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Die Abtrünnigen (eBook)

Roman. Nobelpreis für Literatur 2021
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
400 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-29443-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Abtrünnigen -  Abdulrazak Gurnah
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»Ein großes Werk.« NZZ - Einer der Höhepunkte im Romanwerk des Literaturnobelpreisträgers endlich wieder auf Deutsch!
Sansibar in den frühen 1950er-Jahren: Inmitten politischer Umwälzungen und Aufständen gegen die Kolonialherren wachsen die Geschwister Amin, Rashid und Farida auf. Amin, der Mittlere der Brüder, verliebt sich in Jamila, doch beider Leidenschaft zerbricht schon bald am Widerstand seiner Familie und Gerüchten um die Vergangenheit der jungen Frau. Es heißt, ein Fluch liege auf ihrer Verwandtschaft. Im Strudel der Revolution trennen sich die Lebenswege der Geschwister. Rashid beginnt ein Studium in London, das Schicksal von Amin und Jamila lässt ihn aber selbst in der Ferne nicht los. Er begibt sich auf eine Spurensuche, die ihn tief in die afrikanische Kolonialgeschichte führt - und bis zum Geheimnis um Jamilas Familie. Deren Großmutter hatte für eine verbotene Liebe zu einem britischen Orientalisten einst alles riskiert... »Die Abtrünnigen« zeigt Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah erneut als großartigen, politisch hellsichtigen Erzähler von Geschichten, wie wir sie noch nie zuvor gelesen haben.

Abdulrazak Gurnah (geb. 1948 im Sultanat Sansibar) wurde 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er hat bislang zehn Romane veröffentlicht, darunter »Paradise« (1994; dt. »Das verlorene Paradies«; nominiert für den Booker Prize), »By the Sea« (2001; »Ferne Gestade«; nominiert für den Booker Prize und den Los Angeles Times Book Award), »Desertion« (2006; dt. »Die Abtrünnigen«; nominiert für den Commonwealth Writers' Prize) und »Afterlives« (2020; dt. »Nachleben«; nominiert für den Walter Scott Prize und den Orwell Prize for Fiction). Gurnah ist Professor emeritus für englische und postkoloniale Literatur an der University of Kent. Er lebt in Canterbury. Seine Werke erscheinen auf Deutsch im Penguin Verlag.

1 HASSANALI


Es gab eine Geschichte darüber, wie er zum ersten Mal gesehen wurde. Tatsächlich gab es mehr als eine, aber mit der Zeit und durch das viele Weitererzählen vermischten sich Elemente der verschiedenen Geschichten zu einer. In allen tauchte er im Morgengrauen auf, wie eine Gestalt aus einem Mythos. In einer der Geschichten war er ein aufrechter Schatten, der sich so langsam bewegte, dass sein Näherkommen – dem millimeterweisen Heranrücken des Schicksals gleich – in diesem eigenartigen Unterwasserlicht kaum wahrnehmbar war. In einer anderen bewegte er sich überhaupt nicht, nicht das geringste Zittern oder Zucken war erkennbar, sondern er zeichnete sich nur undeutlich, mit funkelnden grauen Augen, am Rand der Stadt ab und wartete, dass jemand erscheinen möge, jemand, dessen unvermeidliches Schicksal es sein würde, ihn zu finden. Und als das tatsächlich geschah, glitt er auf ihn zu, um zu erfüllen, was niemand prophezeit hatte. Einer behauptete, ihn gehört zu haben, bevor er gesehen wurde, sein flehentliches, sehnsüchtiges Heulen in der dunkelsten Stunde der Nacht vernommen zu haben wie das Heulen eines Tieres aus einer Legende. Unbestritten jedenfalls war – obwohl die Geschichten im Grunde überhaupt außerhalb jeder Diskussion standen, denn im Hinblick auf das Ungewöhnliche seines Erscheinens waren sich alle einig –, dass es Hassanali, der Krämer, war, der ihn fand oder von ihm gefunden wurde.

Wie bei allem hatte das Schicksal auch bei seiner Ankunft die Hand im Spiel, aber Schicksal ist nicht dasselbe wie Zufall, und selbst die unerwartetsten Ereignisse erfüllen einen Plan. Das heißt, das Geschehen zeitigte später Folgen, die es kaum als Zufall erscheinen lassen konnten, dass ausgerechnet Hassanali den Mann fand. Hassanali war zu jener Zeit immer der Erste, der morgens an diesem Schauplatz unterwegs war. Er stand vorm Morgengrauen auf, um die Tore und Fenster der Moschee zu öffnen. Dann stellte er sich auf die Stufen, um die Menschen zum Gebet zu rufen, indem er seine Stimme in allen Winkeln des freien Platzes vor ihm erschallen ließ. »Salla, salla.«* Manchmal trug der Wind ähnliche Rufe von nahe gelegenen Moscheen heran, wo andere Rufer die Leute aus den Federn jagten. »As-salatu khayra min an-nawm.« Beten ist besser als schlafen. Wahrscheinlich stellte Hassanali sich vor, wie die Sünder sich, gereizt über die Störung, in ihren Betten herumdrehten, und empfand eine indignierte und selbstgerechte Befriedigung. Wenn er mit dem Rufen fertig war, kehrte er mit einem fedrigen Kasuarinenbesen, dessen lautlose Wirksamkeit ihm tiefe Freude bereitete, Staub und feinen Kies von den Stufen der Moschee.

Er hatte sich diese Aufgabe, die Moschee zu öffnen, die Stufen zu reinigen und die Menschen zum Gebet zu rufen, aus persönlichen Gründen selbst zugewiesen. Irgendjemand musste es tun, irgendjemand musste als Erster aufstehen, die Moschee aufschließen und den Adhan für die Morgengebete übernehmen, und irgendjemand tat es auch immer aus persönlichen Gründen. Wenn derjenige erkrankte oder der Verantwortung müde wurde, gab es immer einen anderen, der sie übernahm. Sein Vorgänger hatte Sharif Mdogo geheißen und war im Kaskazi vor zwei Jahren von so heftigem Fieber heimgesucht worden, dass er noch immer das Bett hüten musste. Es war ein wenig überraschend gewesen, dass ausgerechnet Hassanali sich freiwillig für die Aufgabe des Morgenrufers angeboten hatte, nicht zuletzt für Hassanali selbst. Er war nicht besonders eifrig, was die Moschee betraf, und es erforderte sehr viel Eifer, täglich im Morgengrauen aufzustehen und die Menschen aus dem Schlaf zu kommandieren. Sharif Mdogo war so ein Typ, einer, der gern in die Behaglichkeit der Menschen hineinplatzte und sie ordentlich durchrüttelte. Hassanali aber war von Natur aus ein ängstlicher Mensch, oder vielleicht hatte die Erfahrung ihn so gemacht, furchtsam und vorsichtig. Diese Pflichten zu noch beinah nachtschlafender Zeit quälten seine Nerven und störten seine Nächte, und er fürchtete sich vor der Dunkelheit, vor den Schatten und dem Huschen und Trippeln in den verlassenen Gassen. Doch zugleich waren genau dies die Gründe, weshalb er sich für die Aufgabe gemeldet hatte – um sich zu unterwerfen und Buße zu tun. Er hatte die Aufgabe zwei Jahre vor diesem anbrechenden Morgen übernommen, in dem Jahr, als seine Frau Malika hier eintraf. Es war eine Bitte um das Gedeihen seiner Ehe gewesen, und zugleich ein Gebet, dass der Kummer seiner Schwester enden möge.

Es war nur ein kurzer Spaziergang von seinem Laden über den freien Platz bis zur Moschee, doch wenn er sich zum morgendlichen Gebetsruf aufmachte, fühlte er sich verpflichtet, es seinem Vorgänger Sharif Mdogo gleichzutun. Er bog in die nahe gelegenen Gassen ein, schrie im Vorbeigehen mehr oder weniger in die Schlafzimmerfenster und brüllte die Leute aus dem Schlaf. Er hatte sich eine Route zurechtgelegt, mit der er den düsteren Schluchten und Höhlen auswich, in denen die schlimmsten und finstersten Gestalten lauerten und ihre üblen Streiche ausheckten, aber er meinte trotzdem immer, gespenstische Schatten in die dunkelsten Winkel der Gassen davonhuschen zu sehen, als seien sie auf der Flucht vor den Gebeten und heiligen Worten, mit denen er die schlummernden Gläubigen ermahnte. Diese Visionen waren so echt – der Schatten einer Monsterklaue an einer Wegbiegung, unzufriedene Geister, die irgendwo hinter ihm leise keuchten, grässliche Geschöpfe der Unterwelt, die aufleuchteten und wieder verblassten, bevor er sie noch richtig sehen konnte –, dass ihm trotz der morgendlichen Frische bei der Verrichtung seiner Aufgaben oft der Schweiß ausbrach. Eines Morgens, während einer solchen angsterfüllten, schweißtreibenden Runde, als die dunklen Gassen wie die Wände eines sich verengenden Tunnels auf ihn eindrängten, spürte er einen Luftstoß an seinem Arm und nahm aus dem Augenwinkel den Schatten eines dunklen Flügels wahr. Er begann zu laufen, und dann beschloss er, den Qualen ein Ende zu setzen. Er zog sich mit ein paar Schritten über den Platz auf die Stufen der Moschee zurück, um seinen Ruf zu tun. Zur Wiedergutmachung übernahm er auch noch die Arbeit des Stufenkehrens, obwohl der Imam ihm gesagt hatte, dass lediglich der Ruf von den Stufen erforderlich und Sharif Mdogo in der Verrichtung seiner Pflichten übereifrig gewesen sei.

Als Hassanali an diesem Morgen den Platz überquerte, sah er einen Schatten über dem Boden, der sich langsam in seine Richtung zu bewegen begann. Er blinzelte und schluckte vor Angst. Das war ja zu erwarten gewesen. Die Welt wimmelte von Toten, und diese graue Stunde war ihre Höhle. Seine Stimme wurde krächzend, seine heiligen Worte vertrockneten im Hals, sein Körper verließ ihn. Der Schatten näherte sich langsam, und in dem rasch heranrückenden Morgen glaubte Hassanali ein hartes, steinernes Licht in seinen Augen glitzern zu sehen. Diesen Augenblick hatte er in Gedanken schon oft erlebt, und er wusste, dass der Ghul ihn verschlingen würde, sobald er ihm den Rücken kehrte. In der Moschee wäre er sicher gewesen, denn sie ist ein Heiligtum, das kein böser Geist betreten kann, aber er war noch weit von ihr entfernt und hatte die Tore noch nicht geöffnet. Am Ende schloss er, von Panik übermannt, die Augen, murmelte immer wieder dieselben Bitten um Gottes Vergebung und ließ es zu, dass seine Knie unter ihm nachgaben. Er fügte sich in das, was kommen sollte.

Als er ganz langsam die Augen wieder öffnete und unter den Lidern hervorspähte wie unter einem leicht angehobenen Laken, unter dem er sich vor einem Albtraum verkrochen hatte, sah er den Schatten zusammengesunken in einigen Metern Entfernung auf dem Boden liegen, halb auf der Seite, ein Knie angezogen. Jetzt, im heller werdenden Licht, konnte er sehen, dass es kein Gespenst oder Schatten oder Ghul war, sondern ein Mann mit aschfahlem Gesicht, dessen erschöpfte, weit geöffnete graue Augen nur wenige Meter von seinen entfernt waren. »Subhan Allah, wer bist du? Bist du ein Mensch oder ein Geist?«, fragte Hassanali zur Sicherheit. Der Mann seufzte und stöhnte zugleich und gab sich damit ohne Zweifel als menschliches Wesen zu erkennen.

So war er bei seiner Ankunft – erschöpft, verloren, der Körper ausgemergelt, Gesicht und Arme von Schnitten und Bissen übersät. Hassanali, auf den Knien im Staub, tastete nach des Mannes Atem, und als er ihn warm und kräftig auf der Handfläche spürte, lächelte er in sich hinein, als hätte er etwas Kluges vollbracht. Die Augen des Mannes standen offen, aber er blinzelte nicht, als Hassanali die Hand vor ihnen bewegte. Es wäre Hassanali lieber gewesen, er hätte geblinzelt. Er erhob sich vorsichtig, voll ungläubigen Staunens über das Drama, in das er hier verwickelt wurde, beugte sich noch einen Moment über das zu seinen Füßen stöhnende Bündel, dann eilte er los, um Hilfe zu holen. Inzwischen war der Morgen gekommen. Der exakte Augenblick größten Segens für das Morgengebet ging rasch vorbei – er war nur sehr kurz –, und Hassanali hatte die von ihm erwartete Aufgabe nicht erfüllt. Er fürchtete den Ärger derer, die sonst regelmäßig am frühen Morgen zum Gebet erschienen und nun beim Aufwachen bemerken würden, dass sie die Segnungen des Morgens verdöst hatten. Die meisten davon waren ältere Männer, die ihre...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2023
Übersetzer Stefanie Schaffer-de Vries
Sprache deutsch
Original-Titel Desertion
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • Afrika • Bestsellerautor • eBooks • Gesellschaftliche Zwänge • Historische Romane • Identität • Islam • Kenia • Kolonialismus • Kolonialzeit • Liebesgeschichte • Literaturnobelpreis 2021 • Neuerscheinung • Nobelpreis für Literatur 2021 • Rassismus • Roman • Romane
ISBN-10 3-641-29443-6 / 3641294436
ISBN-13 978-3-641-29443-4 / 9783641294434
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