H.P. Lovecraft, Der Schatten über Innsmouth. Horrorgeschichten neu übersetzt von Florian F. Marzin (eBook)
352 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-30509-3 (ISBN)
Ein junger Mann begibt sich auf eine Reise durch Neuengland. Arkham ist sein Ziel, doch Zufall und Neugierde verschlagen ihn nach Innsmouth, eine absonderliche, heruntergekommene Hafenstadt, die auf keiner Karte verzeichnet ist. Innsmouth wird gemieden, nicht zuletzt wegen des seltsamen Kults, dem seine Bewohner anhängen. Der Erzähler verbringt nur einige Stunden bei ihnen - das Grauen aber begleitet ihn noch lange. Dieser Band vereint fünf klassische Lovecraft-Erzählungen aus dem Kreis des Cthulhu-Mythos: »Der Schatten über Innsmouth«, »Der Flüsterer im Dunkeln«, »Das Ding auf der Schwelle«, »Die Farbe aus dem All« und »Der Schatten aus der Zeit«.
Howard Phillips Lovecraft wurde am 20. August 1890 in Providence, Rhode Island, geboren und verbrachte sein ganzes Leben in New England. 1916 veröffentlichte er seine erste Kurzgeschichte, doch zu Lebzeiten blieb er als Schriftsteller verkannt. Erst lange nach seinem Tod am 15. März 1937 erlangte Lovecraft, vor allem durch bekanntere Kollegen wie Robert Bloch, Fritz Leiber, Stephen King, Joe R. Landsdale, Neil Gaiman und Alan Moore, seinen Status als Kultautor. Vor allem seine Geschichten rund um die Großen Alten, gottgleiche, grausame Wesen, die jeden Menschen in den Wahnsinn treiben, der ihnen auf die Spur kommt, fasziniert Fans und Horror-Schriftsteller seit Jahrzehnten und bilden die Basis für unzählige Romane, Spiele und Filme.
Der Flüsterer im Dunkeln
I
Denken Sie immer daran, dass ich bis zum Schluss nie etwas wirklich Schreckliches gesehen habe. Zu behaupten, ein mentaler Schock hätte meine Schlussfolgerungen ausgelöst – jenes letzte bisschen, das mich aus dem verlassenen Gehöft der Akeleys und mit einem gekaperten Auto nachts durch die wild aufragenden Hügel von Vermont hetzen ließ –, hieße, die nackten Tatsachen meiner letzten Erfahrung zu ignorieren. Ungeachtet meiner weitgehenden Kenntnis der Informationen und Spekulationen von Henry Akeley und der Dinge, die ich sah und hörte, und der unleugbaren Lebhaftigkeit der Erscheinung, mit der diese Dinge auf mich einwirkten, kann ich dennoch nicht beweisen, ob ich mich bei meinen schrecklichen Schlussfolgerungen irre oder nicht. Denn schlussendlich beweist Akeleys Verschwinden gar nichts. Die Leute fanden in seinem Haus nichts Ungewöhnliches, wenn man von den Einschusslöchern außen und innen absieht. Es war, als wäre er einfach für einen Streifzug durch die Hügel weggegangen und nicht zurückgekommen. Es gab noch nicht einmal Anzeichen, dass ein Besucher dort gewesen war oder dass diese schrecklichen Zylinder und Apparaturen sich jemals im Arbeitszimmer befunden hatten. Ebenfalls ohne Bedeutung ist, dass er zwischen den dicht gedrängten, grünen Hügeln und dem beständigen Plätschern der Bäche, in das hinein er geboren wurde und in dem er aufgewachsen war, Todesangst gehabt hatte, denn Tausende sind Opfer solcher morbiden Ängste. Außerdem kann seine exzentrische Art leicht als Erklärung für seine merkwürdigen Handlungen und seine Befürchtungen in Zusammenhang mit diesen herhalten.
Die ganze Angelegenheit, soweit sie mich betraf, begann mit den historischen und beispiellosen Überschwemmungen am 3. November 1927 in Vermont. Damals wie heute war ich ein Lehrender im Fach Literatur an der Miskatonic-Universität in Arkham, Massachusetts, und ein begeisterter Amateurforscher der Volkskunde von Neuengland. Kurz nach den Überschwemmungen, zwischen verschiedenen Berichten von den Nöten, dem Leiden und der Organisation von Hilfen, die die Zeitungen füllten, erschienen bestimmte abseitige Geschichten von Dingen, die man in den angeschwollenen Flüssen treibend gefunden hatte, sodass viele meiner Freunde sich in merkwürdigen Diskussionen ergingen und mich fragten, ob ich nicht etwas Licht in die Angelegenheit bringen könnte. Ich fühlte mich geschmeichelt, dass meine volkskundlichen Studien so ernst genommen wurden, und tat mein Bestes, um die wilden, verschwommenen Geschichten, die eindeutig altem, ländlichem Aberglauben entsprangen, kleinzureden. Es erheiterte mich, dass einige gebildete Leute darauf bestanden, dass etwas Wahres an dem Absonderlichen sein sollte und verdrehte Tatsachen hinter den Gerüchten stehen könnten.
Die Berichte, die mir zur Kenntnis kamen, bestanden zum größten Teil aus Zeitungsausschnitten, doch eine dieser »Schauergeschichten« war ein mündlicher Bericht, der einem meiner Freunde in einem Brief von seiner Mutter aus Hardwick, Vermont, übermittelt wurde. Die Art der beschriebenen Objekte war in allen Fällen im Wesentlichen gleich, doch schienen sie auf drei unterschiedliche Ereignisse zurückzugehen – eins stand in Verbindung mit dem Winooski River in der Nähe von Montpelier, ein weiteres mit dem West River in Windham County jenseits von Newfane und das dritte konzentrierte sich auf das Gebiet Passumpsic im Caledonia County oberhalb von Lyndonville. Natürlich erwähnten die kursierenden Geschichten auch andere Orte, doch bei genauer Analyse schienen alle auf diese drei zurückzugehen. In allen Fällen berichtete das Landvolk von Sichtungen eines oder mehrerer sehr merkwürdiger und verstörender Objekte in den reißenden Fluten, die von den einsamen Hügeln herabströmten, und eine weit verbreitete Tendenz entstand, diese Sichtungen mit primitiven, schon halb vergessenen Legenden in Verbindung zu bringen, die von alten Menschen bei dieser Gelegenheit wieder ins Bewusstsein gebracht wurden.
Die Leute glaubten, organische Formen zu erkennen, die nichts ähnelten, was sie jemals zuvor erblickt hatten. Natürlich gab es viele menschliche Körper, die von den Flüssen in jener tragischen Zeit angeschwemmt wurden, doch jene, die jene seltsamen Gestalten beschrieben, waren sich sehr sicher, dass diese, trotz einiger oberflächlichen Merkmale wie Größe und allgemeiner Erscheinung, nicht menschlich waren. Auch, so sagten die Zeugen, konnten es keine in Vermont bekannten Tiere sein. Es waren rosafarbene Objekte, ungefähr knapp einen Meter lang und mit schalentierartigen Körpern, die mit einem großen Paar Rückenflossen oder Membranflügeln und mehreren Gruppen von zusammenhängenden Gliedmaßen ausgestattet waren, sowie an der Stelle, wo sich normalerweise der Kopf befand, eine Art von verschlungenem Ellipsoiden hatten, auf denen sich eine große Anzahl von sehr kurzen Fühlern befand. Es war wirklich erstaunlich, wie die Berichte aus unterschiedlichen Quellen übereinstimmten, doch wenn man den Umstand in Betracht zog, dass die alten Legenden, die in der gesamten Gegend präsent waren, ein abstruses, lebhaftes Bild in der Fantasie der Zeugen hervorgerufen hatten, wurden die wundersamen Eindrücke doch relativiert. Ich war davon überzeugt – bei sämtlichen Zeugen handelte es sich um naives und einfaches Landvolk –, dass es in allen Fällen zerschmetterte und aufgedunsene menschliche Körper oder Vieh von den Farmen war, das in den reißenden Fluten trieb, und die verschwommene Erinnerung an alte Legenden diese beklagenswerten Objekte mit fantastischen Attributen versah.
Diese alten Erzählungen, verschwommen, schwer zu fassen und von der heutigen Generation fast vergessen, waren äußerst bemerkenswert und gingen eindeutig auf den Einfluss noch älterer indianischer Vorbilder zurück. Obwohl ich nie in Vermont gewesen war, kannte ich diese Erzählungen durch die überaus seltene Monografie von Eli Davenport, die von den ältesten Bewohnern des Staates mündlich tradiertes Material aus der Zeit vor 1839 enthält. Mehr noch, dieses Material stimmte eng mit Erzählungen überein, die ich selbst von älteren Landleuten in den Bergen von New Hampshire gehört hatte. Kurz zusammengefasst deutete es auf eine verborgene Rasse von monströsen Wesen hin, die zwischen den abgelegeneren Bergen lauerte – in den dichten Wäldern der höchsten Gipfel und den dunklen Tälern, wo die Flüsse aus unbekannten Quellen gespeist werden. Die Wesen sind nur selten gesehen worden, doch einzelne Menschen, die weiter als andere die Berghänge erklommen oder in die Tiefen besonders steiler Schluchten, die selbst von den Wölfen gemieden wurden, hinabstiegen, haben von Beweisen ihrer Existenz berichtet.
Diese Beweise waren Fuß- oder Klauenspuren im Schlamm von Bachläufen und auf Lichtungen und seltsame Steinkreise, die nicht so aussahen, als seien sie auf natürliche Weise entstanden, und um die herum das Gras niedergetrampelt war. Auch gab es in den Hügeln eine Anzahl von Höhlen von beachtlicher Tiefe, deren Eingänge auf eine Weise von Felsen verschlossen waren, die man kaum als zufällig bezeichnen konnte, und vor diesen eine ungewöhnlich große Anzahl von merkwürdigen Spuren, die sowohl hin als auch weg von ihnen führten – doch die Richtung der Spuren konnte nur vermutet werden. Und am schlimmsten waren die Dinge, die abenteuerhungrige Leute sehr selten im Dämmerlicht weit abgelegener Täler und in ausgedehnten, dichten Wäldern weit jenseits der üblichen Wanderrouten gesehen hatten.
Ich hätte mich viel wohler gefühlt, wenn die verstreuten Berichte von solchen Dingen nicht so gut zusammengepasst hätten. Aber tatsächlich stimmten all diese Gerüchte in vielen Punkten überein. Sie beteuerten, dass diese Wesen eine Art von großen, hellroten Krabben mit vielen Beinpaaren und zwei großen fledermausartigen Flügeln auf dem Rücken seien. Manchmal liefen sie auf allen ihren Beinen, manchmal nur auf dem hintersten Paar, um mit den anderen große, unbestimmbare Objekte zu transportieren. Einmal hatte man eine beachtliche Anzahl von ihnen beobachtet, wobei ein Teil von ihnen in organisierter Dreierformation durch einen flachen Waldbach watete. Bei einer anderen Gelegenheit hatte man eins dieser Wesen fliegen gesehen – es hatte sich nachts vom Gipfel eines kahlen, einsamen Hügels in die Lüfte erhoben und seine großen, schlagenden Flügel waren für einen kurzen Moment als Silhouette gegen den Vollmond zu sehen gewesen.
Diese Wesen schienen im Prinzip die Menschheit in Ruhe zu lassen, obwohl sie von Zeit zu Zeit für das Verschwinden von zu wagemutigen Personen verantwortlich gemacht wurden – besonders von Personen, die ihre Häuser zu nahe an gewisse Täler oder zu hoch in bestimmte Berge gebaut hatten. Viele Gegenden gerieten in den Ruf, ungeeignet zur Besiedlung zu sein, und dieser Ruf blieb auch bestehen, lange nachdem der Grund dafür schon in Vergessenheit geraten war. Die Menschen schauten mit Schaudern zu einigen der in der Nähe liegenden Bergmassive auf, selbst wenn sie sich nicht daran erinnern konnten, wie viele Siedler dort an den unteren Hängen dieser finsteren, grünen Wächter verschwunden und wie viele Farmhäuser niedergebrannt waren.
Nach den Aussagen der ältesten Legenden schienen diese Wesen nur solche Menschen angegriffen zu haben, die ihr Gebiet betraten; es gab aber spätere Berichte, die von ihrer Neugierde gegenüber den Menschen sprechen und ihren Versuchen, geheime Außenposten in der menschlichen Welt einzurichten. Es gab Erzählungen von seltsamen Krallenspuren, die man am Morgen unter den Fenstern von Bauernhäusern gefunden hatte, und vom gelegentlichen Verschwinden von Personen außerhalb der...
Erscheint lt. Verlag | 28.6.2023 |
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Übersetzer | Florian F. Marzin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Shadow Over Innsmouth |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2023 • amerikanischer Schriftsteller • Berge des Wahnsinns • Booktok • Cthulhu • Cthulhus Ruf • Das Grauen von Dunwich • Dracula • eBooks • Edgar Allan Poe • Fantasy • film memory • Frankenstein • Ghoul • Grusel • Gruselgeschichten • Horror • horror bestseller • horror buch • Horror Bücher • Horrorklassiker • Horrorliteratur • Howard Phillips Lovecraft • Inspiration Alien • Inspiration Science Fiction • Lovecraft Country • Mythosgeschichten • Neuerscheinung • Phantastik • Phantastische Literatur • Schauerroman • Schriftsteller klassische Science Fiction • Science Fiction • Stephen King • Traumwelten • Verfilmung Memory |
ISBN-10 | 3-641-30509-8 / 3641305098 |
ISBN-13 | 978-3-641-30509-3 / 9783641305093 |
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