TASTE (eBook)
320 Seiten
Arche Literatur Verlag AG
978-3-03790-145-8 (ISBN)
Stanley Tucci, 1960 in New York geboren, ist Schauspieler, Regisseur, Produzent und Autor. Er spielte auf den Bühnen des Broadways und wirkte in über siebzig Filmen mit - darunter Der Teufel trägt Prada, Julie & Julia und Die Tribute von Panem. Für seine Arbeit war er für den Oscar, den Tony und den Grammy nominiert und wurde mit zwei Golden Globes und vier Emmys ausgezeichnet, zuletzt 2021 für seine kulinarische CNN-Serie Stanley Tucci: Searching for Italy. Stanley Tucci isst für sein Leben gern und kocht am liebsten für oder mit Menschen, die ihm viel bedeuten.
Stanley Tucci, 1960 in New York geboren, ist Schauspieler, Regisseur, Produzent und Autor. Er spielte auf den Bühnen des Broadways und wirkte in über siebzig Filmen mit – darunter Der Teufel trägt Prada, Julie & Julia und Die Tribute von Panem. Für seine Arbeit war er für den Oscar, den Tony und den Grammy nominiert und wurde mit zwei Golden Globes und vier Emmys ausgezeichnet, zuletzt 2021 für seine kulinarische CNN-Serie Stanley Tucci: Searching for Italy. Stanley Tucci isst für sein Leben gern und kocht am liebsten für oder mit Menschen, die ihm viel bedeuten. Steffen Jacobs hat u. a. Philip Larkin, Kingsley Amis und Mattias Berg ins Deutsche übertragen und selbst mehrere Gedicht- und Essaybände veröffentlicht.
1
Ich bin in Katonah aufgewachsen, einer hübschen Kleinstadt rund hundert Kilometer nördlich von Manhattan. Als ich drei Jahre alt war, zogen wir aus Peekskill, NY dorthin. Peekskill ist eine kleine Stadt am Hudson River, in der sich viele Italiener angesiedelt hatten – so auch mein Vater, nachdem er aus Kalabrien immigriert war. Die Familie meiner Mutter stammte ebenfalls aus Kalabrien und lebte im benachbarten Verplanck, einem Städtchen, das damals überwiegend von italienischen und irischen Migranten bewohnt wurde. Meine Eltern Joan Tropiano und Stanley Tucci begegneten sich bei einem Picknick im Jahr 1959, und wenige Monate später machte mein Vater meiner Mutter einen Antrag. Sie heirateten bald darauf, und ich wurde zehn Monate nach der Hochzeit geboren. Sie hatten es ganz offensichtlich eilig mit der Fortpflanzung. Meine Schwester Gina kam drei Jahre später zur Welt, und meine Schwester Christine wieder drei Jahre darauf. Wir lebten in einem Haus mit drei Schlafzimmern, das auf einem Hügel am Ende einer Sackgasse lag und mehrheitlich von Wald umgeben war. Mein Vater leitete den Fachbereich Kunst an einer High School in einer Nachbarstadt, und meine Mutter arbeitete dort in einem Büro. Meine Schwestern und ich besuchten die örtlichen Schulen, von der Grundschule über die Mittelschule bis zur High School.
In den Sechziger- und Siebzigerjahren waren die Vororte im nördlichen Westchester County nicht annähernd so dicht besiedelt wie heute, sondern ein nahezu idealer Ort für Heranwachsende. Meine Schwestern und ich hatten viele Freunde, die in unserer Straße oder ganz in der Nähe wohnten und mit denen wir täglich und fast ausschließlich im Freien spielten. Es gab keine Videospiele oder Handys, und wir sahen nur gelegentlich fern. Stattdessen vergnügten wir uns das ganze Jahr über in den Gärten oder auf den benachbarten Feldern, vor allem aber in den Wäldern ringsum. Die Wälder hatten alles, was unser Herz begehrte: unendlich viele Bäume, in denen wir herumkletterten und »Festungen« bauten; Sümpfe, durch die wir wateten oder wo wir – im Winter – eislaufen konnten; Steinmauern aus der Zeit des Unabhängigkeitskrieges, die sich prima zum Klettern eigneten, und Hügel, von denen wir jeden Winter, wenn sie unter einer tiefen Schneedecke lagen, mit unseren Schlitten herabsausten.
Ich bin jetzt im Herbst meines Lebens angekommen (ich bin gerade sechzig geworden, was ungefähr dem mittleren oder späten Herbst entsprechen dürfte) und wünsche mir immer öfter, dass ich in jene Zeit, an jenen Ort und in mein unschuldiges, neugieriges, vitales Kindheits-Ich zurückkehren könnte. Schon meine damalige Haarpracht wäre Grund genug zur Rückkehr.
Die unbeschwerten Tage im Freien, zu jeder Jahreszeit und bei jeder Witterung, waren ein großartiger Teil meiner Kindheit, aber noch großartiger war, was und wie in meiner Familie gekocht und gegessen wurde.
***
Essen und die Art, wie es zubereitet, serviert und genossen wurde, waren in meinem Elternhaus die vorrangige Beschäftigung und das wichtigste Gesprächsthema. Meine Mutter behauptet hartnäckig, dass sie nicht viel mehr als Tee kochen konnte, als sie meinen Vater heiratete. Wenn das stimmt, dann hat sie dieses Manko in den letzten fünfzig Jahren mehr als wettgemacht. Ich kann aufrichtig verkünden, dass sie auf dem Elektroherd mit vier Kochplatten, den sie während meiner Kindheit benutzte, und auf dem Gasherd, der ihn viele Jahre später ersetzte, niemals eine schlechte Mahlzeit zubereitet hat. Keine einzige. Im Mittelpunkt ihrer Kochkünste steht die italienische Küche, vor allem Rezepte aus ihrer eigenen Familie oder der Familie meines Vaters. (Sie hatte jedoch niemals Scheu vor Ausflügen in die norditalienische Küche. Ihr risotto alla milanese zählt immer noch zu den besten, die ich je gegessen habe.)
Im Lauf der Jahre eignete sie sich außerdem einige Gerichte aus anderen Ländern an, die zu weiteren Klassikern ihres Repertoires wurden. Eines Tages tauchte zum Beispiel Paella auf unserem Speiseplan auf, gekocht und serviert in einem eleganten orange-weißen Schmortopf, dicht gespickt mit Venus- und Miesmuscheln, Garnelen, Hähnchenfleisch und Hummerschwänzen (damals war Hummer noch halbwegs erschwinglich). Die Paella meiner Mutter wurde zu einer ganz besonderen Köstlichkeit, auf die wir uns immer wieder freuten. Irgendwann in den frühen Sechzigerjahren fanden Crêpes ihren Weg auf unseren Esstisch, wohl auf Anregung der Fernsehköchin Julia Child. Sie waren leicht und luftig, und meine Mutter servierte sie mit einer so köstlichen Füllung aus Hühnchen in Béchamelsoße, dass die ganze Familie sich gierig darüber hermachte. Gelegentlich kochte sie ein sämiges Chili con Carne, das sie mit grüner und roter Paprika zubereitete und dessen Hackfleisch seine Geschmeidigkeit gutem Olivenöl und vollreifen Tomaten verdankte. Dieses Gericht wurde oft eigens für die jährliche Superbowl-Party der Nachbarn zubereitet. Bei uns gab es keine solchen Feiern, denn in unserem Haushalt interessierte sich niemand für Football.
Inzwischen sollte klar sein, dass meine Mutter während meiner Kindheit den Großteil ihres Tages in der Küche verbrachte – und daran hat sich bis heute nichts geändert. Kochen ist für sie eine schöpferische Tätigkeit und zugleich die Möglichkeit, ihre Familie gut zu ernähren. Ihre Kochkunst beweist, so wie die eines jeden herausragenden Kochs oder Küchenchefs, dass kulinarische Kreativität die vielleicht vollkommenste aller Kunstformen ist. Sie ermöglicht es, sich auf ähnlich freie Art persönlich auszudrücken wie in der Malerei, der Musik oder der Literatur, und zugleich erfüllt sie ein ganz pragmatisches Bedürfnis: das Essen. Essbare Kunst. Was könnte es Besseres geben?
Wegen der kulinarischen Fähigkeiten meiner Mutter war es für uns Kinder immer ein bisschen schwierig, bei den Nachbarn zu essen. Das Essen dort war fad oder einfach schlecht. Dafür waren meine Freunde nur allzu bereit, sich an unseren Esstisch zu setzen. Sie wussten, dass das Essen bei uns zu Hause etwas ganz Besonderes war. Die Zutaten wurden saisonal eingekauft oder im eigenen Garten angebaut, jedes Gericht hatte einen kulturellen Hintergrund und war mit Liebe zubereitet.
Es war nicht nur das Essen als solches, das meine Freunde begeisterte, sondern auch die Leidenschaft, mit der es zubereitet und serviert wurde, sowie nicht zuletzt die Freude, mit der unsere Familie es verzehrte. Die Seufzer der Befriedigung, die uns Mamas Mahlzeiten entlockten, überzeugten jeden von der überragenden Qualität ihrer Speisen. Außerdem tauschten wir uns bei Tisch rege darüber aus, wie köstlich das Essen sei und warum. »Das ist das Beste, was du je gekocht hast, Joan«, sagte mein Vater fast jeden Abend. Meine zwei Schwestern und ich stimmten ihm zu, während meine Mutter etwas von »nicht genug Salz« oder »nicht lange genug gekocht« murmelte oder sagte: »Es ist ein bisschen trocken, findet ihr nicht?«
Diesem Austausch folgten Gespräche über frühere Mahlzeiten, fiktive Mahlzeiten oder Wünsche für zukünftige Mahlzeiten, und ehe man sich’s versah, war das Essen vorbei, und man hatte über nichts anderes als Essen geredet. Politik stand zum Glück ganz unten auf der Liste unserer Konversationsthemen. Was immer wir aßen – selbst wenn es nur Aufschnitt und Oliven aus einem Feinkostgeschäft waren –, wurde in meinem Elternhaus auf eine neue Geschmacksebene gehoben. Als wir in meiner ersten eigenen Wohnung in New York einmal zusammen Prosciutto, Brot und Käse aßen, sagte ein Kommilitone zu mir: »Stan, ich kaufe dieselben Sachen im selben Geschäft – wieso schmecken sie bei dir einfach besser?«
»Du solltest mal meine Eltern besuchen«, sagte ich.
In italienischen Familien wird über nichts so oft geredet, nachgedacht oder gespaßt wie über das Essen (ausgenommen den Tod, aber dieses Thema hebe ich mir für ein anderes Buch auf), und so ist es nur folgerichtig, dass in meiner Familie seit langer Zeit etliche Redensarten mit Essensbezug kursieren, die von Generation zu Generation überliefert wurden und die ich bis zum heutigen Tag gern verwende.
Mein Vater ist ein unersättlicher Esser, und wenn er seine abendliche Hauptmahlzeit auskostet (in Wahrheit isst er sehr schnell, und das langsame Auskosten gehört weder zu seinen noch zu meinen Tugenden – dafür sind wir Experten, wenn es um jenen retrospektiven Genuss geht, der nach dem Ende der Mahlzeit einsetzt), stellt er unweigerlich die rhetorische Frage: »Meine Güte, was isst bloß der Rest der Welt?!«
Für mich war das angesichts der Qualität unseres Essens immer eine berechtigte Frage. Wenn es hieß, dass das Abendessen gleich auf den Tisch käme, nahm mein Vater einen Schluck von seinem Scotch, knallte das Glas auf den rustikalen Holztresen und verkündete lauthals: »Buono! Perché io ho una fame che parla con Dio!«
Was übersetzt heißt: »Gut! Denn ich habe einen Hunger, der mit Gott spricht!«
Gott hat sich, wie es scheint, nicht allzu sehr um die Sättigung meines Vaters geschert, denn sein Hunger kehrt jeden Abend in den gleichen biblischen Ausmaßen zurück.
Als mein Vater jung war, fragte er seine Mutter, so wie es alle Kinder tun: »Mama, was gibt es heute zu essen?«
Seine liebe Mutter (lieb nur dem Vernehmen nach, denn sie starb, als ich erst sieben Jahre alt war, und so kannte ich sie kaum) antwortete: »Cazzi e patate.«
Wörtlich übersetzt heißt das so viel wie: »Pimmel mit Kartoffeln«, sinngemäß also »Lass mich in Ruhe« oder »Verzieh dich«. In unserer Zeit der »politischen Korrektheit« wäre man wahrscheinlich geneigt, einen Sozialarbeiter in...
Erscheint lt. Verlag | 16.2.2023 |
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Übersetzer | Steffen Jacobs |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Autobiografie • Cocktails • Essen • Esskultur • Familie • Filme • Gastronomie • Genuss • Hollywood • Italien • Italienische Küche • Kochen • Kulinarisch • Lebensgeschichte • Lieblingsrezepte • New York • Schauspieler • Zutaten |
ISBN-10 | 3-03790-145-4 / 3037901454 |
ISBN-13 | 978-3-03790-145-8 / 9783037901458 |
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