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Ein Geist in der Kehle (eBook)

eBook Download: EPUB
2023
384 Seiten
btb Verlag
978-3-641-28296-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Geist in der Kehle - Doireann Ní Ghríofa
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DIES IST EIN WEIBLICHER TEXT

ZWEI SCHRIFTSTELLERINNEN, Jahrhunderte voneinander getrennt: In ihrem ungewöhnlichen Prosadebüt verbindet Doireann Ní Ghríofa Essay und Autofiktion, um das Innenleben und die tiefe Verbundenheit zwischen zwei schreibenden Frauen aus zwei verschiedenen Epochen zu erkunden. Es ist eine Feier des Lebens, der Liebe und des rechten Umgangs mit Leiden.

Im 18. Jahrhundert trinkt eine irische Adelige, als sie erfährt, dass ihr Mann ermordet wurde, eine Handvoll seines Blutes und verfasst ein außergewöhnliches Gedicht, das zum nationalen Mythos werden wird. In der Gegenwart entgeht eine junge Mutter nur knapp einer Tragödie und stößt auf ein Gedicht, das sie bereits als Schulkind gelesen hat. Besessen von den Parallelen zu ihrem eigenen Leben macht sie sich auf die Suche nach dem verschwiegenen Rest des Geschehens.

Eine große Geschichte über eine Frau, die ihre Stimme befreit, indem sie in die Vergangenheit vordringt und die einer anderen findet.

Doireann Ní Ghríofa ist eine irische Dichterin und Essayistin. Ihre Themen kreisen um Mutterschaft und Begehren, Tod und Familie, in ihrem Schreiben überbrückt sie die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sie ist vielfach preisgekrönt, ihre Werke sind in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Für ihre Texte erhielt sie unter anderem das Lannan Literary Fellowship (USA), den Ostana-Preis (Italien), ein Seamus Heaney Fellowship (Queen's University), den Hartnett Poetry Award und den renommierten Rooney Prize for Irish Literature. Mit »Ein Geist in der Kehle« gelang ihr ein international gefeierter Bestseller und der vielfach beachtete Durchbruch auf literarischer Ebene, sie gewann damit u.a. den An Post Irish Book of The Year Prize.

2012


Mein Morgen verläuft jeden Tag weitgehend gleich. Ich küsse meinen Mann und fühle dabei einen Stich – egal, wie oft wir uns morgens so verabschieden, vermisse ich ihn bereits, wenn er das Haus verlässt. Noch während man sein Motorrad in die Ferne davondonnern hört, beginne ich rasch meinen Tag. Erst füttere ich unsere Söhne, dann räume ich die Spülmaschine ein, hebe Spielzeug vom Boden auf, wische Flecken weg, schaue auf die Uhr, bringe unseren Ältesten zur Schule, gehe wieder nach Hause mit dem Kleinen und dem Baby, seufze und schlafe, lache und küsse, sinke aufs Sofa, um den Jüngsten zu stillen, schaue wieder auf die Uhr, lese Die Raupe Nimmersatt ein paarmal nacheinander vor, versuche, im Bad über dem Waschbecken Babyspeichel auszuwaschen, scheitere, baue einen Turm aus Klötzen zum Umstoßen, versuche, den Boden zu wischen, gebe auf, als das Baby schreit, küsse die Knie des Kleinen, der auf dem halb gewischten Boden ausgerutscht ist, schaue wieder auf die Uhr, wische verschütteten Saft auf, setze den Kleinen an einen Tisch vor ein Puzzle und trage den Kleinsten nach oben ins Bett.

Das Baby schläft in einer Wiege aus dritter Hand, zusammengehalten mit schwarzem Klebeband, und die Wände des Schlafzimmers unserer Mietwohnung schmücken keine pastellfarbenen Wandgemälde, sondern Gebilde aus schwarzem Schimmel. Mir fällt immer kein Schlaflied ein, also greife ich auf die Lieder von Mixtapes aus meiner Jugend zurück. Ich habe »Karma Police« so oft zurückgespult, dass ich schon oft befürchtete, das braune Band könnte reißen, aber jedes Mal, wenn ich Play drückte, spielte das Gerät das Lied wieder ab. Jetzt, in meiner Erschöpfung, kehre ich zu dieser Melodie zurück und summe sie leise, während das Baby glucksend von meiner Brust trinkt. Sobald sich sein Kiefer entspannt und sich seine Augen nach hinten verdrehen, schleiche ich mich davon, erneut fasziniert vom Gedanken, wie oft einzelne Augenblicke meines Tages von unzähligen anderen Frauen in unzähligen anderen Wohnungen durchlebt werden, verbunden mit mir im Text unserer Tage. Ich frage mich, ob sie ihre Schufterei genauso lieben wie ich, ob sie die gleiche Freude daran haben, langsam Listen wie meine abzuarbeiten, auf der so einfache Dinge stehen wie:

Zur Schule bringen

Wischen

Oben staubsaugen

Milch abpumpen

Mülleimer

Geschirrspüler

Wäsche

Klo putzen

Milch/Spinat/Huhn/Porridge

Von Schule abholen

Bank + Spielplatz

Abendessen

Baden

Ins Bett bringen

Ich trage meine Liste so nah bei mir wie mein Handy, und es verschafft mir große Befriedigung, wenn ich wieder einen Punkt von der Liste streichen kann. Diese Art Auslöschung gefällt mir. Doch egal, wie viel meiner Energie in die Erledigung der Pflichten fließt, löst sich die Ordnung jedes Zimmers hinter mir direkt wieder auf, als legte eine Schattenhand schon die noch ungeschriebene Liste für die nächsten Tage an: wieder aufräumen, wieder staubsaugen, wieder abstauben, wieder wischen und fegen und wienern. Wenn mein Mann zu Hause ist, teilen wir die Aufgaben im Haushalt auf, aber wenn ich allein bin, arbeite ich alleine. Ich sage es ihm nicht, aber mir ist es lieber so. Ich habe gerne die Kontrolle. Trotz aller Aufgaben auf meiner Liste und trotz meiner Hingabe an ihre Erledigung sieht das Haus so munter durcheinander aus wie jedes andere Haus mit kleinen Kindern, nicht sauberer, nicht schmutziger.

Heute Morgen habe ich bislang erst Zur Schule bringen von der Liste gestrichen, was auch einschließt, dass ich die Kinder wecke, anziehe, wasche und ihnen Essen mache, den Frühstückstisch abräume, die Jacken, Mützen und Schuhe suche, Zähne putze, mehrfach das Wort »Schuhe« rufe, eine Brotdose fülle, eine Schultasche kontrolliere, erneut »Schuhe« rufe und dann, endlich, zur Schule und zurück laufe. Seit ich wieder zu Hause bin, habe ich den Geschirrspüler bislang erst halb eingeräumt, meinem Sohn halb beim Puzzeln geholfen und halb den Boden gewischt – nichts, was ich von meiner Liste streichen könnte. Ich klammere mich an meine Liste, da sie es ist, die mich an der Hand durch meine Tage führt und die Stunden in eine Abfolge kleiner, bewältigbarer Aufgaben unterteilt. Nach dem Abarbeiten einer guten Liste, wenn ich wieder in den Armen meines schlafenden Mannes liege, ist ihr Text zu einer Reihe von Kritzeleien geworden, eine Auslöschung, auf die ich mit Freude und Genugtuung schaue, da das schrittweise Ausstreichen dieses handgeschriebenen Dokuments mir das Gefühl gibt, dass ich den Tag über Wertvolles geleistet habe. Die Liste ist meine Landkarte und mein Kompass zugleich.

Ich merke, wie ich in Verzug gerate, also überfliege ich den Text der heutigen Aufgaben, um mir Überblick zu verschaffen, stelle dann den Geschirrspüler an und ziehe einen Strich durch das Wort. Ich lächle, als ich dem Kleinen helfe, das fehlende Puzzleteil zu finden, klatsche, als es vollständig ist, und hole schließlich die Fernbedienung. Ich kuschle nicht mit ihm, während er Die Oktonauten anschaut. Ich setze mich nicht mit ihm aufs Sofa und schließe dort nicht für zehn Minuten meine müden Augen. Stattdessen eile ich in die Küche, wische den Boden fertig, leere die Mülleimer und streiche diese Aufgaben dann schwungvoll von der Liste.

Über der Spüle schrubbe ich meine Hände, Nägel und Handgelenke und dann noch einmal. Ich nehme Teile von Trichtern und Filtern aus dem Dampfsterilisator, um die Milchpumpe zusammenzusetzen. Solche Geräte sind nicht billig, und da ich keiner bezahlten Arbeit mehr nachgehe, habe ich sie gebraucht gekauft. Die Anzeige wirkte auf meinem Bildschirm fast so anrührend wie die Geschichte mit den Babyschuhen, die meist Ernest Hemingway zugeschrieben wird –

Gekauft für 209 €, zu verkaufen für 45 € VB.

Einmal benutzt.

Seit Monaten vollführen diese Maschine und ich jeden Morgen das gleiche kleine Ritual, um Milch für die Babys von Fremden abzupumpen. Ich öffne meinen BH und schiebe meine Brust in den Trichter. Es ist immer die rechte Brust, da meine linke Brust eine faule Sau ist: einen Monat nach der Geburt hat sie die Produktion weitgehend eingestellt, sodass sowohl das Baby als auch die Maschine ausschließlich von der rechten Brust versorgt werden müssen. Ich drücke den Schalter, zucke zusammen, wenn sie unangenehm an meiner Brustwarze ruckelt, setze mich richtig hin und drehe dann am Regler für die Intensität, mit der die Maschine am Fleisch zieht. Zunächst sind die Züge des Mechanismus schnell getaktet und fest und ahmen das schnelle Saugen des Babys nach, bis sie glaubt, dass die Milch zu fließen begonnen haben muss. Wenig später pendelt sich die Pumpe auf einen gleichmäßigen Rhythmus ein: längeres Ziehen, Loslassen, wieder Ziehen. Das Gefühl an der Brustwarze ist wie eine Reihe kleiner Stromstöße oder ein seltsam stechendes Kribbeln. Im Gegensatz zum Stillen des Babys brennt dieser Vorgang immer, er ist nie angenehm, aber der Schmerz ist erträglich. Schließlich setzt sich die Milch wie von der Maschine gefordert in Bewegung, von irgendwo unter meiner Achselhöhle. Ein Tropfen fällt von der Brustwarze herab und wird direkt in die Maschine gesaugt, dann noch einer, und noch einer, bis sich eine kleine Pfütze am Boden der Flasche bildet. Ich wende meinen Blick ab.

Wenn ich morgens besonders müde bin, träume ich dabei manchmal eine Weile vor mich hin oder vertiefe mich für zehn Minuten in ein Buch aus der Bibliothek, aber heute nehme ich, wie an so vielen anderen Tagen, meine zerlesene Fotokopie von Caoineadh Airt Uí Laoghaire zur Hand und heiße die Stimme einer anderen Frau willkommen, eine Weile in meiner Kehle zu spuken. So fülle ich die einzige kleine Stille meines Tages, indem ich die Lautstärke ihrer Stimme aufdrehe zur Begleitung des Keuchens und Surrens der Pumpe, bis ich nur noch dieses Geräusch höre. Auf dem Rand der Seiten tritt mein Bleistift ins Gespräch mit vielen früheren Versionen meiner selbst, ein sich wandelndes Gedankenprotokoll, in dem jedes Fragezeichen nach dem Leben der Dichterin fragt, die das Caoineadh verfasst hat, aber nie mein eigenes hinterfragt. Einige Minuten später schrecke ich auf und sehe, dass sich die Pumpe mit blasser, warmer Flüssigkeit gefüllt hat.

Als wir uns zum ersten Mal begegneten, war ich ein Kind und sie schon seit Jahrhunderten tot.

Das Bild: Ich bin elf, ein Mädchen, das schlecht in Mathe und in Sport ist, ein Mädchen, das dazu neigt, aus dem Fenster zu starren, ein Mädchen, dessen einzige echte Begabung das Tagträumen ist. Die Lehrerin ruft meinen Namen und reißt mich mit einem Ruck zurück in den dünnwandigen Fertigbau. Ihre Stimme lässt einen schönen Tag des Jahres 1773 erstehen und englische Soldaten in einem Graben auf der Lauer liegen. Ich füge Wasser hinzu, das ihnen bis über die Knie reicht. Ihre Musketen sind auf einen jungen Mann gerichtet, der jetzt aus dem Sattel stürzt, in sehr langsamer Zeitlupe. Eine Frau reitet heran und kniet sich über ihn, ihre Stimme erhebt sich mit einer altertümlichen Formel aus Atem und Silben, die die Lehrerin ein ›Caoineadh‹ nennt, eine Totenklage. Ihre Stimme erzeugt ein Echo, das stark genug ist, um ein Mädchen mit dunklen Haaren und abgekauten Nägeln in der Ferne zu erreichen. Mich.

Im Unterricht wird uns ein Bild gezeigt von dieser Frau, wie sie allein dasteht, malerisch im Wind als kerniges irisches Mädchen mit rosigen Wangen. Dies, so sagt man uns, ist Eibhlín Dubh Ní Chonaill, eine der letzten Edelfrauen des alten irischen Adels. Ihre Geschichte klingt traurig, ja, aber schon...

Erscheint lt. Verlag 29.3.2023
Übersetzer Cornelius Reiber, Jens Friebe
Sprache deutsch
Original-Titel A GHOST IN THE THROAT
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 18. Jahrhundert • 2023 • Blut • eBooks • Feminismus • Irland • Lyrik • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Parallelen • Roman • Romane • weibliche Solidarität
ISBN-10 3-641-28296-9 / 3641282969
ISBN-13 978-3-641-28296-7 / 9783641282967
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