Er hetzte keuchend durch das Unterholz. Die Sengulian-Lianen blieben mit ihren feinen Widerhaken an ihm hängen, zerrissen, zogen sich blitzartig zusammen und schlugen in ihrem Todeskampf wie Peitschenhiebe auf ihn ein. Sie zerrten immer wieder ganze Fetzen aus seinem Fell, und er reckte den Kopf so hoch wie möglich, um sein Gesicht, die empfindliche Nase und die großen Augen vor den Lianenschlägen zu schützen.
Ein Fehler. Denn deshalb hörte er das Surren nicht. Erst als sich die Schlinge um seinen Hals legte und ruckartig zusammenzog, begriff er voller Panik, was geschehen war …
Er taumelte. Von einem Moment zum nächsten blieb ihm die Luft weg. Instinktiv bohrten sich seine Krallen in das dünne Seil, das sich unerbittlich um seinen Hals geschnürt hatte. Vergeblich versuchte er, seine Krallen noch zwischen Hals und Schlinge zu schieben. Je mehr er an der würgenden Schnur zog, desto enger wurde sie. Die Führungsleine, die aus der Wurfangel herausgeschnellt worden war, war straff gespannt. An ihrem Ende hing die tödliche Schlinge, die sich um seinen Hals gewunden hatte. Der Jäger – zweifellos einer seiner Kameraden – wollte ihn unter keinen Umständen entkommen lassen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Verzweifelt versuchte er, wenigstens noch einen winzigen Luftrest in seine flatternden Lungen zu saugen. Vergeblich. Mit einer seltsamen Klarheit war ihm bewusst, dass zuerst sein Gehirn versagen, bevor auch der Rest seines Körpers aufgeben würde.
Zu oft hatte er selbst schon den Todeskampf seiner Gegner beobachtet, die er mit der Jagdschlinge eingefangen hatte, um sich Illusionen über sein eigenes Schicksal zu machen. Trotzdem gab er einfach nicht auf. Aber auch das war völlig normal …
*
Jede Normalität schien an Bord der LASHGRA außer Kraft gesetzt. Selbst der Begriff, sich an Bord eines Raumschiffes zu befinden, bedurfte bereits einer Veränderung des herkömmlichen Denkens. Nein, die LASHGRA war kein Raumschiff in dem Sinne, wie sie es kannte. Es handelte sich viel mehr um eine fliegende Stadt – und Rena Sunfrost war in diesem monströsen, unüberschaubaren Gebilde gefangen, versklavt von den Morrhm, am unteren Ende einer Hierarchie, die nur Fressen oder Gefressenwerden kannte.
»Wir sind sprichwörtlich am Ende einer Nahrungskette angelangt«, seufzte Rena Sunfrost, und zerquetschte abwesend eine kleine Spinne, die über ihren Handrücken krabbelte.
Bran Larson nickte bejahend und verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen.
Rena starrte den einst wohlbetuchten Kaufmann des DIT-Konsortiums fragend an. »Du gibst mir recht und gleichzeitig lachst du darüber?«
»Für das unterste Ende der Nahrungskette hast du dich in erstaunlich kurzer Zeit aus der Masse der Sklaven hochgearbeitet«, sagte Bran. »Was auch gut ist. Ansonsten würde es uns Dank Xygor’ans Verschwinden nicht so gut gehen. Bei richtigem Ärger wäre ich dir kaum eine große Hilfe.« Die Strahlung, die an Bord des Morrhm-Schiffes herrschte, setzte ihm immer mehr zu.
»Xygor’an. Wo mag er sein? Ich muss gestehen, mich beunruhigt diese Tatsache mehr, als ich mir selbst erklären kann …«
»Der Instinkt einer Kriegerin.« Bran lachte. »Beim Space Army Corps impft man euch so lange mit Misstrauen, bis es euch in Fleisch und Blut übergegangen ist.«
Rena nickte. »Es gibt ein anderes Wort dafür«, sagte sie, »Überlebenstraining …«
»Und das hilft dir auch hier an Bord der LASHGRA, weshalb ich mir erlaube, so gut es möglich ist, in deiner Nähe zu bleiben. Du erkämpfst dir eine zunehmend bessere Position! Ich helfe dir dabei, so gut ich kann, aber …«
»Ohne dich wäre es mir hier übel ergangen, als ich an Bord gekommen bin. Keine Sorge, ich lasse dich nicht im Stich.«
In den Sklavenquartieren an Bord der LASHGRA herrschten die K'aradan. Diese sahen Menschen zwar ausgesprochen ähnlich, waren ihnen allerdings körperlich deutlich überlegen. Das Erste, was Rena passiert war, war, dass sie zusammengeschlagen und ihrer gesamten Habe – die Kleidung eingeschlossen – beraubt worden war. Bran verdankte sie es, dass sie überhaupt noch lebte.
»Es ist nicht ungefährlich, sich aus der Masse hinauszuarbeiten«, sagte Rena nachdenklich. Sie umklammerte ihre beiden wertvollsten Besitztümer. Den kleinen Translator, der es ihr ermöglichte, sich in dem Völkergemisch an Bord verständlich zu machen, und die platt gedrückte Bleikugel, die seit ihrer ersten Bekanntschaft mit dem Hauch des Todes an einer Kette um ihren Hals hing. Gott, wie lange ist das schon her!
Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Neben der Kugel baumelte jetzt auch der kaum handballengroße Translator. Ihre Space Army Corps Uniform war zerschlissen und dreckig. Dennoch war sie besser gekleidet als die meisten hier. Was aus dem Rest ihrer Ausrüstung geworden war, darüber konnte Rena nur spekulieren, aber sie bezweifelte, dass sie sie im Fall einer Flucht finden und mitnehmen könnte.
Wie kann ich überhaupt an Flucht denken?, schimpfte sie mit sich. Um aus einem kampfstarken Riesenschiff wie diesem fliehen zu können, bedurfte es mehr als nur eine platt gedrückte Kugel und einen Translator und einen Mitgefangenen wie Bran Larson. Dem Mann waren durch die Strahlung beinahe alle Haare ausgefallen, seine Augen schimmerten gelblich. Heute Morgen war er sich übergebend auf die Knie gesackt und hatte sich erst nach mehreren Minuten erholt.
Rena begann – obwohl sie dieser Gedanke gleichzeitig wurmte – das ebenso einfache wie perfekte System an Bord der LASHGRA zu bewundern. Die rigide Hierarchie bis in die untersten Ebenen hinab schuf ein System ständiger Abhängigkeit und Kontrolle.
»Ich glaube, du kannst gar nicht anders …«, fuhr Larson fort.
»Was? Was kann ich nicht anders …«
»Es ist deine Natur, Rena, dich aus der Masse herauszuarbeiten. Wenn du eines nicht willst, dann im grauen Sumpf versinken.«
»Mag sein, dass du recht hast«, antwortete Rena. »Aber es fällt mir trotzdem schwer, diese aufmunternden Worte positiv zu sehen.«
»Noch ist es zu früh für einen Lagerkoller.«
»Keine Angst, Bran. Ich kann mich beherrschen, auch wenn alles aussichtslos erscheint. Aber denk mal dein eigenes Bild weiter: die graue Masse an Sklaven, aus der wir uns erheben. Weißt du, wie mir das vorkommt …«
Der ehemalige Kaufmann schüttelte den Kopf.
»Wie ein Pickel. Wie ein Eiterpickel. Ich brauche dir nicht zu erklären, was man damit macht …«
Bran Larson wollte gerade zu einer Entgegnung ansetzen, als Rena abwehrend die Hand hob. Sofort verstummte er. Auch er hörte jetzt das leise, schleifende Geräusch, das Rena aufgeschreckt hatte. Rena und Bran hatten ein kleines abgetrenntes Areal in der riesigen Halle mittlerweile ganz für sich allein. Das verdankten sie Renas Position in der Sklavenhierarchie. Die zusammengeschobenen Lumpen, auf denen sie lagen und sich von den Anstrengungen der letzten Stunden ausruhten, stanken längst nicht mehr so, wie sie es noch zu Beginn getan hatten, als Rena in diesen Albtraum der Sklavenhölle hineingeworfen wurde.
Ich beginne mich daran zu gewöhnen! Der Gedanke erschrak sie.
Es waren leise, schlurfende Schritte, die sich näherten. Es war beinahe Nachtphase, was bedeutete, dass die Morrhm das Licht sehr stark heruntergeregelt hatten. Hier und da leuchtete eine Lampe, doch von denen hatte Rena noch keine für sich erobern können.
Die Schritte verstummten. Doch keine Sekunde später schob sich ein dunkler Schatten vor den Eingang.
*
Etwa zur gleichen Zeit, viele Lichtjahre entfernt, hielt auf der Erde ein unscheinbarer Gleiter vor einem alles andere als unscheinbaren Gebäude, das sich rund hundert Stockwerke hoch in den Himmel erhob. Die glitzernde Fassade des Hochhauses war mit zahlreichen Säulen verziert, die keine stützende Funktion besaßen, sondern nur dazu da waren, den Blick der Betrachterin, die gerade dem Gleiter entstieg, auf ein gewaltiges, rundes Fenster zu lenken. Dieses kreisförmige Fenster war allein so groß wie ein Mehrfamilienhaus und beherrschte die Mitte dieses Gebäudes wie ein einzelnes, alles überschauendes Auge.
»Bitte treten Sie zur Seite«, sagte eine freundliche Stimme neben der rothaarigen, zierlich wirkenden Frau, die auf zehn Zentimeter hohen Stilettes mit einigen sicheren Schritten der Aufforderung der scheinbar aus dem Nichts kommenden Stimme nachkam. Neben ihr schob sich ein dünnes Geländer aus dem Boden. Auf der anderen Seite sank jetzt ihr Gleiter in die Tiefe, wo er von automatisierten Traktorbändern erfasst und an seinen Parkplatz in der Tiefgarage unterhalb des Gebäudes transportiert wurde.
Valentina Duchamp ließ die kaum kreditkartengroße Fernbedienung, mit der sie ihr Fahrzeug verschlossen hatte, in der Tasche ihres plissierten Rocks verschwinden und stieg die Stufen zum Haupteingang hoch.
Noble Adresse, dachte sie, als sie den Eingangssaal betrat. Sie wollte schon nach links abbiegen, um sich am Empfangstresen anzumelden, doch eine sanfte Berührung an der Schulter ließ sie augenblicklich innehalten. Mit überraschender Wendigkeit schnellte sie herum. Der junge Mann, der mit...