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Meine Freundin Anne Frank (eBook)

Die Geschichte unserer Freundschaft und mein Leben nach dem Holocaust
eBook Download: EPUB
2023
384 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-30445-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Meine Freundin Anne Frank - Hannah Pick-Goslar
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»Als kleines Mädchen wurde ich Zeugin davon, wie die Welt, die ich liebte, durch sinnlosen Hass zerstört wurde und verschwand - und mit ihr meine beste Freundin Anne.«
Hannah Pick-Goslar war einst die beste Freundin von Anne Frank. Sie überlebte den Holocaust und erzählt in diesem Buch ihre Geschichte: Die Geschichte einer Kindheit in Amsterdam und der jugendlichen Unschuld unzertrennlicher Freundinnen. Aber auch eine Geschichte von Flucht, Schmerz und letzten Augenblicken. Doch Hannah Pick-Goslars Memoiren schildern nicht nur das unvorstellbare Leid, das ihr widerfahren ist, sondern zeichnen auch das bewegende Leben einer starken Frau nach, die sich nach ihrer Befreiung in Israel ein neues Leben aufbaute. Ihr Buch ist ein einzigartiges Zeitzeugnis, ein intimes Porträt ihrer Freundschaft mit Anne Frank und zugleich ein beeindruckender Beweis für die anhaltende Kraft von Liebe, Hoffnung und die Macht der Erinnerung.

Hannah Elisabeth Goslar wurde am 12. November 1928 in Berlin geboren. 1933 floh ihre Familie aus Deutschland und emigrierte nach Amsterdam. Dort lernte Hannah Anne Frank kennen, die bis zur Trennung der beiden ihre Nachbarin, Schulkameradin und beste Freundin war. 1943 wurden die Goslars in das Durchgangslager Westerbork gebracht. 1944 kamen sie in das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Hier trafen Hannah und Anne kurz vor Anne Franks Tod ein letztes Mal aufeinander. Hannah und ihre Schwester Gabrielle waren die einzigen Überlebenden der Familie Goslar und gehörten zu den jüngsten Überlebenden von Bergen-Belsen. Hannah Goslar emigrierte 1947 ins britische Mandatsgebiet Palästina, wurde Krankenschwester und gründete eine Familie. Sie wohnte zuletzt in Jerusalem und engagierte sich als Holocaustüberlebende für die Aufklärung jüngerer Generationen und für die Aufrechterhaltung von Anne Franks Vermächtnis. Hannah Pick-Goslar verstarb kurz vor Fertigstellung ihres Buches Ende Oktober 2022 im Alter von 93 Jahren.

Kapitel 1

Berlin

In einer meiner frühesten Erinnerungen sitze ich auf dem Parkett und sehe zu, wie ein paar Männer unser blaues Samtsofa zunächst in Decken und dann in braunes Papier packen. Sie verschnüren es, sodass es aussieht wie ein riesiges, unförmiges Geburtstagsgeschenk. Zu meiner Überraschung hieven sie es sich daraufhin auf die Schultern, tragen es, nicht ohne Mühe, durch die Wohnungstür nach draußen und hinterlassen da, wo das Sofa seit jeher gestanden hatte, einen großen Staubfleck. Ich frage mich, worauf wir nun sitzen sollen.

In anderen Zimmern wurden die Esszimmermöbel verpackt und die Bilder von den Wänden genommen, und es blieben noch mehr gähnend leere Stellen, an denen vorher unsere gesamte Einrichtung gestanden hatte. Sogar die Bronzebüste des preußischen Ministerpräsidenten und SPD-Granden Otto Braun, von dem ich ahnte, dass er ein wichtiger Mann war und Freund und Vorgesetzter meines Vaters, wurde in eine Holzkiste versenkt.

Meine Mutter – bei Weitem die Praktischere meiner Eltern – schwirrte durchs Haus und versuchte das Familiensilber zu sortieren. Unterdessen starrte mein Vater mit weit aufgerissenen Augen auf die geliebten Bücher in den Regalen an den getäfelten Wänden unseres Wohnzimmers. Einige hatte er sorgfältig in Kisten verstaut, aber viel, viel mehr standen noch auf den Regalen oder stapelten sich vor seinen Füßen auf dem Boden.

»Die kannst du aber nicht alle mitnehmen«, erklärte Mama ihm in leisem, sanftem Tonfall.

Wir bereiteten unseren Umzug aus unserer Berliner Wohnung, In den Zelten 21a, vor, gegenüber dem Tiergarten, an dessen gusseisernen Zäunen dicke gelbe Rosen wuchsen und in den meine Eltern mich zum Spielen ausführten und manchmal, um im Zoo die Elefanten zu bewundern. Wir verließen auch unser Land, aber das konnte ich mit vier Jahren noch nicht begreifen. Ich denke, ich wusste von den marschierenden Stiefeln, dem Lärm und den rot-schwarzen Fahnen, die in Berlin inzwischen ein häufiger Anblick waren. Und mir war schon aufgefallen, dass mein Vater – sonst ein viel beschäftigter Mann, der jeden Morgen aus dem Haus ging, um den Tag im Büro zu verbringen – jetzt den ganzen Tag zu Hause blieb. Doch meine Erinnerungen an unsere Berliner Wohnung sind sehr bruchstückhaft: das Knirschen meiner Schuhe auf den Kieswegen im Tiergarten, das Klirren in der Wohnung, wenn an der noch jungen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf der anderen Seite des Tiergartens die Glocken dröhnten, und die weichen Klänge unseres Flügels, wenn Mutter darauf spielte.

Unsere Wohnung, mein erstes Zuhause an einer baumbestandenen Allee, gibt es nicht mehr. Es wurde einige Jahre später von Bomben der Alliierten zerstört. Aber ich weiß, dass sie geräumig und elegant war, mit hohen Decken, dicken Perserteppichen und hölzernen Jugendstilmöbeln. Meine Mutter, Ruth (oder Rutchen, wie sie bei den Verwandten hieß), hatte ein Auge für schöne Dinge, und unsere Wohnung war voller Kunstwerke und edlem Porzellan. Im Haushalt hatte sie die Unterstützung einer Köchin und eines Dienstmädchens, und wir genossen ein bequemes, recht privilegiertes Leben.

Mama war Volksschullehrerin gewesen, aber als Gattin eines Regierungsbeamten und Angehörige der gehobenen Mittelschicht hatte sie der damaligen Konvention gemäß ihren Beruf schweren Herzens aufgegeben. Sie liebte die Arbeit mit Schulkindern, aber für eine verheiratete Frau, deren Mann sie ernähren konnte, galt es als unangemessen, einer alleinstehenden Frau eine Arbeitsstelle wegzunehmen. Mama setzte sich mit mir auf den Fußboden und spielte Spiele mit mir, ging in meinen Geschichtchen und Fragen über die Welt auf, die sie geduldig und ausführlich beantwortete. Ich sah gern zu, wie sie sich in eines ihrer maßgeschneiderten Seiden- oder Samtkleider warf und sich fertig machte für einen der vielen Ausgehabende – Konzerte, Kabarett, Empfänge und sogar Bälle, zu denen mein Vater als hochrangiger Regierungsbeamter eingeladen wurde.

Als langjähriges Einzelkind genoss ich alle Aufmerksamkeit meiner beiden Eltern. Ich glaube, sie führten eine glückliche Ehe, obwohl sie recht verschieden waren. Während meine Mutter, zwölf Jahre jünger als mein Vater, fröhlich und extrovertiert war, außerdem geistreich und eine gute Menschenkennerin, war mein Vater ernster und konnte besorgt, ja grüblerisch sein – aber zugleich nahm sein großes Charisma die Menschen für ihn ein. Er war der geborene Anführer und konnte andere mitreißen und ansprechen. Obwohl er ein Pessimist war – er selbst bezeichnete sich natürlich lieber als Realist – und dadurch dem stetigen Pragmatismus meiner Mutter eher entgegengesetzt, war er doch herzlich und in unserer Bekanntschaft für seine Hilfsbereitschaft beliebt. Seine Begabung für die Kommunikation, sei es schriftlich oder als Redner, brachte ihn in der Politik, die er sich als Betätigungsfeld ausgesucht hatte, sehr weit voran. Mit nie endender Geduld beantwortete er meine Fragen und gab mir stets das Gefühl, ich sei der wichtigste Mensch im Raum.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs hatte mein Vater, Hans, eben sein Ökonomiestudium abgeschlossen und seine Laufbahn als Handels- und Wirtschaftspublizist begonnen. 1915 wurde er im Alter von fünfundzwanzig Jahren als Landsturmmann in das deutsche Heer eingezogen und an der Ostfront im Kampf gegen die Russen eingesetzt. Glücklicherweise wurde er ein Jahr darauf dem Stab des deutschen Hauptquartiers Ost im litauischen Kaunas zugewiesen. Später sagte er, wie dankbar er war, dass er nicht nur lebend, sondern sogar unverletzt aus dieser Zeit im eiskalten Schlamm der toddurchtränkten Schützengräben in Russland herauskam, wo so viele ihr Leben gelassen hatten.

In Litauen kam es zu zwei Ereignissen, die Vaters Leben verändern sollten. Erstens wurde er zu seiner Erleichterung vom Dienst an der Waffe befreit und brachte stattdessen seine journalistischen Fähigkeiten für den Krieg zum Einsatz; ins Auge gefallen war er damit keinem Geringeren als General Erich Ludendorff, dem gefeierten Kriegshelden dieser Zeit, der als »Gehirn« der deutschen Streitkräfte galt. Ludendorff gab ihm den Auftrag, eine litauische Zeitung herauszugeben, obwohl mein Vater über das Land nichts wusste und die Sprache nicht beherrschte. Noch Jahre später witzelte er: »Wahrscheinlich war ich der einzige Journalist der Welt, der seine eigene Zeitung nicht lesen konnte.« Stattdessen übersetzten litauischsprachige deutsche Soldaten, was er schrieb.

Im weiteren Verlauf des Kriegs entwickelte sich Ludendorffs erfolgreiche Militärstrategie zur Katastrophe, als er alle Versuche, einen Status-quo-Frieden zu schließen, unterlief und später regelrecht abwürgte. Sein ehrgeiziges Siegesstreben in den letzten Phasen des Kriegs scheiterte. Als Nachkriegsdeutschland unter der Last der ihm auferlegten Kriegsschuld und der »Schande« des Versailler Vertrags litt, der den Krieg für die Deutschen aufs Schlimmste beendete – Gebietsverluste, Reparationszahlungen, die es niemals würde stemmen können, und eine Hyperinflation mit nachfolgender Hungersnot –, räumte Ludendorff keinerlei eigene Fehler ein. Stattdessen verbreitete er die »Dolchstoßlegende« und machte für die deutsche Niederlage vor allem die Juden verantwortlich, die sich angeblich während des Kriegs von innen heraus gegen Deutschland verschworen hatten. Befangen in seinen Verschwörungstheorien, war er einer der ersten Unterstützer Adolf Hitlers in der deutschen Elite. Er meinte, damit Deutschland sich erholen könne, sei ein umfassender weiterer Weltkrieg nötig, der ein neues Deutsches Reich jenseits aller bisherigen Vorstellungen erschaffen würde. Ludendorffs Aktivitäten verhalfen Hitler zum Aufstieg, mit katastrophalen Folgen für meine Familie und alle europäischen Juden. Im Ersten Weltkrieg dürfte Ludendorff hingegen, indem er ihn vom Schlachtfeld holte, meinem Vater das Leben gerettet haben.

Das zweite Ereignis, das meinen Vater veränderte und sich erheblich auf ihn und damit auch auf das Leben meiner Familie auswirkte, bestand darin, dass er während seiner Zeit in Osteuropa in Kontakt zum orthodoxen Judentum kam und sich dafür begeistern ließ. Mein Vater war als Bankierssohn vollständig assimiliert aufgewachsen und hatte praktisch keinerlei Beziehung zur jüdischen Tradition. An Weihnachten gab es in seiner Familie sogar einen Christbaum samt Kerzenschein. Zwar war er auch in Deutschland schon frommen Juden begegnet, sicherlich auch einigen aus Osteuropa, doch ich denke, wie die meisten säkularen deutschen Juden dürfte er sie entsprechend den damaligen Vorurteilen eher negativ beurteilt haben – als rückständig, laut, unmanierlich. Damals kündigten viele westeuropäische Juden gerade alles, was mit dem jüdischen Ritus in Zusammenhang stand, auf und heirateten so häufig wie nie zuvor Nichtjuden; manche nutzten gar die christliche Taufe als Mittel zum beruflichen Fortkommen und als Garant dafür, nicht länger antisemitischen Schmähungen und Gewalttaten zum Opfer zu fallen. Dass mein säkularer Vater nun das orthodoxe Judentum für sich entdeckte, war also höchst ungewöhnlich. Trotzdem begeisterte er sich während seiner Dienstzeit im polnischen Białystok für die Herzlichkeit und menschliche Nähe der chassidischen jüdischen Gemeinden und ihre Kultur. Er begegnete Rabbinern, lernte Hebräisch und traf auf große, warmherzige, fromme Familien; und das veränderte seine Haltung zur Religion für sein ganzes restliches Leben. Zum ersten Mal lernte er zu beten, sang geistliche Lieder, ging zur Sabbatfeier und blieb zum Sabbatmahl in bescheidenen, aber eng verbundenen Familien, deren Gesang und Spiritualität ihn...

Erscheint lt. Verlag 18.10.2023
Übersetzer Elsbeth Ranke
Sprache deutsch
Original-Titel MY FRIEND ANNE FRANK
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 2023 • Anne Frank • Antisemitismus • Benjamin Ferencz • Bergen-Belsen • Beste Freundin • Biografie • Biographien • Das Tagebuch der Anne Frank • Drittes Reich • eBooks • Eddie Jaku • Freundinnen • Geschichte • Holocaust • Israel • Jerusalem • Judenverfolgung • Konzentrationslager • Kriegsverbrechen • Lies Goosens • Margot Friedländer • Nationalsozialismus • Neuerscheinung • Sag immer deine Wahrheit • Schoah • Vernichtungslager • Weltgeschichte • Zeitzeugen erzählen • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-641-30445-8 / 3641304458
ISBN-13 978-3-641-30445-4 / 9783641304454
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