Der letzte Sessellift (eBook)
1088 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61343-8 (ISBN)
John Irving, geboren 1942 in Exeter, New Hampshire, lebt in Toronto und ist einer der begnadetsten Autoren Nordamerikas. Seine bisher 15 Romane wurden alle Weltbestseller, vier davon verfilmt. 2000 erhielt er einen Oscar für die beste Drehbuchadaption für die Verfilmung seines Romans ?Gottes Werk und Teufels Beitrag?.
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In der Erinnerung an die Winter meiner Kindheit und frühen Jugend war meine Großmutter meine Mutter. Nana, so nannte ich Mildred Brewster, war meine Winter-Mom. Sie war die hingebungsvollste Fürsprecherin meiner Mutter und für eine Weile auch die einzige, wie mir schien.
»Niemand bittet darum, geboren zu werden«, hörte ich Nana oft sagen, dann rollten die schnaufenden Tanten Abigail und Martha mit den Augen und schnauften noch schwerer.
»Die Arme-Rachel-Nummer«, wie Tante Abigail es nannte.
»Jetzt geht das mit dem Walfänger wieder los«, flüsterte mir Tante Martha ins Ohr, »wäre er doch nur an uns vorbeigesegelt.« Ich aber liebte die Geschichte, wie meine Mutter zu ihrem Namen gekommen war. Mildred Brewster hatte englische und amerikanische Literatur am Mount Holyoke College studiert, einem Liberal-Arts-College für Frauen in Massachusetts; ihr Lieblingsroman war Moby-Dick, und deshalb hieß meine Mom Rachel.
Nanas Ausgabe lag stets auf dem Tisch neben ihrem Lesesessel. Schon als Kind fiel mir auf, dass Moby-Dick erheblich präsenter war als die Bibel; meine Großmutter wandte sich der Geschichte vom weißen Wal öfter zu als Jesus. »Eines Tages, wenn du alt genug bist, Schätzchen, werde ich dir das hier vorlesen«, sagte Nana und hielt das dicke Buch in beiden Händen. Aber so lange wartete sie dann doch nicht. Ich war gerade mal zehn, als sie mit dem Vorlesen anfing; bis sie damit fertig war, war ich zwölf, fast dreizehn. Der Roman zieht sich hin, aber die Kapitel sind kurz. Auch eine Seereise kann sich hinziehen, nur das Sinken nicht.
»Achte auf den Kannibalen, mein Schatz – Queequeg ist wichtig«, sagte Nana immer wieder. »Er ist nicht irgendein Harpunier, Queequeg ist kein Christ. Er wird nicht ohne Grund als abscheulicher Wilder bezeichnet – nicht nur, um deine Neugier zu wecken. Queequeg reist mit einem Schrumpfkopf, er ist über und über tätowiert. Und dann ist da noch sein Sarg. Vergiss bitte nicht Queequegs Sarg!«
Wie konnte ich den vergessen? Moby-Dick vorgelesen zu bekommen machte mich nervös. Ich war erleichtert, als ich entdeckte, dass an Queequeg gar nichts Abscheuliches war; Melville lässt ihm sogar durchgehen, dass er kein Christ ist. »Trotz all seiner Tätowierungen war er alles in allem doch ein reinlicher, schmucker Kannibale«, wie Melville es ausdrückt. Dass ich fast drei Jahre lang Moby-Dick vorgelesen bekam, veränderte mein Leben. Nicht nur, dass ich nun Schriftsteller werden wollte; meiner Cousine Nora zufolge formte und versaute diese Erfahrung mich für immer.
Meine Großmutter war eine unermüdliche Vorleserin, aber ich unterbrach sie ständig, stellte hunderterlei Fragen und interessierte mich ausschließlich für die falschen Dinge – wie zum Beispiel Walkotze oder wovon Walen überhaupt schlecht wird. Das Kapitel 92 mit dem Titel »Amber« wirft eine ganze Reihe von Fragen zum Magen-Darm-Trakt auf. Von Parfümeuren hochgeschätzt, ist Amber (in Melvilles Worten) »eine Essenz, welche aus dem schmählichen Darm eines kranken Wales stammt«. Nur Pottwale produzieren Amber. Ich ließ mir von meiner Großmutter erklären, was passieren würde, wenn ein Brocken Amber zu groß war, um durch die Gedärme des Wals zu passen. Nana gab sich große Mühe und sagte, dass der Wal einen solchen Brocken auskotzen müsste. Amber kann jahrelang im Wasser treiben, bis sie irgendwo an Land gespült wird. Es wurden schon bis zu fünfzig Kilogramm schwere Brocken gefunden – man stelle sich mal eine solche Menge an Walkotze vor! Das waren die Dinge, die mich ablenkten von dem, was in Moby-Dick wichtig war, und es trieb meine Großmutter schier in den Wahnsinn.
Eines aber verstanden Nana und ich gleichermaßen. Wir liebten Queequeg, den kannibalistischen Harpunier. Wir waren begeistert, dass er kein Christ war, denn das bedeutete, dass er alles tun konnte. Was immer ihm in den Sinn kam. Er konnte einen sogar fressen. Der Wilde aus der Südsee war das blanke Gegenteil eines verklemmten weißen Neuengländers. Und wie die so waren, das wussten Nana und ich ja bereits.
Als ich Moby-Dick Jahre später selbst las, behielt ich Queequeg genau im Blick. Meine Großmutter hatte recht: Nur so wird man Moby-Dick zu schätzen wissen. Keine noch so große Menge an Walkotze wird einen dann gegen dieses Werk aufbringen, das D.H. Lawrence »eines der merkwürdigsten und wunderbarsten Bücher der Welt« nannte.
Kein Christ zu sein hat eine erstaunliche Wirkung auf Queequeg. Eines Tages sucht ihn ein Fieber heim. Er kommt zu der Ansicht, dass er sterben wird. Queequeg hat recht, aber es wird nicht das Fieber sein, das ihn umbringt, und er wird auch nicht der Einzige an Bord der Pequod sein, der stirbt. Queequeg bittet den Schiffszimmermann, ihm einen Sarg zu bauen. Er probiert sogar, ob er hineinpasst. Doch Queequegs Fieber geht vorüber, und so benutzt er den Sarg als Kleiderkiste. Das ist nicht einfach ein unbedeutendes Detail! Kurz darauf geht eine Rettungsboje verloren. Queequeg bietet seinen Sarg als Ersatz an – er ist ein praktisch veranlagter Kannibale. Der Zimmermann macht sich an die Arbeit, nagelt den Deckel fest und dichtet die Fugen ab.
»Queequeg sieht die Welt anders als seine Schiffskameraden«, erklärte meine Großmutter. »Nur jemand wie er würde den Zimmermann darum bitten, ihm einen Sarg zu bauen.«
Ich hatte Mühe, dies damit zusammenzubringen, dass Queequeg kein Christ war. »Meint Melville, ein Christ würde nicht um einen Sarg bitten, solange er noch lebt?«, fragte ich meine Großmutter.
»Die, die ich kenne, nicht«, antwortete Nana. »Das passt eher zu dem, was sich ein Kannibale wünschen würde, finde ich.«
Nana und ich waren mit Moby-Dick schon weit fortgeschritten, als wir zu der Stelle kamen, an der Kapitän Ahab an Deck kommt und (meist bei sich) schrullige Bemerkungen dazu abgibt, ob so ein Sarg als Rettungsboje angemessen sei.
Als passionierte Studentin der Literatur unterbrach sich meine Großmutter häufig beim Vorlesen; sie wollte sichergehen, dass ich bestimmte Dinge bemerkt hatte. In dem Kapitel machte Nana eine Pause: »Ich hoffe, dir ist aufgefallen, Adam, dass es sich um denselben Zimmermann handelt, der auch Ahabs Beinprothese angefertigt hat.«
»Ist mir aufgefallen, Nana«, versicherte ich ihr.
Moby-Dick ist die Geschichte eines scheinbar unbesiegbaren Wals. Es ist auch die Geschichte uneingeschränkter Autorität – eines Mannes, der auf niemanden hört. Ahab, der Kapitän der Pequod, ist ganz besessen davon, Moby Dick zu erlegen. Der weiße Wal ist schuld daran, dass Ahab ein Bein verloren hat. Nana und ich wussten, dass er sich einfach damit hätte abfinden sollen.
Die Rachel, ein anderer Walfänger, ist Moby Dick begegnet und hat dabei ein Walboot mitsamt Besatzung verloren. Ob Ahab nicht bei der Suche nach den vermissten Seeleuten helfen könne? Auch der Sohn des Kapitäns der Rachel sei darunter. Nein, Ahab will nicht helfen; alles, was er will, ist, Moby Dick aufzuspüren und ihn zu töten.
Wir wissen, was geschehen wird. Ahab findet, wonach er sucht – der weiße Wal tötet ihn und versenkt die Pequod. Aber Augenblick mal. Es gibt einen Ich-Erzähler, Ismael. Was um alles in der Welt könnte denn Ismael retten? Haben Sie vergessen, dass Queequegs Sarg schwimmt? Wie gut, dass nicht alle an Bord Christen waren. Lassen Sie sich das eine Lehre sein: Treten Sie niemals eine Seereise ohne einen tätowierten Kannibalen an.
»Verstehst du, mein Schatz?«, unterbrach sich Nana. »Ahabs Weigerung, seinen Mitmenschen auf See zu helfen, besiegelt sein Schicksal und das aller Männer an Bord der Pequod, bis auf einen.«
»Ich verstehe«, sagte ich. Wie auch nicht? Ich hatte schließlich drei Jahre Zeit gehabt.
Der weiße Wal versenkt die Pequod. Alle ertrinken, bis auf Ismael – »und das große Leichentuch des Meeres wogte weiter wie vor fünftausend Jahren«, wie Melville schreibt. Das ist ziemlich deutlich.
Queequegs Sarg taucht als Rettungsboje aus dem Meer auf und treibt neben Ismael. Und Ismael sagt: »Am zweiten Tage stand ein Segel auf mich zu, kam näher, näher und nahm mich schließlich auf. Es war die umherirrende Rachel; auf der Suche nach ihren verschollenen Kindern fand sie nur eine weitere Waise.«
»Noch mal von vorn«, sagte ich zu meiner Großmutter, als sie geendet hatte.
»Wenn du alt genug bist, dann liest du es noch mal für dich«, entgegnete Nana.
»Das mache ich«, sagte ich und tat es auch – immer und immer wieder.
Nach dem Ende dieser ersten Lektüre fragte ich meine Großmutter noch: »Du hast meine Mom nach der umherirrenden Rachel benannt – nach einem Schiff?«
»Das muss ja nicht unbedingt etwas Schlimmes sein, Adam – manchmal kommt man eben vom Kurs ab. Und es ist ja nicht irgendein Schiff!«, rief Nana aus. »Die Rachel rettet Ismael. Nun, Schätzchen – um ehrlich zu sein, hat mich deine Mutter ebenfalls gerettet.«
»Warst du auf dem Meer? Bist du beinahe ertrunken, Nana?«
»Du lieber Himmel, nein!«, sagte Nana. Sie erklärte mir, dass Abigail, ihre Älteste, gerade auf die Mädchenschule in Northfield geschickt worden war; im Jahr darauf sollte auch Martha fortgehen. Was Nana meinte, war, dass die Geburt meiner Mutter sie davor bewahrte, mit Rektor Brewster allein zurückzubleiben. Der Direx...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2023 |
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Übersetzer | Anna-Nina Kroll, Peter Torberg |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Last Chairlift |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Epos • Familie • Gleichberechtigung • Hochzeit • Homosexualität • Homosexuell • Identität • Moby Dick • New Hampshire • New York • Ringen • Schriftsteller • Sexualität • Skifahren • Tirol • Toleranz • Vermont |
ISBN-10 | 3-257-61343-1 / 3257613431 |
ISBN-13 | 978-3-257-61343-8 / 9783257613438 |
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Größe: 1,4 MB
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