Dorian Hunter 114 (eBook)
Bastei Lübbe (Verlag)
978-3-7517-4409-6 (ISBN)
Das Totenlicht in der Kapelle erregte Erwin Woetzolds Aufmerksamkeit. Durch das Fenster erblickte er einen blumengeschmückten Altar mit Kerzen und links und rechts vom Katafalk niedrige Holzbänke. Der geöffnete Sarg schimmerte matt.
Das Mädchen darin war ungewöhnlich schön. Das Totenhemd hüllte ebenmäßige Schultern ein, die so glatt wie Marmor waren. Pechschwarze Haare fielen auf das Kissen. Die Lippen waren kirschrot wie bei einer Lebendigen.
Woetzold senkte den Blick. Es kam ihm wie eine ungeheuerliche Verschwendung der Natur vor, dass dieses Mädchen hatte sterben müssen.
Doch als er erneut hinsah, hatte sich die Tote verändert. Die makellose Haut war über und über mit abscheulichen Beulen übersät, Warzen und ein rasch wucherndes Fell bedeckten das ovale Gesicht. Die geöffneten Augen waren glanzlos - und dann platzten die Beulen auf und verspritzten ihren dämonischen Saft ...
1. Kapitel
Woetzold glaubte nicht an übersinnliche Erscheinungen, Gespenster oder ruhelose Seelen. Er war Realist. Seine Geschichten waren raffiniert kalkuliert.
Der hochtourige Motor röhrte, als Woetzold herunterschaltete. Vor ihm führte eine schmale Brücke über die Donau. In der Dämmerung ragten die wuchtigen Holzpfeiler wie bizarre Riesenfinger in den Himmel. Abendrot leuchtete über den bewaldeten Bergkuppen. Auf der anderen Seite erklang Glockengeläut.
Ein junger Bursche raste mit seinem Moped heran, schnitt den Porsche und knatterte im Höllentempo auf die andere Seite.
Wenn ein Erntewagen über die Brücke will, dachte der Reporter, dann gibt's nur eines: ausweichen oder zurückfahren. Ausweichen wäre nicht drin gewesen. In der Mitte verengte sich die Brücke noch einmal.
Als Woetzold das Tempo erneut verlangsamte, sah er die Bruchstelle. Genau in der Brückenmitte klaffte ein halbmondförmiges Loch. Darunter gurgelte der Fluss.
Merkwürdig, dachte Woetzold und fuhr weiter.
Der kleine Ort lag an der B 388. Die weiß gekalkten Bauernhäuser bildeten einen Kreis um den Dorfplatz. Weiter hinten lagen noch einige Gehöfte im Dunkeln. Die kleine Kirche mit dem Zwiebelturm schmiegte sich an die Kiefernwäldchen. Draußen war kein Mensch zu sehen.
Woetzold kurbelte das Fenster herunter. Es roch nach Stallmist. Er bog in den Marktplatz ein und parkte den metallicfarbenen Wagen vor dem Gasthaus.
Inzwischen war das Bimmeln der Kirchenglocken verstummt. Geisterhafte Stille breitete sich aus. Zwischen den Häusern staute sich die Wärme des Tages.
Woetzold krempelte sich die Ärmel hoch. Ihm war plötzlich warm geworden. Er klopfte an die Tür des Gasthauses. »Hallo! Habt ihr heute zu, oder kann man noch ein Zimmer kriegen?«
Ein Hund bellte. In den Ställen rumorte das Vieh.
Woetzold wusste nicht warum, aber er hatte auf einmal ein merkwürdiges Gefühl. Es war keine Angst. Er hätte es eher als Vorahnung interpretiert. Er war nicht umsonst der Starreporter seiner Illustrierten.
»Schläft hier denn alles?«
Wieder keine Antwort. Woetzold drehte sich auf dem Absatz um. Er hätte doch in Vilshofen oder einem anderen Dorf auf der südlichen Donauseite übernachten sollen.
Woetzold öffnete beide Wagentüren und stellte die Lüftung an. Im Gepäck hatte er noch eine Thermosflasche. Während er in seinen Sachen herumstöberte, knatterte hinter den Häusern ein Moped.
Wenig später brauste der Fahrer über die Dorfstraße.
Woetzold sah ihm entgegen. Es war derselbe junge Mann, der ihn vorhin auf der Brücke überholt hatte. Er trug nur ein T-Shirt und ausgewaschene Jeans. Der Sturzhelm hing über der Lenkstange.
»He«, schrie der Reporter. »Moment mal!«
Der Mopedfahrer gab erneut Gas. Das Knattern wurde lauter.
Er muss mich gesehen haben, schoss es dem Reporter durch den Kopf, aber er hält nicht an.
Woetzold stellte sich an den Straßenrand und winkte. Der Fahrer blickte stur geradeaus. Die langen Haare des Jungen flatterten im Wind.
Er weint, registrierte der Reporter. »Halt! Warten Sie doch!«
Woetzold sprang geistesgegenwärtig zurück. Er landete am Heck seines Wagens. Der Luftzug des vorbeischießenden Mopeds zerzauste seine Haare.
»Idiot!«, schimpfte Woetzold hinter dem Jungen her.
In diesem Augenblick entstand auf der anderen Seite des Dorfplatzes eine milchige Wand. Sie leuchtete von innen heraus, rückte noch etwas zurück und füllte die Straße ganz aus.
Der Mopedfahrer raste genau auf das mysteriöse Hindernis zu. Es gab einen höllischen Knall, als er sich überschlug. Der Motor starb blubbernd. Der Schrei des Jungen gellte sekundenlang über den Platz. Das verformte Fahrzeug schrammte über die abschüssige Straße und blieb im Rinnstein liegen.
Woetzold sah sich aufgeregt um. Niemand ließ sich blicken.
»Verdammt noch mal!«, schrie er laut. »Will denn keiner helfen? Der Junge ist doch aus euerm Kaff!«
Er holte den Erste-Hilfe-Koffer aus dem Wagen, rannte über den Platz, kam am Brunnen vorbei und erreichte die Stelle, an der vor wenigen Augenblicken das milchige Etwas geschwebt hatte. Jetzt war die Erscheinung natürlich verschwunden. Woetzold wurde unwillkürlich an die Materialisation eines Geistes erinnert, doch er verdrängte diesen Gedanken. Obwohl er ständig über okkulte Dinge schrieb, wollte er sie nicht wahrhaben.
Der Junge lag mit dem Gesicht auf dem Boden. Seine Arme waren angewinkelt. Die Beine schienen merkwürdig verrenkt.
»Hallo? Ist da jemand? Ich brauche Hilfe!«
Bis auf das Miauen einer Katze war nichts zu hören.
Der Verunglückte gab keinen Laut von sich. Er lag wie eine leblose Puppe da. Woetzold streckte eine Hand aus und berührte ihn an der Schulter. Es kostete ihn einige Überwindung, denn er ekelte sich vor Blut.
Entsetzt zuckte er zusammen. Die Haut des Jungen war eisig kalt. Er drehte ihn herum und brachte ihn in die Seitenlage. Die Arme ließen sich nicht bewegen. Sie waren in der kurzen Zeit bereits erstarrt.
Er ist tot, schoss es dem Reporter durch den Kopf. Ich kann ihm nicht mehr helfen.
Das Gesicht des Verunglückten war wachsbleich. Die Lippen waren hellblau verfärbte Striche. Die Augen waren weit aufgerissen. In ihnen spiegelte sich das Grauen wider, das er im Augenblick des Todes schockartig erlebt hatte. Erst jetzt bemerkte Woetzold, dass sich auch die Pupillen verfärbt hatten. Sie waren hellgrau.
Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte er und stand langsam auf. Er zitterte.
Der Wind strich durch die verlassenen Gassen. Strohbüschel wurden über das Kopfsteinpflaster geweht. Die Katze, die der Reporter eben noch gehört hatte, verschwand mit einem Sprung über ein Hoftor.
Ich bin allein, wurde ihm schmerzhaft bewusst. Allein mit einem Toten.
Da sah er Lichter aufflackern. Ihr schwacher Schein reichte nicht aus, um die Umgebung zu erhellen. Wie Glühwürmchen schwebten sie auf der Stelle, keine fünfhundert Meter weit weg.
Woetzold überlegte kurz, ob er wieder zurückfahren sollte. Das südliche Donauufer erschien ihm wie das verheißene Land. Hier war alles kalt und leer. Er fröstelte, fürchtete sich auf einmal vor der Fahrt über die Brücke. Die paar Kilometer bis zu den Nachbargemeinden kamen ihm plötzlich unbeschreiblich weit vor.
Ich bleibe hier, entschloss er sich. Ich werde die Leute aus den Federn holen und zu einer Aussage zwingen.
Er schalt sich einen Narren. Der Unfall war nun mal geschehen. Er konnte den jungen Mann auch nicht wieder lebendig machen. Jedenfalls wollte er die Angehörigen unterrichten. Vielleicht würde er von ihnen erfahren, weshalb der Junge wie ein Verrückter durch die Gegend gerast war.
Die Lichter flackerten im Wind. Zwölf Stück, zählte Woetzold. Das dreizehnte hing an einem schmiedeeisernen Gitter.
Während er langsam die schmale Straße hochging, überlegte er, wie er aus dem Geschehenen Kapital schlagen konnte. Mysteriöser Unfall durch Seelenmaterialisation. Angesichts der geisterhaften Erscheinung verlor er die Kontrolle über sein Fahrzeug.
Woetzold blieb erstaunt stehen. Vor ihm war eine mannshohe Mauer. Es war dunkel geworden. Die Kiefern standen wie riesige Pilze vor dem Nachthimmel. Der Wind verfing sich in ihren Ästen und erzeugte ein klagendes Säuseln.
Der Friedhof!, durchzuckte es ihn. Die Lichter sind nichts anderes als Totenkerzen.
Ihm fiel wieder das Gerede über die seltsamen Todesfälle ein. Dreizehn Opfer in relativ kurzer Zeit – was bei einer Dorfbevölkerung von schätzungsweise achthundert Seelen ein hoher Prozentsatz war.
Unter seinen Schritten knirschte Kies. Der Mittelweg führte genau auf die Kapelle zu. Rechts war der Komposthaufen. Die Blumengebinde stanken bestialisch. Ein paar Grabschleifen flatterten im Wind. Marmorengel, schmiedeeiserne Kreuze und einfache Monolithgrabsteine wechselten miteinander ab. Unter einem Kastanienbaum stand das Kriegerdenkmal. Wir ehren die Toten des großen Krieges 1914 – 18. Es folgten die in alphabetischer Reihenfolge angeordneten Namen.
Woetzold näherte sich der Kapelle. Das rote Totenlicht schien ihn wie ein Zyklopenauge anzustarren. Die Scheiben der Kapelle waren blind vor Dreck. Efeu rankte sich um die Mauern. Irgendwo raschelte es im Gebüsch. Ein Uhu schrie.
Woetzold zuckte zusammen. Kalte Schauer liefen ihm über den Rücken. Er wischte über die Scheiben. Als er sich in einer Efeuranke verfing, flatterte ein Nachtfalter auf. Die wie mit Puder bestäubten Flügel streiften sein Gesicht. Angeekelt sprang er zurück.
Dann erregte das Totenlicht in der Kapelle erneut seine Aufmerksamkeit. Er sah einen blumengeschmückten Altar mit Kerzen und links und rechts vom Katafalk niedrige Holzbänke. Der Sarg schimmerte matt.
Eine Tote! Der Reporter wollte sich umdrehen und weglaufen, doch irgendetwas faszinierte ihn.
Das Mädchen war ungewöhnlich schön. Das Totenhemd hüllte ebenmäßige Schultern...
Erscheint lt. Verlag | 10.1.2023 |
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Reihe/Serie | Dorian Hunter - Horror-Serie |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2017 • 2018 • Abenteuer • alfred-bekker • Bastei • Bestseller • Dämon • Dämonenjäger • dan-shocker • Deutsch • eBook • E-Book • eBooks • Extrem • Fortsetzungsroman • Frauen • Geisterjäger • grusel-geschichten • Gruselkabinett • Grusel-Krimi • Grusel-Roman • Horror • Horror-Roman • horrorserie • Horror-Thriller • john Sinclair • Julia-meyer • Kindle • Krimi • Kurzgeschichten • larry-brent • Lovecraft • Macabros • Männer • morland • neue-fälle • Paranomal • professor-zamorra • Professor Zamorra • Psycho • Roman-Heft • Serie • Slasher • sonder-edition • spannend • Splatter • Stephen-King • Terror • Thriller • Tony-Ballard • Top • Zaubermond |
ISBN-10 | 3-7517-4409-6 / 3751744096 |
ISBN-13 | 978-3-7517-4409-6 / 9783751744096 |
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