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Der magische Spiegel. Chinesische Märchen und Novellen aus den Zeiten der Blüte (eBook)

10 Märchen mit Illustrationen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
256 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-30407-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der magische Spiegel. Chinesische Märchen und Novellen aus den Zeiten der Blüte - Lo Ta-Kang
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Wie die funkelnden Lampions des Laternenfestes - fremdartig, zauberhaft, schön - erstrahlt das Reich altchinesischer Erzählkunst in dieser außergewöhnlichen Sammlung von zehn Märchen und Novellen aus der Zeit um 600 bis 1600 n. Chr. Im Spannungsfeld zwischen Außenwelt und Innenwelt, Staat und Gesellschaft im Geist des Konfuzianismus und dem Weg der Kontemplation im Tao, erzählen sie von der leidenschaftlichen Suche nach seelischem Ausgleich und dem Gleichgewicht kosmischer Kräfte. Im Mittelpunkt der Titelerzählung steht ein bronzener Spiegel aus uralten Zeiten, eine geheimnisvolle Macht, die auf dem Pfad der Freundschaft und Liebe hilft, das Unrecht auf Erden zu überwinden.
  • Aus einer anderen Welt: Tiefe Einblicke in Chinas Kultur und Mythologie
  • 10 Märchen mit 10 Illustrationen altchinesischer Art, mit Nachwort des Übersetzers und Herausgebers Richard B. Matzig

Sah er Blütenblätter, vom Regen in den Schlamm gespült, so hob er sie auf, reinigte sie in frischem Wasser und streute sie schließlich in den See. Es graute ihm vor dem Gedanken, eine Blume zu pflücken oder einen Zweig abzuschneiden. »Warum soll man sie töten, wenn doch eine Blume nur wenige Tage dauert? Und für diese wenigen Tage des Glanzes, welches Weben und Drängen und Wirken im Schatten langer Monate! Selbst der Aufbruch der Knospe ist eine große Mühsal: Tage um Tage sind notwendig dafür und ein glücklich strahlender Himmel. Welch ein Gegensatz, wenn eine Blume welkt! Sie stirbt so schnell. Und die Vögel, die Insekten, die Sonnenglut, der Wind, der Nebel, die Wolken … so vielen Feinden muss die zarte Blume trotzen. Und nur dank der Hingabe des Menschen kann sie siegen über alle Widerstände und Anfechtungen. Wie bringt man es übers Herz, eine Blume vom Stängel abzureißen? Wie schön ist es, wenn sie in der Sonne lächelt, im Wind tanzt wie ein junger Mensch, der trunken ist von Glück? Wer sie von ihrem Zweig trennt, verurteilt sie zum Tode: Eine gepflückte Blume kann diesen Schmerz nicht überleben und niemals kehrt sie zu ihrem mütterlichen Zweig zurück.« So redete der Alte; so predigte er ihnen allen, die nichts wussten von der Liebe zu den Blumen.

»Wenn die Blumen sprechen könnten«, sagte er ihnen noch, »wie würden sie in ihrer Unschuld klagen über ihr grausames Los! Und warum sollte man sie nicht bewundern, ohne sie zu berühren? – Ihr pflückt die Blumen leichten Herzens, um den Tisch Eurer Zechgenossen zu schmücken oder um dem Haar Eurer Geliebten einen neuen Glanz zu geben; aber Ihr hättet ebenso gut Eure Freunde zusammenrufen dürfen, um unter den Zweigen der lebendigen Blumen zu trinken, Ihr hättet für Eure Angebetete einen andern Schmuck als Blumen finden können!«

Am stärksten hasste der Greis jene Menschen, die Blumen aus reiner Laune pflücken, im Vorübergehen, und die sie dann gedankenlos auf die Straße werfen. Er selbst hatte ja nie eine einzige zerstört. Bei Freunden zog er es vor, eher in Bewunderung der Blätterkrone zu verharren als sie zu pflücken. Zuweilen geschah es, dass der Gast­geber eine Blume vom gläsern zarten Stängel brach, um sie dem Greis, dessen Bewunderung ihn rührte, zu überreichen. Da floh Tz’u Siên, so schnell seine Beine ihn tragen konnten, und rief: »O, welche Sünde!«

Natürlich hätte er es nie zugelassen, dass jemand die Blumen seines Gartens berührte. Beizeiten warnte er die Besucher mit seinen bekannten Argumenten. Und wenn einer bei seiner Rede ungerührt blieb, dann ging er so weit, sich vor ihm niederzuwerfen und Gnade für seine Blumen zu erflehen. In Wirklichkeit ließ man es ihm an Rücksicht und Wohlwollen niemals fehlen –, trotz des Spitznamens »Blumennarr«, den man ihm zu geben beliebte, als ob er eine lächerliche Figur wäre.

Arme Kinder wollten ihm von Zeit zu Zeit Blumen stehlen, um sie zu verkaufen; er zog es vor, ihnen einfach Geld zu geben. Sah er, dass während seiner Abwesenheit Blumen misshandelt worden waren, so machte er ihnen betrübten Gesichtes einen Verband aus Tonerde. Er nannte diese Zeremonie »die Heilung der Blumen«. Um jede Einwirkung fremder Menschen fernzuhalten, gewährte er Unbekannten ganz selten Einlass. Freunden und Nachbarn, die seine Besitzung sehen wollten, verweigerte er erst den Eintritt. Gab er nach, des langen Widerstrebens müde, dann rief er den Hartnäckigen zuerst das »Reglement« oder die »Verbote« in Erinnerung und öffnete zögernd die Pforte. Es war zum Beispiel verboten, den Blumen allzu nahe zu treten, denn sie hätten von einem unreinen Atem gekränkt werden können. Wenn ein Besucher so weit ging, eine Blume oder eine Knospe zu pflücken, dann schoss dem Greis das Blut zu Kopf, er erstickte fast vor Zorn. Selbstverständlich duldete er den Unverschämten nie mehr in seinem Garten. Alle aber begriffen seine Manie, begriffen seine übersteigerte Empfindlichkeit und hüteten sich, auch nur ein einziges Blättlein zu berühren.

Die Vögel, die zahlreich und ohne Unterlass im schönen Blätterwerk des Gartens zwitscherten, rissen mit ihren Schnäbeln wahllos in Beeren und Blüten. Der Gärtner streute Körner in die Allee, damit er die Gier der ­Vögel von den Sträuchern ablenke. Die gefiederten Gäste blieben nicht unberührt von seinen Bemühungen: Von Körnern satt, flogen sie von nun an spielerisch in den duft- und blütenschweren Zweigen hin und her, ohne ihre Schnäbel zum Raube zu öffnen.

Tz’us Garten brachte auch Früchte von nie gekannter Größe, von herrlicher Süße hervor. Von den reifen Früchten opferte er einige den Blumengeistern. Er selbst aß davon und verteilte eine große Anzahl an seine Nachbarn. Was übrig blieb, verkaufte er. Und es blieb ihm stets ein beträchtlicher Gewinn.

So lebte Tz’u Siên in der großen Freude des Gartenbaus. Während fünfzig Jahren erlahmte er nie in seinem liebenden Tun. Die Pflege der Blumen, diese Leidenschaft seiner Jugend, vertiefte sich im Glanz seines Alters zu verinnerlichter Kultur. Auch seine Gesundheit festigte sich mit den Jahren; denn der Weise wusste sich mit frugaler Speise und einfach gewobenen Kleidern zu begnügen. Mit dem Gewinn, den ihm seine Früchte brachten, wetteiferte seine Güte; oft half er den Armen des Dorfes. Die Einwohner liebten und verehrten ihn, sie nannten ihn »Vater Tz’u«. Er selbst gab sich den Namen »der alte Gärtner«.

Nun aber wohnte in dieser Zeit, nicht weit von dem Dorf Die Ewige Freude, ein gewisser Ch’ang Wei, der Sohn eines hohen Magistraten. Er war ein höhnischer, ­tyrannischer und gemeiner Mensch. Stark durch die Macht, die ihm seine soziale Stellung gab, vertrödelte er seine Tage, indem er die Nachbarn plagte und ärgerte und arglose oder gehorsame Gemüter seinen unverschämten Ansprüchen dienstbar machte. Unter seinem Befehl stand Tag und Nacht eine Horde von Dienern und jungen Taugenichtsen, wild wie Wölfe, die furchtbare ­Streiche ausheckten und über das Land den Schatten ihrer Untaten warfen.

So geschah es, dass Ch’ang Wei eines Tages in eine Rauferei verwickelt und von einem Feind, der noch schrecklicher war als er, mitleidlos verprügelt wurde. Er verklagte den Feind bei Gericht, verlor aber den Prozess; denn sein Gegner hatte die Richter schon vorher bestochen. Gedemütigt und von diesem Rückschlag des Schicksals aus der Fassung gebracht, hatte sich Ch’ang Wei für einige Tage in seinem Landhaus eingeschlossen, mit vier oder fünf Dienern und einigen jungen Müßiggängern. Dieses Haus lag mitten im Dorf Die Ewige Freude und war nicht weit vom Garten des Tz’u Siên entfernt. Eines Morgens, kurz nach der Zeit des Frühstücks, bummelte Ch’ang Wei schon halb betrunken mit seinen Leuten durchs Dorf. Unversehens gerieten sie vor das Tor des Vaters Tz’u und hielten, überrascht von der Schönheit der über die Hecke drängenden Blütenzweige, in ihrem Weg inne. Gleichzeitig erschallten mehrere Stimmen:

»Wie reizend ist die Ecke! Wem gehört sie?«

»Es ist der Garten des Vaters Tz’u«, sagte ein Diener und fügte hinzu »der Garten des Blumennarren, wenn Ihr lieber wollt.«

»Ich hörte oft von diesem Tz’u Siên, der in meiner Nachbarschaft wohnt. Er soll ein geschickter Gärtner sein. Da ist er also! – Gehen wir in seinen Garten und werfen wir einen Blick hinein!«

»Der Alte lässt niemanden in seinen Garten treten«, sagte der Diener.

»Niemanden? Das gilt für die anderen! Wird er es wagen, einen Besucher wie mich hinauszusetzen? Klopf ans Tor«, befahl Ch’ang Wei.

Es war die Zeit der Pfingstrosen im Garten des Vaters Tz’u. Das morgendliche Begießen war beendet und fröhlich trank Vater Tz’u vor seinen Blumen, eine kleine Schale und hochgefüllte Früchteteller zu seinen Füßen. Eben hatte er die dritte Tasse an den Lippen, als er das Klopfen an der Pforte hörte. Die Schläge folgten sich, in ungeduldigem Takt; Tz’u stellte die Tasse auf den Boden und ging das Tor zu öffnen. Fünf oder sechs Männer erschienen vor seinem Auge und ihr Atem roch nach Wein.

»Sie kommen wegen der Blumen«, sagte sich der Vater Tz’u, und indem er den ungebetenen Besuchern den Eingang versperrte, fragte er:

»Was wünschen die Herren?«

»Schaut einmal diesen Alten an! Ich bin der Herr Ch’ang Wei, kennst du mich nicht? Das große Haus dort drüben gehört mir. – Man hat mir gesagt, dass dein Garten von schönen Blumen voll ist. Ich habe mich nur um ihretwillen herbemüht und will sie sehen.«

»Eure Gnaden mögen mich anhören«, sagte der Greis zu Ch’ang Wei. »Ich habe keine einzige wertvolle Blume gepflanzt. Hier stehen nur Pfirsich- und Aprikosenbäume, ihre Blüten sind schon verwelkt. Es gibt also nichts mehr zu sehen.«

Ch’ang Wei riss wütend die Augen auf:

»Dieser unverschämte Alte! Welche Wichtigkeit steckt in deinem Garten, dass du die Blumen vor mir verbergen willst? Und du behauptest, nichts zu haben? Geht denn dein Garten zugrunde, wenn man ihn ansieht?«

»Ich lüge nicht. Mein Garten hat keine Blumen mehr«, beharrte der Greis.

Ohne ihn länger anzuhören, reckte Ch’ang Wei den Arm und stieß den Alten mitten in die Brust. Vater Tz’u verlor das Gleichgewicht, schwankte: Der Durchgang wurde frei. Tz’u Siên lag am Boden und die Männer wälzten sich in den Garten. Tz’u, in seiner Machtlosigkeit, schloss das dornenbewachsene Tor und folgte den Eindringlingen in die Allee. Im Vorbeigehen hob er vorsichtig die Vase und die Teller auf, dann hielt er sich in Entfernung, schweigend und wachsam.

Laut wunderten sich die Besucher über die Üppigkeit der Sträucher und Blumen, vor allem...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2023
Übersetzer Richard B. Matzig
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Märchen / Sagen
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • alte Märchen • asiatische Märchen • China • China Märchen • Chinesische Drachen • Chinesische Geistergeschichten • Chinesische Kultur • Chinesische Legenden • Chinesische Literatur • chinesische Märchen auf deutsch • chinesische Mythen • chinesische Novellen • Chinesische Volksmärchen • eBooks • Feuergott • Fuchs • Geschichten aus China • Glückskind • gutter • Konfuzius • König • Kuhhirt • Lotos • Märchen aus China • Märchenbuch • Märchen der Welt • Märchen für Erwachsene • Märchenhaft • Märchensammlung • Märchenwelt Chinas • Martin Buber • Mondfee • Moral • Mulan • Neuerscheinung • Philosophie • Prinzessin • Tiger • Yangtsekiang • Zauber • Zauberfass
ISBN-10 3-641-30407-5 / 3641304075
ISBN-13 978-3-641-30407-2 / 9783641304072
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