Ausgewählte Werke:. »Ich sehe alles auf meine Art« (eBook)
624 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77408-3 (ISBN)
Marina Zwetajewa, neben Anna Achmatowa die wichtigste russische Dichterin der Moderne, hat ein umfangreiches Werk - Gedichte, Prosa, Essays und Erinnerungen - hinterlassen. Von den oft widrigen Bedingungen, denen sie dieses ?uvre abgetrotzt hat, zeugen ihre »Unveröffentlichten Notizhefte«, ihre Tagebücher, die nun in einer Auswahl erstmals auf Deutsch vorliegen.
Die Aufzeichnungen setzen 1913 ein und führen bis ins Jahr 1939, das Jahr, in dem Zwetajewa mit ihrem Sohn Georgi aus dem Exil nach Sowjetrussland zurückkehrt. In Tagebucheinträgen, aber auch Gedichten, Briefentwürfen, apodiktischen Aphorismen und lebenssatten Dialogen dokumentiert und reflektiert Zwetajewa ihr Leben inmitten der großen Krisen der Zeit. Besonders intensiv sind die Aufzeichnungen aus den Jahren von Revolution und Bürgerkrieg, die von großen Entbehrungen, Sorgen und Verlust geprägt waren.
Im Zentrum der Notizhefte steht das Selbst der Autorin, die sich schonungslos offenbart: in ihren Beziehungen zu Menschen wie zur Natur, zu Gott und zu Büchern. Wer den verschlungenen Wegen von Zwetajewas Tagebüchern folgt, erlebt auch eine luzide Beobachterin ihrer Umgebung und eine illusionslose Interpretin von Liebe, Macht und Tod.
<p>Marina Zwetajewa, 1892 in Moskau geboren, ging 1922 in die Emigration, lebte in Berlin, Paris und Prag und kehrte 1939 in die Sowjetunion zurück. 1941 nahm sie sich in Jelabuga das Leben. </p>
Notizbuch 1
1913-1914
Eifersucht – mit diesem fremden und wunderbaren Wort beginne ich dieses Heft.
Jetzt sind Lilja – oder Alja – oder mir selbst fast die Tränen gekommen.
Alja, vielleicht liest du das einmal, wenn du erwachsen bist – oder nicht erwachsen wie ich jetzt, und es wird dir seltsam und lächerlich und sehr rührend vorkommen, von diesem kleinen, sehr bitteren Leid zu lesen, das du als einjähriges Kind mir (wem?), die ich einundzwanzig bin, zugefügt hast. Also hör zu:
Du wiederholst die ganze Zeit: »Lilja, Lilja, Lilja«, sogar jetzt, wo ich schreibe. Das kränkt mich in meinem Stolz, ich vergesse, dass du nicht weißt und noch lange nicht wissen wirst, wer ich bin, ich schweige, schaue dich nicht einmal an und spüre, dass ich zum ersten Mal – eifersüchtig bin.
Wenn ich früher auf Menschen eifersüchtig war, war ich es nicht. Das fühlte sich sehr süß und ein wenig traurig an. Und auf die Frage, ob ich eifersüchtig sei, antwortete ich immer: »Auf Bücher – ja, auf Menschen – nein.«
Nun aber sehe ich in dieser Mischung aus Stolz, verletztem Selbstbewusstsein, Bitterkeit, scheinbarer Gleichgültigkeit und heftigstem Protest deutlich – Eifersucht. Um dieses für mich so ungewöhnliche Gefühl verstehen zu können, müsste man mich kennen … persönlich, bis zu diesem heutigen Tag, dem 30. September 1913.
Jalta, 30. September 1913, Montag
*
Feodossija, 4. Mai 1914, Sonntag
Ich kenne keine Frau, die dichterisch begabter wäre als ich. – Eigentlich müsste ich sagen – keinen Menschen.
Ich wage zu behaupten, dass ich schreiben könnte und würde wie Puschkin, wenn mir nicht ein Plan, eine Gliederung fehlte – mir geht jedes dramatische Talent ab. »Eugen Onegin« und »Verstand schafft Leiden« – das sind Werke ganz à ma portée. Geniale Werke, ja. Würde ich statt Ellis einen historischen Helden nehmen, statt dem Haus am Trjochprudnyj – einen Turm oder Palast, statt mich und Assja – eine Marina Mniszek oder Charlotte Corday, es käme ein Werk heraus, das für genial gehalten und in ganz Russland gefeiert würde. Jetzt aber äußern sich zum Poem über Ellis: die einen Kritiker so: »langweilig, seicht, hausbacken« usw., die andern: »nett, frisch, intim«. Ich schwöre, Besseres wird niemand äußern.
Meine Beziehung zum Ruhm?
In der Kindheit – mit elf Jahren – war ich vollkommen ruhmsüchtig. Übrigens auch seither, so wie ich mich erinnere! Jetzt aber – vor allem seit letztem Sommer – bin ich gleichgültig gegenüber Kritik – sie ist selten und dumm – und gleichgültig gegenüber Lob – es ist selten und seicht.
»Ein zweiter Puschkin« oder »die beste Dichterin« – das verdiene ich und werde ich vielleicht zu Lebzeiten erleben.
Weniger brauche ich nicht, weniger schwimmt vorbei, ohne Spuren zu hinterlassen.
Äußerlich bin ich sehr bescheiden und schäme mich sogar des Lobes.
An meine Gedichte glaube ich unerschütterlich, – so wie an Alja.
Die Gedichte an Ellis sind fast abgeschlossen. Bleibt die Beschreibung der zweiten Hälfte der Nacht: seiner Märchen, der erlöschenden Lampe, des Abschieds bei der Pappel. Im Ganzen habe ich 500 Zeilen geschrieben. Das sind nicht lange Gedichte, das ist ein kleines Poem.
Gedichte schreibe ich leicht, aber nicht nachlässig. Nie »stopfe« ich leere Stellen aufs Geratewohl zu. Fast immer beginne ich von hinten. Ich schreibe mit Freude, manchmal mit Begeisterung. Wenn es geschrieben ist, lese ich es wie etwas Neues, als wäre es nicht von mir, und wundere mich.
Hätte ich viel Geld – so viel, dass ich es nicht immer zählen muss –, möchte ich viele Kinder – noch mindestens drei. Wenn ich noch eine Tochter bekomme, nenne ich sie Marina, oder Sinaida, oder Tatjana. Wenn es ein Sohn wird – Gleb oder Alexej. Für mich selbst möchte ich lieber eine Tochter, für S〈erjosha〉 – einen Sohn. Im Übrigen lässt sich nichts voraussehen.
*
Feodossija, 7. Mai 1914, Mittwoch
Am 12. – Serjoshas erstes Examen.
Jetzt ist der Himmel dunkelblau, an den Rändern etwas heller. Schwarze Äste vor diesem Himmel, – das ist alles, was durchs Fenster zu sehen ist.
Gegen halb 9 Uhr abends. Balalaikageklimper (Njanja lernt von einem Burschen auf dem Hügel spielen), Hundegebell, das Geschrei spielender Kinder, – und trotzdem ist es sehr still, wie immer am späten Abend.
Unlängst habe ich mir die Haare schneiden lassen. Vorne sind die Haare geblieben, nur seitlich und hinten sind sie kürzer. Sehr gut, das Gesicht wirkt dadurch irgendwie streng und bedeutsam. Pra behauptet, ich gliche einem Jungen. Max meinte umgekehrt: »Du warst ein Junge, jetzt bist du eine Frau.« Im Großen und Ganzen sieht meine Frisur der von Mme de Noailles ähnlich.
Ich habe eine Menge Sommerkleider – mindestens zehn farbige. Eines ist ganz golden – ein türkisches, schwarz auf gelb, – es brennt gleichsam. Dann habe ich einen Rock mit drei Volants, üppig. Meine Taille misst 63 Zenti〈meter〉 ohne Korsett (mit Korsett 64). Es wird interessant sein, sie einmal mit der von Alja zu vergleichen. […]
Ihr Gesicht ist – erstaunlich. Darauf sind schon alle menschlichen Gefühle abzulesen: Empörung, Zärtlichkeit, Hinterlist, Freude, Gekränktsein, Angst.
Auf der Straße bei ihrem Anblick ruft alles: »Sie hat blaue Augen!« Und in der Tat: blauere und größere Augen als ihre kann man sich nicht vorstellen. Das sind – Sterne, Seen, (riesige!) Himmelsstücke, – nur keine Augen. Sie sind ungewöhnlich hell und leuchtend.
Die Augenbrauen – sehr lang und fein. Die Lippen – ziseliert, schmal, blassrosa, fast immer zusammengepresst. Nur die Nase ist kindlich, leicht nach oben gebogen, leicht rundlich, aber nur leicht, – eine ganz gewöhnliche Kindernase, weder groß noch klein. Vorgewölbte Brust, abfallende Schultern, langer Hals. In der ganzen Gestalt ist etwas Stattliches, Solides, Geschmeidiges.
Das Gesicht ist einfach engelhaft. Zuerst siehst du nur die Augen. Glanz – nein, nicht Glanz, ein Leuchten! Zwei (riesige!) Stückchen strahlenden Blaus. Die Schläfen sind groß, zart, mit einem Netz von Äderchen. Die Stirn, bedeckt von einer Strähne dichter blonder, sehr hellblonder Haare, nimmt fast die Hälfte des Gesichts ein. Die Form des Schädels – ganz die von Serjosha, obwohl das Gesichtchen noch ziemlich rund ist. (Das von Serjosha ist wie ein Degen.)
Was an Alja erstaunt – ist ihre Bewusstheit. Alle Wörter und Gesten haben einen Sinn. Sie gehorcht schnell. Kennt fast keine Kapricen und Tränen. Weiß sich zu beherrschen: fängt nicht zu weinen an, auch wenn auf den Wimpern schon Tränen zittern.
Liebe zu Bildern. Verlangen nach neuen Worten. Verständnis für das Eigene und das Fremde.
Résumé: damit will ich sagen – so komisch es auch klingen mag! – auf sie kann man sich verlassen. […]
*
22. Mai 1914, Donnerstag
Was haben wir für einen Garten! Wie viele Rosen! Alja kommt vom Spaziergang immer mit einer Rose in der Hand zurück.
Am Morgen riecht es nach Russland, nach Sommer, nach dem Dorf. Ach, ich möchte für Alja ein Landgut – aber etwas Besseres als unsere Datscha in Tarussa gibt es nicht! Dieser Duft nach Himbeeren und Regen, diese blauen Fernen hinter dem Gold der Felder, diese schreckliche Wehmut an den Abenden, dieser Steinbruch über der glänzend blauen Oka, diese gelben Sandbänke, diese Hügel, diese Wiesen, diese Freiheit! – Überhaupt möchte ich für Alja ein richtiges herrschaftliches Leben, – Dienstmädchen, Kindermädchen, Lakaien, Zimmermädchen, – damit ihr alle zu Diensten stünden.
Unlängst aber geschah dies: ich schickte das Kindermädchen mit Alja in den Laden, um Zucker zu holen – ganz in der Nähe, zwei Minuten zu Fuß. Dann vergaß ich, dass sie im Laden sind, rief im Garten lange nach ihnen, und als alles Rufen nichts nützte, machte ich mich auf den Weg. Neben dem Laden erstarrte ich: auf der Schwelle fummelt Alja herum, wie ein...
Erscheint lt. Verlag | 12.12.2022 |
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Sprache | deutsch |
Original-Titel | Ausgewählte Werke 3 |
Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | aktuelles Buch • Ausgewählte Werke 3 deutsch • Berliner Literaturpreis 2017 • bücher neuerscheinungen • Dichtung • Emigration • Exil • Kleist-Preis 2019 • Liebe • Literarische Auszeichnung der Stadt Zürich 2023 • Literaturbetrieb • Moskau • Mutterschaft • Neuerscheinungen • neues Buch • Oktoberrevolution • Paris • Prag • Russischer Bürgerkrieg • Russische Revolution • Sowjetunion • Sozialismus • Tagebücher • UdSSR Sowjetunion |
ISBN-10 | 3-518-77408-5 / 3518774085 |
ISBN-13 | 978-3-518-77408-3 / 9783518774083 |
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