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Als wir Vögel waren (eBook)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
352 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61334-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Als wir Vögel waren -  Ayanna Lloyd Banwo
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Port Angeles, Trinidad. In den sonnendurchglühten Gassen mischt sich das vielstimmige Geschrei der Händler mit Vogelgezwitscher und Verkehrslärm; es riecht nach Gewürzen und reifen Früchten. Unter stillen, schattigen Bäumen ruht Fidelis, der jahrhundertealte Friedhof der Insel. Hier arbeitet Emmanuel als Totengräber. Der junge Rastafari hat sein Zuhause verlassen, um seinen Vater zu finden. Als er Yejide trifft, hat das Schicksal ihre Wege längst fest miteinander verflochten. Und so beginnt dort, wo das Leben endet, eine magische Liebesgeschichte.

Ayanna Lloyd Banwo, geboren 1980 in Trinidad, promoviert an der University of East Anglia in Creative and Critical Writing. Bisher erschienen vor allem Kurzgeschichten in verschiedenen Publikationen. ?Als wir Vögel waren? ist Banwos erster Roman; sie lebt in London.

Port Angeles, Trinidad. Heute.


Der ramponierte weiße Bedford bremst ab, fährt von der Straße, der Blinker flackert orange. Darwin nickt dem Fahrer zu, ein alter Mann mit Kappe tief in der Stirn. Das Mädchen auf dem Beifahrersitz hebt nicht mal den Blick, starrt weiter aufs Handy.

»Port Angeles?«

Der alte Mann nickt nach hinten zur Ladefläche. Darwin klettert rauf, bevor es sich der Alte anders überlegt, klopft an die metallene Seitenwand – er ist oben. Sie fahren los. Auf dem Highway rasen die Felder verschwommen vorbei, braun von der Trockenheit, von den Buschfeuern.

Er schiebt den großen Jutesack nach rechts, Kartoffeln oder Taro oder irgendwelche andern Knollen, die schwere Seilrolle nach links und kauert sich zwischen zwei Höcker im Pritschenboden, damit er nicht zur Seite kippt, wenn der Wagen über ein Schlagloch fährt. Dann lehnt er sich an die Ladeklappe und schaut in den Himmel. Sonst ist so früh am Tag alles noch sauber und rosig, aber diesmal ist der Saharastaub schlimm. Macht das rosa Licht diesig, und die Wolken erinnern an Schmutzwäscheberge.

Bei so einem Himmel wird ihm immer ganz komisch. Bei klarem Himmel, wenn noch Regen in der Luft hängt und die Berge vor Grün strotzen, ist leicht hoffen. Dann glaubt einer, dass er weiß, wos hingeht und was er will. Als würde schon alles klappen, auch ohne die leiseste Ahnung, was als Nächstes kommt. Aber dieser Schmutzwäschehimmel macht ein Gefühl, als würde alles gleich explodieren. Der Staub und die Asche und der Rauch, die er einatmet – wie mitten in einem Kriegsgebiet.

Aber sogar an so einem staubigen Tag hat man mal Glück, und ein alter Mann nimmt einen in seinem Pick-up mit in die Stadt. Sonst hält so früh keiner an, wenn die Sonne noch nicht ganz draußen ist. Als er klein war, ist er problemlos überall hingekommen, da war immer wer unterwegs in die Stadt oder runter zur Küste. Da ist er einfach mit ein paar Jungs aus der Dalia Street abgehaut, ohne Hemd, ohne Schuhe, ein Riesenspaß. Mussten gar nicht mal Freunde sein. Jetzt ist es anders. Und er ist eben kein kleiner Junge mehr.

Er rutscht ein Stück in die Mitte, damit ihn der alte Mann im Rückspiegel besser sieht. So, wies inzwischen läuft, kann ers ihm nicht verübeln, aber als ihn der Blick des Fahrers trifft, starrt er eisern zurück. Der Mann schaut als Erster weg, recht so. Was glaubt der, was Darwin vorhat? Rausspringen, sich an den fahrenden Wagen hängen, durchs Fenster rein und ihm die Kehle durchschneiden? Er ist ja einiges, aber bestimmt kein Bandit und kein Killer.

Aus den braunen Feldern in der Ferne steigt Rauch auf. Er weiß gar nicht mehr, wann es das letzte Mal Regen gab. Die kurze Hitze in der Regenzeit ist eigentlich gut, da kann die Erde bisschen trocknen, aber dieses Jahr war Petit Carême früh dran und hat mit den Buschfeuern alles aufgeheizt wie ein Ofen. Er betrachtet den Jutesack mit den Knollen. Vielleicht ist der alte Mann Bauer und bringt seine Ernte zum Markt. Hat es bestimmt besonders schwer dieses Jahr. Er würde ihn gern danach fragen, vielleicht mit ihm plaudern, über die Stadt, in die er zum ersten Mal fährt. Weiter vorn ragen verlassene Krane wie Finger aus dem Boden, und eine Überführung endet in der Luft wie eine Himmelsstraße ins Nirgendwo. Seit die großen Baufirmen zugemacht haben und der Staat die Arbeit am Highway auf halber Strecke zwischen Mount Perish und dem südlichen Tief‌land gestoppt hat, gibts kaum noch Arbeit. Nur in der Stadt.

Letzte Woche, als er in Wharton im Amt endlich ganz vorn in der Schlange war, hat er sein Glück kaum fassen können. Er kennt Männer, die haben schon Stunden gewartet, und wenn die Schlange noch nicht mal zur Hälfte vorgerückt ist, sagt die Chefin hinter der Tür, dass sie für diesen Tag nichts mehr hat, kommen Sie morgen wieder. Aber letzte Woche, da gibt ihm die Arbeitsvermittlerin einen Zettel vom Stapel auf ihrem Schreibtisch, hier unterschreiben, und er sagt ein Dankgebet, weil Jah ihn erhört hat.

MRS JAMESON – LEITENDE SACHBEARBEITERIN. Hatte sich eigens ein Namensschildchen aus Pappe für ihren Schreibtisch gebastelt. Und sie war auch die Einzige, die wirklich was machte. In einem Eck saßen Männer mit aufgekrempelten Ärmeln und klopf‌ten an zwei zusammengeschobenen Schreibtischen Karten, All Fours. Einer mischte wie ein Profi und grinste dabei so fies, als wüsste er ganz genau, dass er gleich allen ihr Geld abnehmen würde. Und daneben steht eine Frau und streitet mit wem am Handy.

»Was ist das genau für ein Job, Mrs Jameson?« Darwin betrachtete das Formular, das er von ihr bekommen hatte.

»Wenn Sie hungrig sind, und jemand gibt Ihnen etwas zu essen, dann fragen Sie auch, was es ist?« Sie schob die Brille höher auf die Nase und sortierte weiter ihre Akten.

»Was Fidelis ist, mein ich.«

»Sie kennen Fidelis nicht? Der große Friedhof in Port Angeles. In der St Brigitte Avenue.«

»Ein Friedhof? Mit Toten?«

»Kennen Sie einen ohne?«

»Was gibts auf einem Friedhof zu tun?«

»Die brauchen noch einen Totengräber.«

Darwin sträubten sich alle Haare am Körper, kein Witz. »Und was andres haben Sie nicht?«

»Geben Sie mir mein Formular, und dann raus.« Sie griff nach dem Blatt Papier. »Wenn Sie verzweifelt genug sind, landen Sie eh wieder hier.«

Als hätte er sonst irgendwo hingehen können. Wer auf der Suche nach Arbeit in diesem Amt gelandet war, hatte schon in allen andren Schlangen gestanden und seinen Namen auf jede andre Liste gesetzt. Hier war Endstation. Kaum wäre er von hier verschwunden, würde draußen in der grellen Sonne sofort wer seinen Platz einnehmen, einer wie er oder eine Frau mit Baby, eine Dame mit einer Tasche aus besseren Tagen, ein Mann mit guten Schuhen, bei dem es erst seit Kurzem nicht mehr reichte. Die Schlange ging schon raus auf die Straße und um die Ecke.

»Emmanuel Darwin?« Sie las seinen Namen.

»Ja. Aber nur Darwin, Ma’am.«

Sie schob die Brille wieder rauf und sah ihn zum ersten Mal richtig an – seinen Vollbart, die Ballonmütze über den Dreadlocks, bis runter zu den abgenutzten Stiefeln –, und ihr Blick wurde eine Spur weicher. »Hören Sie, Darwin, wenn ich was anderes hätte, würde ich es Ihnen geben, aber ich habe gerade nur das. Sie könnten natürlich ein andermal wieder reinschauen. Allerdings …« Ein Blick an ihm vorbei auf die Schlange.

Er hat unterschrieben. Erst mal sechs Wochen, und wenn er sich bei der Arbeit bewährt, behalten sie ihn vielleicht. Als wärs sein eigenes Todesurteil, so hat er sich dabei gefühlt. Aber zu so was bringt einen das Leben. Und vielleicht macht genau das einen zum Mann. Dinge tun, die man sich nie hätte vorstellen können, schwere Entscheidungen treffen, wo es nur schwere Entscheidungen gibt.

Wieder der Blick aus dem Rückspiegel, aber diesmal das Mädchen. Er hat nicht viel von ihr gesehen, als er raufstieg. Jetzt, im besseren Licht, wird ihm klar, dass sie kein kleines Mädchen mehr ist, sondern so alt wie er, höchstens ein, zwei Jahre jünger. Sie hebt ständig den Blick vom Handy, schaut zu dem alten Mann und dann in den Spiegel zu Darwin und lächelt dabei mit den Augen, damit der Mann nichts bemerkt.

Braucht sie auch nur eine Mitfahrgelegenheit so wie er? Vielleicht ist der Alte ihr Vater oder ihr Onkel. Ihr Mann ist er nicht, dafür wirkt er zu alt. Andererseits sind die Zeiten so schlecht, da weiß man nie. Wenn sie gleichzeitig aussteigen, spricht er sie vielleicht an. Er versucht zu erkennen, ob sie Bürosachen trägt, damit er weiß, woran er ist. Er denkt an Marcia und ihre letzte Begegnung, das ganz neue Leben, das sie jetzt führt. Er betrachtet den Lippenstift, mit dem sich das Mädchen geschminkt hat, das lange Haar, eine teure Frisur, und ihm fällt ein, dass er so gut wie nichts in der Tasche hat. Er senkt den Blick. Zu viel Ärger. Genau wie sich mit nem Rasta einlassen, um Daddy zu nerven.

Wieder trifft es ihn wie ein Schlag in den Magen, dass der Mann, den Mrs Jameson vor ein paar Tagen gesehen hat, und der, den das Mädchen im Rückspiegel sieht, nicht mehr derselbe sind. Wen sehen die Leute jetzt, wenn sie ihn anschauen? Wie sich das Leben in einer einzigen Woche verändern kann. Wie bei einem Buschbrand.

Er fährt mit der Hand über die kurzen Büschel. Sein Kopf fühlt sich an wie der Kopf von wem andern. Sechs in der Früh ist sechs in der Früh, auch in der Trockenzeit; ungewohnt, die kühle Luft am fast kahlen Kopf, im Nacken und an den Ohren. Immerhin hat seine Mutter ihm ein ganzes Kokosbrot mitgegeben, noch warm, und es riecht nach ihren Händen. Sie ist zwar zum Abschied nicht aufgestanden, aber sie hat das Brot auf die Arbeitsfläche gelegt, damit ers nicht übersieht. Es muss was bedeuten, dass sie ihm Frühstück gemacht hat, obwohl es in ihrem Gesicht stand, dass er nicht mehr ihr Sohn ist. Er spürt das Gewicht im Rucksack und hofft, dass sie ihn, egal, was aus ihm wird, in ihre Gebete...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2023
Übersetzer Michaela Grabinger
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel When We Were Birds
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte exotisch • Friedhof • Geister • Karibik • Legende • Liebe • Mafia • Magie • Matriarchat • Mythos • Ritual • Sehnsucht • Trinidad • Übersinnlich
ISBN-10 3-257-61334-2 / 3257613342
ISBN-13 978-3-257-61334-6 / 9783257613346
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