Kaltfront (eBook)
160 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-26510-6 (ISBN)
Wenn ein Vater das Gesetz schützen soll, doch stattdessen das größte Unrecht geschehen lässt. Wenn sich ein Mann bei dem Versuch, sein Leben zu bestreiten, durch sein Schweigen schuldig macht. Wenn ein Kind in einer Gesellschaft aufwächst, in der Mitgefühl bestraft wird.
Die beinahe märchenhaft anmutenden Kurzgeschichten in »Kaltfront« blicken tief in die Seele der Türkei. Mitfühlend und liebevoll erzählt Demirta? von den Ärmsten der Gesellschaft: den Hilfsarbeitern, den Busfahrern, den Straßendieben - sie alle eint der Wunsch nach einem glücklichen Leben und die schiere Ausweglosigkeit ihrer Situation.
Selahattin Demirta? gehört zu den wichtigsten politischen Denkern der Türkei. Er wurde für den Friedensnobelpreis nominiert und erhielt den Menschenrechtspreis der Stadt Weimar.
Selahattin Demirta?, Jahrgang 1973, war bis Februar 2018 Co-Vorsitzender der Oppositionspartei HDP, der Demokratischen Partei der Völker, die sich für eine pluralistische Türkei einsetzt. Der kurdische Politiker ist einer der wichtigsten Gegenspieler Erdo?ans und wird seit November 2016 festgehalten. Im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne hat Demirta? angefangen zu schreiben. »Morgengrauen«, sein erster Erzählungsband, wurde zum Bestseller. Das Buch war für den renommierten französischen Prix Médicis étranger nominiert und mit dem PEN Translates Preis sowie dem Montluc Resistance and Liberty Preis ausgezeichnet. Selahattin Demirta? wurde im Frühjahr 2019 für den Friedensnobelpreis nominiert.
DAS RAD DREHT SICH
Das Knirschen der Jeep-Reifen auf dem schneebedeckten Asphalt vermischte sich mit dem Rauschen des beharrlich kalt wehenden Gebläses und der leise krächzenden Radiomusik. Salih bekam nichts davon mit. Er klammerte sich fester ans Lenkrad, je mühsamer er auf der Straße vorankam. Nach der Landung in Erzurum hatte er am Flughafen den Jeep gemietet, und seither war höchstens eine halbe Stunde vergangen. Sich im Dezember in dieser Gegend in ein Bergdorf aufzumachen, war äußerst unvernünftig, wie ihm jedermann bestätigt hätte. Seine Frau und sein Sohn hatten ihn von der Reise abbringen wollen, aber es war nicht mit ihm zu reden gewesen. Schließlich hatte er den erstbesten Flug von Istanbul nach Erzurum gebucht. Auf die Frage nach dem Grund für seine Reise hatte er behauptet, er müsse in Erzurum an einer wichtigen Gerichtsverhandlung teilnehmen. Seit Wochen war er wortkarg gewesen, unruhig, hatte nächtelang wach gelegen, was seiner Frau Süheyla Sorgen bereitete. Doch wie sehr sie auch auf ihn eindrang, es war aus ihm nichts herauszubringen gewesen. Letztlich führte sie den Zustand ihres Mannes darauf zurück, dass ihr Sohn Kerem einen Monat zuvor mit dem Auto verunglückt war. Salim war in seiner Anwaltskanzlei gewesen, umgeben von Aktenbergen und zu unterzeichnenden Dokumenten, als er davon erfuhr. Kaum vernahm er die Nachricht, da fasste er sich an die Brust und brach zusammen. Kollegen brachten ihn sofort ins Krankenhaus, wo sich herausstellte, dass er nicht etwa einen Herzinfarkt erlitten hatte, sondern durch den Schock in Ohnmacht gefallen war. Als er wieder zu sich kam, eilte er sofort zu der Intensivstation, auf der sein Sohn lag, und durfte ihn dort wenigstens kurz besuchen. Als er mit ansah, wie sein knapp mit dem Leben davongekommener Junge am ganzen Körper verbunden in seinem Krankenbett lag, wand er sich innerlich bei dem fürchterlichen Gedanken, wie es sein musste, sein Kind zu verlieren. Und noch etwas anderes nistete sich in ihm ein, wenn ihm das auch nicht sofort bewusst wurde. Beim Anblick von Kerems verletztem Gesicht und seiner armseligen Miene regten sich Gewissensbisse in ihm, die er seit Jahren zu verdrängen suchte. Eine Erinnerung, die er am liebsten vergessen hätte, so hätte er es wohl ausgedrückt, wenn ihn jemand danach gefragt hätte. Es machte sich in ihm ein Unbehagen breit, das ihn immer mehr quälte, bis er weder arbeiten noch schlafen konnte und nur noch unruhig im Haus herumwanderte. Eines Tages packte er hastig ein paar Sachen, sagte nur, »Ich muss fort«, und flog nach Erzurum. Nach seiner Ankunft rief er seine Frau an, verkündete ihr, er müsse in Erzurum übernachten und könne erst am folgenden Tag nach Istanbul zurück. Dann mietete er den Jeep und machte sich auf den Weg nach Karayazı.
Als er aus der Stadt heraus war, kam ein leichter Schneesturm auf. Die Hügel und Berge ringsumher waren schneebedeckt. Schnee, so weit das Auge reichte. Von ein paar schwarzen Felsen abgesehen sah man nichts als Weiß. Nur alle paar Kilometer zeugten an den Hang geschmiegte Bauernhäuser von menschlichem Leben. Die Straßendecke lag immer tiefer unter Schnee, und kilometerweit begegnete Salim keinem einzigen Fahrzeug. Wer nicht wirklich musste, war bei solch einem Wetter nicht unterwegs. Salim aber hätte es nicht ertragen, auch nur eine Stunde länger zu warten. Er musste noch am selben Tag in jenes Dorf und sich dort seiner Vergangenheit stellen, seinem Gewissen, sich selbst. Bevor das nicht geschah, würde er keine Ruhe finden, das war ihm längst klar. Was er so lange hatte unterdrücken und beiseiteschieben können, hatte sich nun an die Oberfläche gebohrt, stand ihm so deutlich vor Augen, dass es seinen gesamten Seelenhaushalt erschütterte. Ohne die Furcht um seinen Sohn wäre es vermutlich nie so weit gekommen.
Gegen Mittag sah er die Kreisstadt Karayazı vor sich liegen. Der Schneefall hatte nachgelassen, und die herumwirbelnden Flocken schmolzen augenblicklich beim Auftreffen auf die Windschutzscheibe. Salim hängte sich hinter einen Traktor, der mit einem Schneeschild die Hauptstraße freischaufelte. So fuhr er langsam ins Zentrum des Städtchens hinein. Nicht weniger als fünfundzwanzig Jahre war es her, dass er das letzte Mal hier gewesen war, doch schien sich in der Zwischenzeit nichts verändert zu haben. Das gleiche Zentrum, die gleichen Läden, das gleiche Karayazı unter dem gleichen Himmel. Sogar die Menschen schienen dieselben zu sein. Als wäre das Karayazı, das er vor fünfundzwanzig Jahren an einem verschneiten Wintertag verlassen hatte, eingefroren worden und würde sich erst jetzt, bei seiner neuerlichen Ankunft, wieder zu regen beginnen. Die Ladenbesitzer kehrten die Eingänge zu ihren Geschäften frei, und außer wenigen in Mäntel und Tücher gehüllten Menschen war niemand unterwegs. Die Kaffeehäuser am Hauptplatz waren dagegen voll wie eh und je. An einem davon fuhr Salim bewusst langsam vorbei, um hineinspähen zu können. Eine Zeit lang hatte er gern neben dem warmen Ofen gesessen und mit den Einheimischen Domino gespielt, doch nachdem der Landrat und der Polizeichef ihm davon abrieten, hatte er es unterlassen. Damals war er noch nicht der ehrwürdige Staatsanwalt von heute gewesen, sondern ein junger idealistischer Beamter an seinem ersten Einsatzort. Innerhalb kurzer Zeit hatte er sich ziemliches Ansehen verschafft, und womöglich erinnerte sich noch so mancher an ihn. Doch selbst wem sein Name etwas sagte, hätte ihn schwer erkannt, war er doch sichtlich gealtert. Eingefallene Wangen, schütteres Haar, ein von den Jahren gezeichnetes Gesicht. Damals trug er zudem noch keinen Bart. Er hatte sich den Leuten als frischgebackener Staatsanwalt von gerade mal siebenundzwanzig Jahren präsentiert. Nun fragte er sich vor allem, ob wohl Hasan Sürgücü ihn wiedererkennen würde. Bestimmt genauso wenig wie die anderen, dachte er, nach so vielen Jahren. Dann würde er sich eben vorstellen und alles der Reihe nach erzählen, sonst würde er sich von jener Last nicht befreien können.
Als er am Landratsamt vorbeikam, hielt er an. Es war noch dasselbe Haus, nur Dach und Verputz waren erneuert worden. Der Zierbrunnen im Innenhof, die Atatürk-Büste, auf dem Sockel die Inschrift »Wie glücklich, wer sich Türke nennen darf« … alles war wie damals. Lange blickte Salim auf den verschneiten Hof und sann darüber nach, was in dem Gebäude einst im Namen von Staat und Volk getrieben worden war und wie er selbst sich daran beteiligt hatte. Nun fiel ihm auf, dass die bescheidene Gesundheitsstation rechter Hand durch ein kleines Krankenhaus ersetzt worden war. Die Polizeizentrale stand unverändert da, noch immer prangte am Eingang der Spruch »Jeder Türke kommt als Soldat auf die Welt«.
Er parkte den Jeep, holte seine Daunenjacke vom Rücksitz und stieg aus. Er war sich nicht mehr sicher, wie er in das Dorf gelangen konnte. Ausgerechnet das fiel ihm nicht mehr ein, obwohl er sich ansonsten an alle Details erinnern konnte; sein Gedächtnis spielte ihm da wirklich einen Streich. Schließlich ging er zu dem Polizisten, der vor dem Landratsamt Wache schob. »Die Straßenführung muss sich irgendwie geändert haben«, sagte er und fragte nach dem Weg zum Dorf Yüksekkaya. Der Polizist wusste es nicht genau, riet ihm aber bei dem Wetter von einer Weiterreise ab. Salim gab an, er sei Anwalt und müsse unbedingt in das Dorf. Da zuckte der Polizist die Achseln, erkundigte sich per Sprechfunk nach dem genauen Weg und beschrieb ihn Salim. Von der Kreisstadt aus waren es fünfundfünfzig Kilometer, unter normalen Umständen bedeutete das eine Stunde Fahrtzeit. Auf der schneebedeckten Bergstraße würde er jedoch nur mit Ketten vorwärtskommen und musste mit drei, vier Stunden rechnen. Dennoch zögerte er keinen Augenblick. Weder wollte er in der Kreisstadt übernachten noch etwas essen oder mit irgendjemandem reden. So holte er die Schneeketten aus dem Kofferraum und brachte sie an. Die Sache musste unbedingt am selben Tag über die Bühne gehen. Er musste Hasan Sürgücü sehen, ihm alles erzählen und sein Gewissen erleichtern. Je mehr Abstand er zwischen sich und die Kreisstadt brachte, umso erleichterter fühlte er sich. Endlich würde er sich seiner Vergangenheit stellen.
Die Räder des Jeeps versanken auf der Bergstraße bis zur Hälfte im Schnee, und trotz der Ketten und des Vierradantriebs rutschten sie manchmal weg. Um nicht in einen Abgrund zu stürzen, klammerte Salim sich immer fester ans Lenkrad. Die Straße war nicht mehr von Wald umgeben, sondern von vereinzelten Bäumen, die am steilen Abhang kleinen weißen Hügeln gleichend emporragten. Salim kam an drei Dörfern vorbei, und nach drei Stunden hatte er noch immer eine Stunde Fahrzeit vor sich. Je weiter er kam, umso heftiger schneite es. Die herumwirbelnden Flocken kündeten von einem Schneesturm in höheren Lagen. Salim konnte kaum noch etwas erkennen, und als schließlich ein steiler Weg von der Straße abbog, hielt er an. Er stieg aus, stapfte zu einem verschneiten Wegweiser und befreite ihn mit dem Jackenärmel vom Schnee. Auf dem verrosteten, von Schüssen durchlöcherten Schild stand, gerade noch leserlich, »Yüksekkaya 8 km«. Er kämpfte sich zum Auto zurück und bog auf den Weg ab, der sich zum Dorf hinaufschlängelte. Eine halbe Stunde später erblickte er in der Dämmerung die Silhouette des Dorfes. Die einzelnen Häuser waren nur noch am schwachen gelben Lichtschein auszumachen, der aus ihren Fenstern drang. Auf dem letzten Abschnitt der Strecke ging es nun sehr steil hinauf. Salim nahm sich vor, sie in einem Schwung zu bewältigen, und ließ den Motor aufheulen. Aber schon nach wenigen Metern drehten die Räder durch, und das Auto begann, auf den Abgrund zuzurutschen. Ein paar Versuche später gab Salim auf. Er holte seinen kleinen Koffer aus...
Erscheint lt. Verlag | 28.6.2023 |
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Übersetzer | Gerhard Meier |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Devran |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2023 • Demirtas • Deutschlandmärchen • Devran • eBooks • Erdogan • Friedensnobelpreis • Gefängnis • Gesellschaftskritik • HDP • kilicdaroglu • Kurden • Kurzgeschichten • Menschenrechtsanwalt • Neuerscheinung • Terrorismus • Türkei • Türkische Literatur • Türkischer Autor • Wahlen Türkei • Widerstand |
ISBN-10 | 3-641-26510-X / 364126510X |
ISBN-13 | 978-3-641-26510-6 / 9783641265106 |
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