Bitte lächeln! (eBook)
288 Seiten
Karl Blessing Verlag
978-3-641-27777-2 (ISBN)
Doch dann kommen Pandemie und Lockdown: Er wandert stundenlang durch ein leergefegtes New York City, in der Nase nur seinen eigenen Atem, und macht sich Gedanken darüber, wie Sexarbeiterinnen und Akupunkteure wohl die Quarantäne überstehen. Als sich die Welt langsam in einer neuen Realität wiederfindet und er wieder auf Tour geht, entdeckt Sedaris ein gespaltenes Amerika, dessen unterschiedliche Lager sich in Graffitis verewigen: Eat the Rich. Trump 2024. Black Lives Matter.
David Sedaris, geboren 1956 in Johnson City, New York, aufgewachsen in Raleigh, North Carolina, lebt in England. Er schreibt u. a. für den New Yorker und BBC Radio 4. Mit seinen Büchern Naked, Fuselfieber, Ich ein Tag sprechen hübsch und Schöner wird's nicht wurde er zum Bestsellerautor. Zuletzt erschienen im Blessing Verlag Das Leben ist kein Streichelzoo. Fiese Fabeln (2011), Sprechen wir über Eulen - und Diabetes (2013), Calypso (2018) und Bitte lächeln! (2023) sowie seine vielbeachteten Tagebücher Wer's findet, dem gehört's (2017) und Kleine Happen (2023).
Active Shooter
Es war Frühling, und meine Schwester Lisa und ich waren in ihrem winzigen Wagen unterwegs vom Flughafen in Greensboro, North Carolina, zu ihrem Haus in Winston-Salem. Ich hatte früh rausgemusst, um meinen Flug von Raleigh zu erwischen, aber sie war noch eine Stunde vor mir aufgestanden. »Ich mag es, um Punkt fünf Uhr früh bei Starbucks zu sein, wenn sie aufmachen«, sagte sie. »Übrigens bin ich dort vor einigen Monaten einer Dame mit einem Äffchen begegnet. Ich weiß nicht, was für eine Rasse es war, aber es war klein – nicht viel größer als eine Puppe –, und es trug ein pinkfarbenes Rüschenkleid. Einfach skandalös. Ich wollte zu der Frau hingehen und sie fragen: ›Was wollen Sie mit diesem Ding da machen, wenn Sie kein Interesse mehr daran haben?‹«
Wie viele Haustierbesitzer, die ich kenne, ist Lisa überzeugt, dass sich niemand so gut um ein Haustier zu kümmern weiß wie sie. »Schau bloß, wie der Kerl seinen Irish Setter an der Leine zerrt«, sagt sie und zeigt auf einen Mann, der einfach nur seinen Hund spazieren führt. Oder, falls der Hund nicht angeleint ist: »Der Beagle wird gleich von einem Auto angefahren, aber seinem Besitzer ist das offensichtlich egal.« Kein Cockerspaniel hat alle notwendigen Impfungen. Kein Vogel wird richtig gefüttert oder bekommt die Krallen anständig getrimmt.
»Wieso glaubst du, die Frau könnte das Interesse an ihrem Äffchen verlieren?«
Lisa sah mich mit einem Blick an, der bedeutete: Ein Äffchen – natürlich wird sie das Interesse daran verlieren, und sagte: »Ein Äffchen – natürlich wird sie das Interesse daran verlieren.«
Genau in dem Moment kamen wir an einer Werbetafel für einen Schießstand namens ProShots vorbei.
»Ich denke, da sollten wir hinfahren und ein Schießtraining machen«, sagte Lisa.
Und so fuhren wir am kommenden Nachmittag zum vereinbarten Termin um drei Uhr hin. Ich hatte angenommen, ein Schießstand wäre im Freien, aber tatsächlich befand er sich in einem Einkaufszentrum, neben einem Laden für Traktorzubehör. Drinnen gab es Glasvitrinen voller Waffen und eine Wand mit Handtaschen, in denen eine Frau einen zierlichen Revolver verstecken kann. Von dieser Marktnische hatte ich nichts gewusst, bis ich später bei Lisa im Internet Websites fand, auf denen Westen, T-Shirts, Jacken und alles Mögliche andere angeboten wurde, um darin Waffen zu verstecken. Eine Firma verkauft Boxershorts, die hinten ein Halfter haben und die sie »Compression Concealment Shorts« nennen, wobei mir der Ausdruck »Gunderpants« passender erscheint.
Lisa und mir gefiel es, uns im Laden umzusehen. ROSSI R352 – $349,77 stand auf einem Schild neben einer Pistole. In einem Geschäft für Bürobedarf hätte ich mich zu den Preisen äußern können, aber bei Waffen habe ich nicht die leiseste Ahnung. Genauso wenig wie bei den Preisen für Pinguine oder Melkmaschinen. Meine Erfahrung mit Waffen beschränkte sich auf Luftpistolen. Lisa hatte überhaupt keine Erfahrung, sodass wir vor Betreten der Schießanlage eine dreiviertelstündige Einweisung in den sicheren Umgang mit Waffen durch einen pensionierten Polizeioffizier aus Winston-Salem namens Lonnie bekamen, der Teilhaber des Unternehmens ist und ein firmeneigenes T-Shirt trug. Der Mann war etwa Anfang fünfzig, und seine fahlen Augenbrauen und die fast unsichtbare Drahtgestellbrille wurden von einer Baseballkappe mit dem Logo der Söldnerfirma Blackwater beschattet. Man würde jemanden wie ihn nicht unbedingt zum Freund wählen, aber man hätte nichts dagegen, ihn als Nachbarn zu haben. »Ich habe deine Einfahrt vom Schnee frei geschaufelt, während du noch geschlafen hast«, würde er vielleicht sagen. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Mir war nach etwas Bewegung.«
Im hinteren Teil des Ladens gab es einen Unterrichtsraum, und nachdem er uns nebeneinander an einen Tisch gesetzt hatte, nahm Lonnie auf einem Stuhl gegenüber Platz. »Das Erste, was ihr über Waffensicherheit wissen müsst, ist, dass die meisten Leute dumm sind. Ich meine nicht euch persönlich, sondern die Leute im Allgemeinen. Es gibt also ein paar Regeln zu beachten. Nummer eins: Geht immer davon aus, dass eine Waffe geladen ist.«
Lisa und ich wichen zurück, als er zwei Pistolen vor uns auf den Tisch legte. Eine war irgendeine Glock und die andere – die hübscher aussah – eine stupsnasige .38 Special.
»Und, sind die hier geladen?«, fragte er.
»Ich gehe davon aus«, antwortete Lisa.
»Gut aufgepasst«, sagte Lonnie.
Ich fand einmal eine Waffe, als ich in New York ein Apartment putzte. Sie befand sich unter dem Bett, wo normalerweise die Pornohefte liegen, eingewickelt in ein T-Shirt, und lag in meinem Schoß, bevor ich realisierte, was es war. Ich erstarrte, als handelte es sich um eine Bombe. Zuletzt schob ich sie vorsichtig an ihren Platz zurück, während ich überlegte, wie ihr Besitzer, dem ich nie begegnet war, wohl aussehen mochte.
Ich hatte mir immer vorgestellt, Typen mit Bart besäßen Waffen. Als ich mich umhörte, erfuhr ich allerdings, dass die Väter von bärtigen Typen Waffen besaßen. Die Trefferquote war verblüffend. Einmal traf ich einen Amerikaner asiatischer Herkunft mit einem äußerst dürftigen Bärtchen – nicht mehr als ein Dutzend wimpernlange Haare am Kinn –, und als ich mutmaßte, sein Vater habe wohl Munition, aber keine Waffe, entgegnete er: »Oh mein Gott. Woher wussten Sie das?«
Das war zu der Zeit, bevor Bärte wieder in Mode kamen und sich jeder einen stehen ließ. Heute denke ich, dass Typen mit Baseballkappe, auf deren Schirm eine Sonnenbrille thront, eine Waffe tragen, wenn – und das ist wichtig – die Gläser der Brille verspiegelt sind oder wie bei einem Tequila Sunrise von Orange in Gelb übergehen. Was Frauen angeht, habe ich nicht die geringste Ahnung.
Lonnie war inzwischen weitergegangen und zeigte uns, wie man eine Waffe in die Hand nimmt. Wie die meisten Leute, die mit Wasserpistolen und Gewehren mit Plastikpfeilen groß geworden waren, griffen wir automatisch nach dem Abzug, ein Tabu im Großen Buch der Sicherheit. »Diese Pistolen geben keinen Schuss ab, wenn diese kleine Metallzunge nicht eingedrückt wird«, sagte Lonnie.
»Sie können nicht losgehen, wenn man sie fallen lässt?«, fragte ich.
»Ausgeschlossen«, erklärte er mir. »Fast nie. Na los, David, nimm die Glock in die Hand.«
Ich nahm all meinen Mut zusammen und folgte der Aufforderung.
»Gut gemacht!«
Als Lisa an der Reihe war, ging ihr Finger sofort zum Abzug.
»Durchgefallen«, sagte Lonnie zu ihr. »Okay, also, David, du nimmst jetzt die Achtunddreißiger, und, Lisa, du schnappst dir die Glock.«
Wir waren gerade bei Lektion zwei angelangt – richte deine Waffe niemals auf eine andere Person, es sei denn, du willst sie töten oder verletzen –, als Lisa erklärte, warum sie an dem Schießtraining teilnehme: »Angenommen, jemand versucht, auf mich zu schießen? Und zufällig lässt er die Waffe fallen? Dann will ich wissen, wie ich damit umzugehen habe.«
»Sehr gut, ein sehr vernünftiger Grund«, sagte Lonnie. »Ich sehe, du bist eine, die vorausdenkt.«
Oh, hast du eine Ahnung, dachte ich.
Unsere Sicherheitseinweisung dauerte etwas länger als vorgesehen, aber wir hatten immer noch zehn Minuten Zeit zum Schießen, was rückblickend mehr als genug war. Lisa stocksteif mit einer geladenen Glock in der Hand dastehen zu sehen, war für mich nicht weniger überraschend, als stünde sie mit schwingendem Taktstock vor einem Orchester. Ihr erster Schuss traf das Ziel – die lebensgroße Silhouette eines Mannes – und verfehlte das Herz, das Zentrum der Zielscheibe, nur um wenige Zentimeter.
Woher hat sie das?, fragte ich mich.
»Braves Mädchen!«, sagte Lonnie. »Jetzt stell die Füße etwas weiter auseinander und versuche es noch einmal.«
Ihr zweiter Schuss war noch näher dran.
»Lisa, du bist ein Naturtalent«, sagte Lonnie. »Okay, Mike, jetzt du.«
Ich sah mich verwirrt um. »Verzeihung?«
Er gab mir die .38er. »Du bist doch zum Schießen hergekommen, oder?«
Ich nahm die Pistole, und von dem Moment bis zum Schluss war mein Name Mike, was mehr als bloß ein wenig entmutigend war. Nicht das gewohnte »Moment mal – der David Sedaris?« zu hören, das ich inzwischen bei einer Begegnung mit einem Fremden erwarte, war schlimm genug, aber musste ich ausgerechnet ein Mike sein? Ich dachte an das eine Mal, als eine Frau mich in einer Hotellobby ansprach. »Entschuldigen Sie«, sagte sie, »aber sind Sie wegen des Treffens des Lions Club hier?« Das ist der Mike unter den internationalen Organisationen.
Den Namen meiner Schwester vergaß Lonnie nicht – ganz im Gegenteil, er konnte ihn gar nicht oft genug sagen. »Guter Schuss, Lisa! Und jetzt schließ beim Schuss das linke Auge.« »Was meinst du, Lisa, willst du es einmal mit der Achtunddreißiger probieren?«
»Muss ich?«, fragte sie. Tatsächlich hatte sie – hatten wir beide – schon jetzt keine Lust mehr. Bei meinem letzten Schuss dachte ich an ein Paar aus Odessa, Texas. Tom repariert Flugzeuge, deshalb leben er und Randy gleich am Flughafen, in einem Fertighaus neben dem Hangar, in dem er arbeitet. Eines späten Abends durchbrach ein großer, gestört wirkender Mann, der sich als ausgerissener Insasse einer psychiatrischen Anstalt herausstellte, mit einem Wagen den das Gelände umgebenden Maschendrahtzaun und klopfte an ihre Tür. »Ich weiß,...
Erscheint lt. Verlag | 30.8.2023 |
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Übersetzer | Georg Deggerich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Happy-Go-Lucky |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2023 • Black lives matter • Dysfunktionale Familie • eBooks • Gesellschaftskritik • Humor • Identitätsdebatte • Kurzgeschichten • lustig • lustige • Neuerscheinung • New York • New York City • Pandemie • Roman • Romane • Satire • Trump-Präsidentschaft • USA |
ISBN-10 | 3-641-27777-9 / 3641277779 |
ISBN-13 | 978-3-641-27777-2 / 9783641277772 |
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