou darüber redete, hatte ich immer den Eindruck, dass es sich um etwas handelte, bei dem er sich selbst sehr nah kam. Und das ermöglichte ihm, andere Dinge zu steuern, die er ansonsten nicht so geschickt gesteuert hätte.
Er sagte immer: »Versuch doch mal, mit zum Training zu kommen. Begleite mich. Komm mit mir und Ren. Mach das. Du musst. Du wirst sterben, wenn du es nicht tust.« Es hieß bei ihm immer sofort. Nie später.
Und dann waren da unsere abenteuerlichen Pizza-Ausflüge. Für Pizza musste man bekanntlich weit gehen. Oder zu dieser Pizzeria im East Village, die nur so lange offen hat, bis alles verkauft ist.
LAURIE: Eine der Bewegungen im Chen Tai Chi, die 19er-Form – so eine wunderschöne Bewegung – nannte Lou »Delivering the Pizza«, Pizza-Austragen, und es sah wirklich so aus, einen Arm ausgestreckt, Handfläche nach oben, wie bei einem Koch in einem Cartoon, der einen heißen Kuchen trägt. Und dank des eingängigen Namens konnten sich die Leute die Bewegung leichter merken.
A. M.: Lustigerweise wurde Lou im Alter ein Foodie. Und als ich ihn kennenlernte, ging er mit dem Schriftsteller Oscar Hijuelos in Barolo-Bars. Mein Eindruck von Oscar war stets, dass er irgendwie kompliziert war, sehr spaßig und genauso melancholisch. Und ich glaube, er und Lou verstanden sich auf der Ebene. Die lustige, sich gegenseitig herausfordernde Seite, und dann diese andere Schicht.
LAURIE: Und sie liebten es, gemeinsam Boxen anzuschauen und Zigarren zu rauchen und letztendlich dazu überzugehen, langsame und traurige Stücke auf ihren Gitarren zu spielen.
Warum, glaubst du, hat er das Buch nicht fertiggeschrieben?
A. M.: Ich denke, das liegt an der Komplexität. Und das ist interessant, weil er es in seinen Songs immer hingekriegt hat. Aber es lag daran, dass es schwierig war, diese unglaublich tiefgreifenden und sehr persönlichen Anschauungen in Worte zu fassen. Nicht nur persönlich im körperlichen Sinn, sondern in einem größeren, philosophisch spirituellen Kontext. Und das in Sprache mit Struktur zu übersetzen, war schwer. Ich glaube, das erschien ihm so schwierig, weil es sich um etwas wahrhaft Empfundenes handelte.
LAURIE: Erkennst du in seinen Aufzeichnungen Tai Chi?
A. M.: Manchmal, was seinen Sinn für Bewegungen oder Rhythmus und die Fähigkeit anbelangt, beides gleichzeitig zu sein: schroff und nicht schroff.
STEPHAN: Wir sagten immer zu ihm: »Warum verwendest du nicht einfach die Diktierapp auf dem Handy und fängst einfach an reinzusprechen?« Und sogar das war schwer.
A. M.: Es geht nicht um diese Form von Sprache. Wir erschafft man die richtige Sprache, um über dieses Thema zu reden, und wie könnte Lou seine ganz eigene Sprache über Tai Chi erschaffen, ohne nur die rein physischen Bewegungen zu schildern, sondern sozusagen eine Sprache, die das in Worte fasst? Das ist etwas, das ich ihn gern fragen würde.
SCOTT (über Lous Stimme bei einer Veranstaltung, die Scott am Abend vor dem Interview gehört hatte): Lou formulierte ein paar Tai-Chi-Prinzipien, die wir den Unterlagen entnommen haben. Doch das gehörte zur Diskussion, dazu, etwas als Gruppe gemeinsam auszuarbeiten.
A. M.: Und ich muss sagen, als ich zugehört habe, wollte ich nicht aufschauen. Ich will einfach nur Lou hören. Ich möchte hier einfach nur stehen, während er da drüben spricht. So ungefähr. Er klang jung und kraftvoll und, so, ihr wisst schon.
LAURIE: Man vergisst, dass er in seiner letzten Lebensphase viele Höhen und Tiefen hatte, und dann Zeiten, in denen er wieder sehr stark war. Und er spricht zu uns aus dem Jenseits.
A. M.: Ich hasse es, wenn das passiert, aber ich glaube, er ist empfänglich für …
LAURIE: Lou hat früher ständig das Ouija-Brett benutzt. Also, was würdet ihr fragen, wenn wir jetzt ein Ouija-Brett hätten?
A....
Erscheint lt. Verlag | 15.3.2023 |
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Übersetzer | Sissi F. Alexander, Julie Grünbach |
Zusatzinfo | Mit farbigem Bildteil |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | THE ART OF THE STRAIGHT LINE |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 2023 • Achtsamkeit • Andy Warhol • Biografie • Biographien • Buddhismus • Chen Tai Chi • eBooks • Iggy Pop • Kampfkünste • Kampfsport • Kunst • Martial Arts • Musik • Musikerautobiografie • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • New York Kunstszene • Östliche Weisheit • Punk • Ren Guangyi • Rock • Sex, Drugs and Rock 'n' Roll • Tai Chi • Velvet Underground • Wim Wenders • Yongey Mingyur Rinpoche |
ISBN-10 | 3-641-29675-7 / 3641296757 |
ISBN-13 | 978-3-641-29675-9 / 9783641296759 |
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