Dennis E. Taylor war früher Programmierer und arbeitete nachts an seinen Romanen. Mit »Ich bin viele«, dem Auftakt seiner BOBIVERSE-Reihe, gelang ihm schließlich der Durchbruch, sodass er sich nun ganz dem Schreiben widmen kann.
Kapitel 1
Blechschaden
Tag 1. Freitag Nachmittag
Noch ein beschissener Tag, am Ende einer beschissenen Woche, inmitten eines beschissenen … nun ja, um es kurz zu machen: Mein Leben war insgesamt so richtig Scheiße. Das muss fürs Erste genügen.
Ich starrte die verbeulte Karosserie an, schaute auf und schüttelte die Faust gen Himmel. »Wirklich? Wirklich? Kannst du dich nicht auf andere Art amüsieren?« Natürlich kam keine Antwort. Falls Gott existierte, war er ein fieser kleiner Troll mit einem sadistischen Sinn für Humor.
Einen Moment später senkte ich seufzend wieder den Blick, um den Schaden zu begutachten. Der Lieferwagen meiner Familie – auf dem links und rechts in großen Lettern Kernigan Food Mart stand – schien noch zu funktionieren, doch es war davon auszugehen, dass mein Vater die veränderte Geometrie der Karosserie bemerken würde.
Dad würde wahrscheinlich nicht wütend werden, sondern nur dieses bekümmerte Gesicht ziehen, dieses Du-hast-mich-schon-wieder-enttäuscht-Jack-Gesicht. Im Vergleich zu meinem Rauswurf aus dem MIT würde die verbogene Stoßstange allerdings kaum ins Gewicht fallen. Sobald einem die Fäkalien über dem Kopf zusammenschlugen, war es im Grunde egal, wie tief man noch sank.
Ich spürte, wie sich mein Atem beschleunigte. Nein, vielen Dank, ich hatte keine Zeit für eine Panikattacke. Sobald ich die letzten beiden Lieferungen erledigt hatte, würde ich das ganze Wochenende Zeit zum Ausflippen haben. Unwillkürlich begann ich mit den Atemübungen, die meine Tante mir beigebracht hatte. Eins, aus, zwei, aus … Bei fünf merkte ich, wie ich mich allmählich entspannte.
Jetzt musste ich mich mit dem Unfall befassen. Es war ein sonniger Tag. Über den strahlend blauen Himmel zogen nur ein paar vereinzelte Schäfchenwolken, wie es Anfang Juli in Ohio meistens der Fall war. Seit dem letzten Regen sammelte sich am Straßenrand bereits wieder Staub, der nur darauf wartete, von vorbeifahrenden Autos aufgewirbelt zu werden.
Kurz und gut: Die Sichtverhältnisse waren einwandfrei. Auch wenn ich die Kurve auf der Poller Road wie üblich zu schnell genommen hatte, hätte ich, was immer ich gerammt hatte, eigentlich sehen müssen. Ich inspizierte den Schaden. Auf der Stoßstange klebte Blut, und im Kühlergrill hingen Fellfetzen. Wenigstens war es kein Mensch, sondern offenbar ein Tier gewesen. Allerdings ein großes – eher ein Hirsch als ein Hase.
Ich beugte mich weiter vor. Das Blut hatte eine seltsame Farbe. Es war nicht rot, sondern orange. Und die Fellhaare waren lang genug für einen Bären. Ich schaute mich rasch um. Ein wütender, verwundeter Bär wäre nicht so toll. Vielleicht sollte ich mich besser im Wagen verbarrikadieren …
Ich ging schnell in die Hocke und spähte unter den Transporter. Dabei stellte ich fest, dass nichts unter dem Chassis klemmte oder auf der anderen Seite des Fahrzeugs darauf wartete, mich auszuweiden.
Ich langte durch das offene Seitenfenster und stellte den Motor ab. Es hatte keinen Sinn, die ganze Umgebung mit Abgasen zu verpesten, während ich mich umsah.
Das Blut – wenn es denn Blut war – bildete eine dünne Spur, die ins Gras auf der anderen Seite der Straße führte. Ich sah eine Stelle mit flach gedrückten Halmen. Vielleicht war das Tier dort aufgekommen.
Das Gras war vollkommen platt und hatte noch nicht begonnen, sich wieder aufzurichten. Es musste ein ordentlicher Aufprall gewesen sein. Oder ein sehr großes Tier. Doch wo war es? Ich ging weiter ins Gras hinein, um es zu suchen. Dabei stolperte ich über etwas.
Ich fing mich mit einer Hand auf dem Boden ab und drehte mich um. Hinter mir war nichts, über das man hätte stolpern können. Kein Stein, kein Stock, kein achtlos entsorgter Fahrzeugschrott.
Ich ging übertrieben langsam zurück, wobei ich darauf achtete, den vorderen Fuß erst zu belasten, sobald er den Boden berührte. Beim zweiten Schritt stieß ich mit der Schuhspitze gegen … irgendetwas.
Verwirrt starrte ich auf meinen Fuß hinab, der von leerer Luft blockiert zu werden schien. Ich drückte ein bisschen fester gegen das unsichtbare Etwas und spürte, wie es ein wenig nachgab. Ich zog den Fuß langsam zurück. Meine Gedanken begannen zu rasen. Es gab eine alte Akte-X-Folge, in der sich ein Typ wünschte, unsichtbar zu sein, und … Obwohl ich allein war, verdrehte ich die Augen. Ich hatte es ganz sicher nicht mit einem Dschinn zu tun. An so etwas glaubten nur Verrückte.
Rasch griff ich nach meinem Handy. Ich musste unbedingt ein Foto machen …
Wovon, Knallkopf? Von der Luft? Ojemine, der arme Jack. Seit er von der Uni geflogen ist, ist er nicht mehr ganz richtig im Kopf.
Kopfschüttelnd beugte ich mich vor, um das unsichtbare Objekt zu betasten – und zog sofort die Finger wieder zurück. Es hatte ein Fell. Und Dinger mit Fell besaßen oft auch Zähne und Krallen. Vielleicht sollte ich besser mit einer behutsameren Untersuchungsmethode beginnen. Ich schob den Staub am Straßenrand zu einem ordentlichen Haufen zusammen, nahm zwei Handvoll und bestreute damit vorsichtig den Körper. Oder was immer es war.
Der Staub kam auf etwas zu liegen. Ich war mir sicher, Fell, einen Kopf sowie Arme auszumachen … Aus irgendeinem Grund schien der Staub vom Körper absorbiert zu werden. Vielleicht verschwand er aber auch einfach nur. Möglicherweise wirkte sich, was immer den Körper unsichtbar machte, auch auf den Staub aus.
Mit zwei weiteren Handvoll Staub gelang es mir, den groben Umriss des Körpers nachzuzeichnen. Buchstäblich. Der Sand, der nicht auf dem Körper gelandet war, bildete eine Art Kreideumriss, wie ihn Cops an Tatorten hinterließen.
Das Ding war groß.
Da der Körper nicht ausgestreckt lag, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, wie lang er war, aber er schien mehr als zwei Meter zu messen. Ich selbst bin knapp zwei Meter groß und daran gewöhnt, alle anderen zu überragen, doch diese Kreatur hätte mir ohne Weiteres auf den Kopf spucken können.
Der lange Rumpf und die vergleichsweise kurzen Beine deuteten allerdings nicht auf einen aufrechten Gang hin. Außerdem war das Wesen im Unterschied zu mir nicht gerade eine Bohnenstange. Ich schätzte, dass es rund fünfzig Kilo mehr auf die Waage brachte als ich.
Erneut begann ich mit meinen Atemübungen. Ohne mich auf irgendetwas Bestimmtes zu konzentrieren, nahm ich die warme Luft, das rhythmische Summen der Insekten und den einzelnen Schweißtropfen wahr, der mir den Rücken herabrann. Als ich mein Herz nicht mehr schlagen hörte, zog ich das Handy aus meiner Hüfttasche.
Ich versuchte, eine Nachricht zu schreiben, tippte ein paar Worte, löschte sie hektisch wieder und tippte erneut. Schließlich gab ich mit einem gemurmelten Fluch auf. Das hier ließ sich nicht mit ein paar kurzen Sätzen beschreiben. »Siri«, sagte ich mit einem flauen Gefühl im Magen, »ruf Patrick an.«
»Ich rufe Patrick an«, erwiderte das Handy.
»Hi. Sie haben Patrick Jordan erreicht. Wahrscheinlich gehe ich nicht ran, weil ich nicht mit Ihnen sprechen will. Wenn Sie möchten, können Sie gerne eine Nachricht hinterlassen.«
Ich musste unwillkürlich kichern. Diese Ansage regte jeden auf, der sie hörte. Was, wie Patrick freimütig zugab, auch ihr Sinn war. Obwohl er eine ziemliche Nervensäge sein konnte, waren wir seit unserer frühesten Kindheit miteinander befreundet. Zusammen mit Natalie waren wir die drei Musketiere. Einer für alle und – laut Patrick – alle für ihn.
»Patrick, hier spricht Jack. Es ist etwas passiert. Etwas sehr Schräges. Ruf mich sofort an, wenn du das hier abhörst.«
Ich steckte das Handy wieder ein und ging in die Hocke, um den Kadaver zu untersuchen. Moment mal … War es überhaupt tot? Was, wenn dieses Wesen nur verletzt und bewusstlos war? War es bissig? Hatte es spitze Zähne oder Stacheln?
Ich nahm eine weitere Handvoll Staub und begann, das Geschöpf damit zu berieseln. Diesmal ging ich jdoch methodischer vor und betrachtete aufmerksam jeden für einen kurzen Moment in Erscheinung tretenden Köperteil. Als ich die Brust lokalisiert hatte, legte ich eine Hand darauf. Keine Bewegung. Keine Atmung. Kein Herzschlag. Doch was sagte das schon aus? Ich wippte auf den Fußballen und betrachtete den, äh … nun ja, die Stelle, an welcher der Köper eigentlich zu sehen hätte sein müssen.
Es war kein Mensch. Es war kein Tier. Es war nicht …
Schaudernd gestand ich es mir endlich ein.
Diese Kreatur stammte nicht von der Erde. Außer es handelte sich um Bigfoot, was die Sache allerdings auch nicht besser gemacht hätte.
Oder Chewbacca. Warum nicht? Wenn man erst mal an einen unsichtbaren Außerirdischen zu glauben bereit war, schien alles möglich.
Demnach hatte ich also gerade ein Alien getötet. Großartig. Aber was hatte es hier mitten im Nichts gesucht? Und wieso war es nicht klug genug gewesen, um unversehrt die Straßenseite wechseln zu können?
Ich blickte in die Richtung zurück, aus der ich gekommen war. Chewie hatte sich eine ausgesprochen schlechte Stelle ausgesucht, um die Poller Road zu überqueren. Die Kurve war eng, ein bisschen unübersichtlich und so stark geneigt, dass so gut wie jeder sie mit überhöhter Geschwindigkeit durchfuhr. Chewie hätte schon ein Känguru sein müssen, um noch rechtzeitig ausweichen zu können.
Das war alles sehr interessant, änderte aber nichts daran, dass ein totes Alien vor mir lag. Was sollte ich also tun? Die Polizei rufen? Oder Dad anrufen? Was im Grunde ein und...
Erscheint lt. Verlag | 14.6.2023 |
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Übersetzer | Urban Hofstetter |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Roadkill |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | 2023 • Aliens • Audible • Bobiverse • Douglas Adams • eBooks • Erstkontakt • first contact • Ich bin viele • Men in Black • Neuerscheinung • Per Anhalter durch die Galaxis |
ISBN-10 | 3-641-30273-0 / 3641302730 |
ISBN-13 | 978-3-641-30273-3 / 9783641302733 |
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