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Ein Leben in progress (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70406-5 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
18,99 inkl. MwSt
(CHF 18,55)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
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»There is only one good thing about a small town. You know that you want to get out.« Diese Songzeile von Lou Reed könnte über den frühen Jahre von Hans Ulrich Obrist stehen. Aufgewachsen im Schweizer Provinzstädtchen Weinfelden am Bodensee, wurden für den jungen Obrist ausländische Zeitungen vom Bahnhofskiosk, Bücher, Filme, aber vor allem die Begegnungen mit alter und zeitgenössischer Kunst zu Fluchtmöglichkeiten aus einem Milieu, das ihm schon früh viel zu klein war. Und viel zu langsam. Ein schwerer Unfall im Alter von sechs Jahren brachte die Erkenntnis, dass keine Zeit zu verlieren sei. Und so saugte Obrist alles auf und machte sich auf den Weg. Paris, Wien und Rom waren seine Sehnsuchtsorte und die ersten Destinationen seiner persönlichen Grand Tour durch Europa, die den Teenager mit Nachtzügen zu Künstlerlegenden wie Fischli / Weiss, Etel Adnan oder Gerhard Richter führten. »Eine Begegnung kann ein Leben verändern, sie kann fünf Jahre an der Uni ersetzten, wie ein Kurzschluss.« Über die Kurzschluss-Begegnungen mit Menschen, die ihm zu Mentor*innen wurden, darunter Édouard Glissant, erzählt Hans Ulrich Obrist in »Ein Leben in progress« und lässt gleichzeitig zum ersten Mal einen sehr persönlichen Blick auf sein Leben zu, von der ersten Ausstellung in der Küche seiner Studentenwohnung in Sankt Gallen (mit 29 Besucher*innen) bis zum viel umworbenen und erfolgreichen Kurator und Gesprächspartner unzähliger Künstler*innen aus der ganzen Welt.

HANS ULRICH OBRIST, 1968 im schweizerischen Weinfelden geboren, gilt seit Jahrzehnten als einer der bedeutendsten Ausstellungsmacher unserer Tage. So kuratierte er unter anderem Ausstellungen im Muse?e d'Art Moderne de la Ville de Paris, in der Kunsthalle Wien, den Hamburger Deichtorhallen und im New Yorker PS1. Der Leiter der Londoner Serpentine Galleries hat zahlreiche Werke publiziert, u.a. Kuratieren! (2015), und, im Rahmen seines »Interview Project«, Gespra?che gefu?hrt mit Ku?nstlern und Ku?nstlerinnen wie John Baldessari, Zaha Hadid, Yoko Ono, Robert Crumb und eben Gerhard Richter, mit dem Obrist eine langja?hrige Freundschaft verbindet.

HANS ULRICH OBRIST, 1968 im schweizerischen Weinfelden geboren, gilt seit Jahrzehnten als einer der bedeutendsten Ausstellungsmacher unserer Tage. So kuratierte er unter anderem Ausstellungen im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris, in der Kunsthalle Wien, den Hamburger Deichtorhallen und im New Yorker PS1. Der Leiter der Londoner Serpentine Galleries hat zahlreiche Werke publiziert, u.a. Kuratieren! (2015), und, im Rahmen seines »Interview Project«, Gespräche geführt mit Künstlern und Künstlerinnen wie John Baldessari, Zaha Hadid, Yoko Ono, Robert Crumb und eben Gerhard Richter, mit dem Obrist eine langjährige Freundschaft verbindet.

Eine Kindheit im Grenzgebiet.
Der Unfall


Mai 1968. In diesem Monat wurde ich geboren. In einem derart symbolträchtigen Monat auf die Welt zu kommen, ist eine erste Wegmarke meines Lebens, vielleicht sogar ein Zeichen.

Meine Eltern lebten in Weinfelden im schweizerischen Thurgau, aber meine ersten Tage verbrachte ich auf der Entbindungsstation in Zürich. Von dort ging es zurück nach Weinfelden, einer »small town« mit 8000 Einwohnern, nur wenige Kilometer vom Bodensee entfernt. Viele Einwohner arbeiteten in den größeren Städten im Umland. Es gab kein Gymnasium und eigentlich nicht viel in kultureller Hinsicht. Sehr früh entstand der Wunsch nach einer Reise, wenigstens einer kleinen. Weinfelden lag ganz in der Nähe von Kreuzlingen und vor allem von Konstanz. Und das alles am Bodensee, wo die Schweiz, Deutschland und Österreich aufeinandertreffen: Man kann dort schwimmend von einem Land ins andere gelangen oder, noch einfacher, die Grenzen mit dem Auto oder dem Zug überqueren. Diese Grenzüberschreitung war für mich von Kindheit an eine tägliche Praxis: Meine Eltern kauften Eier oder Gemüse gern in Deutschland, weil sie dort weniger kosteten; ich fand bald heraus, dass es auf der anderen Seite größere Buchhandlungen gab, und auch wenn man ins Kino gehen wollte, musste man die Grenze überqueren. Im Thurgau gab es wenig Kinos, während in Konstanz experimentelle Programme für Studenten geboten wurden (dort entdeckte ich beispielsweise die Filme von Tarkowski).

Die Referenzstadt war für mich also Konstanz, und auch ein wenig St. Gallen, die im Osten der Schweiz gelegene Universitätsstadt mit ihrer berühmten Klosterbibliothek. In die haben mich meine Eltern mitgenommen, als ich sechs oder sieben Jahre alt war, und obwohl das ein Zufall war, wurde es für mich zu einem unvergesslichen Erlebnis, das mich zum Lesen gebracht und sogar eine Art Buchbesessenheit ausgelöst hat. Neben der Bibliothek hing ein Plan des Klosters, das abgebrannt und im Rokoko-Stil wieder aufgebaut worden war. Dennoch beherbergte die Bibliothek noch Manuskripte aus dem 10. und 11. Jahrhundert. Ich kehrte mehrmals dorthin zurück, zunächst mit meinen Eltern und später allein. Man konnte einen Termin vereinbaren und dann die sehr seltenen Bücher konsultieren, sie betrachten, ihre Seiten mit weißen Handschuhen umblättern, sie berühren. Für mich war das wie eine magische Reise in die Vergangenheit, aus dem Jahr 1975 zurück ins 11. Jahrhundert. Ebenso interessant war die seltsame räumliche Erfahrung, die ich in diesem Rokokosaal mit seinen Vitrinen machte: Um ihn betreten zu dürfen, musste man Pantoffeln oder Filzsohlen tragen. Die Bibliothek von St. Gallen ist mir als erstes Museum in Erinnerung geblieben, als eine Begegnung mit der Vergangenheit. Ein Schlüsselerlebnis.

Und dann war da noch Zürich. Meine Eltern fuhren am Samstag oft zum Einkaufen hin, weil sie meinten, dort gäbe es das beste Fleisch und den besten Käse. Meine Mutter beklagte sich, in Weinfelden fände man nichts Gutes oder Schönes; deshalb waren meine Eltern immer auf der Suche nach Geschäften, die hochwertige Waren anboten.

Damals hatte ich eine Begegnung mit einem sehr eigentümlichen Menschen, der meine Vorstellungswelt entscheidend geprägt hat: ein Blumenhändler, der zwischen den vielen Geschäften in der Bahnhofstrasse einen Kiosk betrieb. Dort verkaufte er Blumen und außerdem kleine Zeichnungen für 5 oder 10 Franken. In der Schweiz gibt es die Tradition der Art brut (Adolf Wölfli, Aloïse Corbaz), die mich seit jeher fasziniert hat. Und der Straßenhändler war tatsächlich einer dieser ungeschliffenen Künstler, ein Vagabund, der Bauernhöfe abklapperte. Er war ein Andy Warhol der Art brut, er nahm alles auf, was er hörte: Geräusche, Gespräche und Tierstimmen (ihm verdanke ich vielleicht die Idee der Tonaufnahmen). Die meiste Zeit seines Lebens konnte er natürlich nicht von seiner Kunst leben. Er malte und zeichnete immer Kühe, und das zweite Atelier, das ich später als Jugendlicher besuchte, war seins. In den 1980er-Jahren wurde er allmählich bekannt; er stellte Geräte für die Zeremonie des Almabtriebs her, eine Art Kühe-Kino. Dazu fertigte er eine 50 Meter lange Banderole aus lauter kleinen, aneinandergeklebten Zeichnungen an, die er von einem Kasten aus in Bewegung setzen konnte, in einer Art von Low-Tech-Filmvorführung. Ja, das ist ein Bild aus meiner Kindheit, dieser Mann, der Blumen und Zeichnungen verkaufte; zweifellos ein prägendes, für mich bedeutsames Bild. Ich habe mich damals nicht mit ihm unterhalten, aber er wurde ein Teil meiner Welt, löste eine Vorahnung in mir aus, obwohl ich ihn immer nur im Vorbeigehen sah.

Eine andere Reise, an die ich mich gut erinnere, ist die nach Friedrichshafen, das ich zusammen mit meinen Eltern mehrmals besucht habe. Friedrichshafen war für mich insofern wichtig, als es dort das Zeppelin-Museum gab, wo ich etwas über die Geschichte der Luftreisen erfuhr. Um dorthin zu gelangen, überquerten wir mit dem Schiff von Kreuzlingen aus den großen Grenzsee. Der Zeppelin war ein Traum mit schlechtem Ausgang, da er leider abgestürzt war; Friedrichshafen war seine Geburtsstätte. Das Museum hatte eine große Sammlung zur Luftfahrt, zu der natürlich auch die Entwicklung des Zeppelins gehörte; man konnte die Passagiergondeln sehen, die in der Luft schwebten. Ich war damals noch nie geflogen, aber mir wurde bewusst, dass man sehr weite Reisen unternehmen konnte. Ich war sieben oder acht Jahre alt war, als ich die Ausstellung zu sehen bekam; das war für mich ein weiterer prägender Moment. Das ist mir jetzt klar geworden, obwohl ich nie zuvor jemandem von diesem Erlebnis erzählt habe.

Im Dreiländereck hatte man es im Alltag ständig mit Grenzen zu tun. Man musste jeden Tag seinen Ausweis bei sich haben, wenn man zur Schule ging oder anderswohin, denn man wusste nie, ob es nicht nötig sein würde, die Grenze zu überqueren. Zollkontrollen kamen mir banal vor, die Grenze erschien mir durchlässig; ich hatte überhaupt keine Angst vor den Zöllnern, ganz im Gegenteil fand ich es immer aufregend, die Grenze zu überschreiten. Sie stellte kein Hindernis dar, kein Vergleich zum heutigen Brexit …

Was mich wirklich interessierte, das waren die Städte und die Menschen. Ich war getrieben von dem Wunsch zu lernen; ich wollte nicht schlafen, um keine Zeit zu verlieren. Die Stadt war für mich ein Ort des Wissens: Hier konnte man etwas dazulernen, etwas entdecken, vor allem in Konstanz mit seinen Buchhandlungen und Kinos oder in St. Gallen mit seiner Bibliothek. Außerdem hatte ich keine Geschwister, ich war Einzelkind, verspürte deshalb den Drang, Kontakte herzustellen, Verbindungen zu knüpfen und Leute zu treffen.

Meine Mutter war Grundschullehrerin, mein Vater Rechnungsprüfer in einem Bauunternehmen. Wir wohnten in einer gutbürgerlichen Wohnung, typisch für die Schweizer Mittelschicht. Meine Großmütter waren beide tot, aber der Vater meiner Mutter lebte noch. Er war schon sehr alt, über 80, und ich fand es immer großartig, ihn zu treffen, denn er war im Laufe seines Lebens viel gereist. Als junger Mann war er plötzlich nach Madeira verschwunden und hatte ein Jahr lang nichts von sich hören lassen. Er besaß das Gen der Reiselust, ein Virus, das ich eindeutig von ihm geerbt habe. Er sammelte Briefmarken verschiedener Länder, was mich damals sehr beeindruckte, da sie eine Art von Archiv bildeten. Er zeigte mir auch seine Fotoalben. Er war die lebende Verkörperung der Möglichkeit, die Schweiz zu verlassen – nicht einfach nur, um jenseits der Grenze einen Kaffee zu trinken oder deutsche Zeitungen zu kaufen, sondern um dem Land vielleicht für immer Lebewohl zu sagen. Natürlich hatte ihn seine Familie gedrängt zurückzukommen, und nach seiner Rückkehr in die Schweiz hatte er geheiratet. Das war das vorgegebene Muster: ein Beruf, eine Frau, Kinder, eine Familie.

 

Als ich knapp sechs Jahre alt war, ereignete sich der Unfall, der für mich eine Art Zäsur darstellte: Beim Überqueren einer Straße wurde ich von einem zu schnell fahrenden Auto erfasst. Schwer verletzt wurde ich ins Krankenhaus eingeliefert; damals kam ich dem Tod sehr nahe. Ich glaube, dass der mehrwöchige Krankenhausaufenthalt in mir ein Gefühl der Dringlichkeit erzeugt hat. Ich schwebte buchstäblich zwischen Leben und Tod und konnte mich nicht mehr bewegen. In dieser Lage hatte ich den für ein Kind ungewöhnlichen Gedanken, dass jeder Tag mein letzter sein konnte. Meine Mutter sagte mir immer, ich hätte mich dadurch grundlegend verändert. Das Gefühl, an der Schwelle des Todes zu stehen, lernen die meisten Menschen erst sehr viel später kennen – vielleicht sogar zu spät. Damals war ungewiss, ob sich mein Zustand bessern, ob ich überleben würde. Nach dieser Erfahrung war ich mein Leben lang – auch noch kürzlich in der 2020 zusammen mit Maja Hoffmann für die LUMA-Stiftung in Arles organisierten Ausstellung »It’s Urgent!« – besessen von einem Gedanken: Keine Zeit verlieren.

Wenn man monatelang bewegungsunfähig ist und anschließend lange Zeit keinen Sport treiben kann, muss man sich anderweitig beschäftigen; in meinem Fall haben der Unfall und seine Folgen mein Interesse an Büchern noch weiter verstärkt. In so einer Situation denkt man lange darüber nach, was man mit seinem Leben anfangen will, welche Ziele man hat. Aber das Entscheidende war, dem Tod ins Auge zu blicken. Das erzeugt ein Gefühl der Dringlichkeit. Wenn jeder Tag der letzte sein kann, ist es unerlässlich, die eigenen Aktivitäten zu...

Erscheint lt. Verlag 25.4.2024
Übersetzer Thomas Stauder
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Ausstellung • Christian Boltanski • Édouard Glissant • Gerhard Richter • Gespräche • Kunst • Kurator • MoMA • Paris • Provinz • Schweiz • Wien
ISBN-10 3-311-70406-1 / 3311704061
ISBN-13 978-3-311-70406-5 / 9783311704065
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