Schmales Land (eBook)
416 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31129-9 (ISBN)
Christine Dwyer Hickey, geboren 1958 in Dublin, ist Autorin und Dramatikerin. Sie schreibt Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke, ihre Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin lehrt sie Kreatives Schreiben. Für ihre Romane war sie u. a. für den Orange Prize und den Prix L'Européen de Littérature nominiert, für Schmales Land wurde sie mit dem Walter Scott Prize und dem Dalkey Literary Award ausgezeichnet.
Christine Dwyer Hickey, geboren 1958 in Dublin, ist Autorin und Dramatikerin. Sie schreibt Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke, ihre Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin lehrt sie Kreatives Schreiben. Für ihre Romane war sie u. a. für den Orange Prize und den Prix L'Européen de Littérature nominiert, für Schmales Land wurde sie mit dem Walter Scott Prize und dem Dalkey Literary Award ausgezeichnet.
Kriegsbringer
1
Oben an der Treppe zum Bahnsteig will der Junge nicht weiter, und die Frau, die an ihm zerrt, zerrt noch mehr. Der Junge rebelliert, diesmal, indem er in die Hocke geht und sein ganzes Gewicht in die Fersen stemmt. Die Frau hält kurz inne, dann fährt sie herum.
»Was denn? Was ist denn jetzt wieder? Was?«
Sie dreht sich so schnell, dass ihr Korb am nackten Bein des Jungen entlangschrammt. Ein langer roter Striemen erscheint auf der Haut. Das Bein zuckt, der Junge aber gibt keinen Piep von sich. Er mustert das Bein, den Korb und zuletzt sie. Er entwindet sich seitlich und lässt den Griff seines Koffers los.
»Ich fahr nicht …«, beginnt er.
»Du fährst nicht? Was soll das heißen, du fährst nicht?«
»Ich mag nicht –«
»Du magst nicht? Was magst du denn jetzt nicht?«
Es ist nicht das erste Mal, dass sie genau hier Streit haben. Zum letzten Mal war das vor zwei Jahren, im Sommer 1948, als sie ihn kurz hatte stehen lassen, um am Schalter die Fahrkarten zu kaufen, und er weggelaufen war und mitten in der Halle des Grand Central den blanken braunen Koffer zurückließ, den Harry ihm extra gekauft hatte. Weit war er damals nicht gekommen. Er war noch nicht so gewieft, gleich den nächsten Ausgang zu suchen, und hatte noch zu viel Bammel vor Aufzügen, Rolltreppen, ja allem, was zu Unbekanntem oder Unüberschaubarem führte. Also war er einfach losgeflitzt und hatte Haken durchs Gedränge geschlagen. Kaum hatte sie sein Verschwinden gemeldet, da hatte der Cop ihn schon wieder eingefangen und zu ihr unter der Uhr mit den vier Gesichtern zurückgeschleift.
»Ihr Kind?«, fragte der Cop.
Und sie hatte genickt, weil sie nicht erst mit der ganzen leidigen Geschichte anfangen oder gar gegen sein Geflenne anschreien wollte.
Damals hatte sie die Beherrschung verloren, hatte dem Jungen eine geschmiert – das erste und einzige Mal, dass ihr das passierte –, hatte die Fahrtkarten in tausend Fetzen gerissen, ihm die Fitzel ins Gesicht geschleudert und ihn im Beisein des Cops angeherrscht: »Zufrieden? Hast du, was du willst? Da nehme ich mir einen ganzen Tag frei, um mit dir bis nach Boston im Zug mitzufahren. Einen ganzen Tag, an dem ich dann allein wieder zurückmuss, und so dankst du mir das. Na, dann schmor du meinetwegen den Rest des Sommers daheim in der Wohnung, in der Backofenglut! Wie du willst …«
Der Junge war ungerührt geblieben. Er hatte nicht einmal eine Hand an sein brennendes Ohr gehoben. Eine Spur Trotz im Gesicht, mehr nicht: keine Scham, keine Reue, keinerlei Anzeichen für den geringsten inneren Aufruhr. Stand einfach da und sah durch sie hindurch, als versuchte er zu erraten, welche Tapetenfarbe sie sich für die neue Wohnung vorstellte.
Und nun sind sie wieder hier, zwei Jahre später, der Junge inzwischen zehn – soweit bekannt. Der Koffer, den Harry ihm gekauft hat, ist auch wieder dabei, leicht ausgeblichen und abgewetzt jetzt, weil er zwei Jahre lang als Versteck für Comichefte und lose Blätter und wer weiß was noch für Kuriositäten gedient hatte und immerzu unter dem Kinderbett vorgezerrt und zurückgeschoben worden war.
Diesmal geht sie auf Nummer sicher. Die Fahrkarte hat sie gestern in der Mittagspause besorgt, und ein mit Harry bekannter Schaffner auf der New-Haven-Strecke hat versprochen, ein Auge auf den Jungen zu haben, damit er es nicht wagt, gleich am nächsten Bahnhof wieder auszusteigen. Es ist für alles gesorgt. Sie wird ihn in den Zug setzen, sich die Wagennummer merken und, sobald sie den Zug abfahren sieht, Harry auf der Arbeit anrufen, der seinerseits Mrs Kaplan anrufen wird, um sie wissen zu lassen, dass alles geklappt hat. In Boston wird Mrs Kaplan zusteigen, für die gemeinsame Weiterfahrt nach Cape Cod. Auf die Bahn wird einer dieser bulligen Busse folgen, dann ein Automobil. Und dann das Meer, der Sand und Mrs Kaplans Enkel namens Richie.
Sie ist es leid, dem Jungen all das vor Augen zu stellen: Bus, Automobil, Meer, Sand, Enkel namens Richie. Hund sogar! Leid, das alles hochzuhalten, wenn der Junge es mit seinem Schweigen gleich wieder einreißt.
Aber er hat es Harry versprochen, geschworen hat er es – diesmal macht er keine Mätzchen. Allem Anschein nach ganz ehrlich. Harry hat sogar Witze darüber machen können, dass er das letzte Mal abgehauen ist und von einem Cop zurückgeschleift werden musste. Er hat behauptet, das sei sogar im Radio in den Nachrichten gewesen – ganz New York habe davon gewusst. Der Junge hat ein bisschen gegrinst, als Harry das sagte, und er sieht ja richtig nett aus, wenn er sich bequemt, mal zu lächeln. Die vergangenen beiden Jahre haben viel ausgemacht: besser in der Schule, besser im Augenkontakt, und wenn man ihn zum Reden bringen kann, klingt er wie jeder andere amerikanische Junge, fast. Er nimmt inzwischen auch mehr Anteil, aber was hat sie ihm damit in den Ohren gelegen: »Schatz, du musst Anteil nehmen am Leben.«
Sie ist fest davon überzeugt, dass er sich diesmal benehmen wird wie ein Großer. Das hat sie vor ein paar Tagen erst zu Harry gesagt, der dazu im Spiegel bloß die Augenbrauen seines Rasierschaumgesichts hob. Fest überzeugt.
Sie setzt ihren Korb neben dem Koffer ab. »Ich habe dich etwas gefragt«, sagt sie.
Der Junge beachtet sie nicht.
»Was ist mit dir? – Antworte bitte.«
Aber der Junge rückt nicht heraus mit der Sprache. Und da legt sie los. Langsam zuerst, aber dann gerät sie richtig in Fahrt. In Fahrt wegen der Umstände, die er ihr zwei Sommer lang gemacht hat, weil sie bezahlen, ja bezahlen musste, damit jemand auf ihn aufpasste und sie zur Arbeit konnte, wo er doch nur in der Wohnung hockte, seine blöden kleinen Papierfiguren aus irgendwelchen Zeitschriften geschnitten und mit ihnen seine blöden kleinen Spiele gespielt hat. In Fahrt wegen Mrs Kaplan – Mrs Kaplan, die ihm nach dem Ärger vor zwei Jahren netterweise eine zweite Chance gibt. Mrs Kaplan, wohlgemerkt! Die Frau, ohne die er wer weiß wo wäre, tot am Straßenrand irgendwo in Europa. Mrs Kaplan, die Frau, die wahrscheinlich Präsident Truman überhaupt erst auf die Idee gebracht hat, die vielen Waisen zu retten. Sie haut ihm alles um die Ohren, was ihr in den Sinn kommt: dass er aus der Küche Lebensmittel klaut, als würde er bei ihr hungern oder kaum was zu essen kriegen! Dass er mitten in der Nacht durchs Mietshaus streicht und die Nachbarn erschreckt! Und dass überhaupt jedes zweite Wort bei ihm Lüge ist. Unnötige, unsinnige Lüge! Ob seinen Lehrern, seinen Klassenkameraden, dem Mann im Eckladen gegenüber – jedem, der ihm sein Ohr hinhält.
Sie möchte ja aufhören. Zumindest eine Pause einlegen und überlegen, was sie da alles vom Stapel lässt. Aber ähnlich, wie es ihr manchmal im Büro beim Tippen passiert, rasseln die Wörter ohne ihr Zutun heraus, nur treffen sie jetzt diesen Jungen und nicht einfach Papier. Und NEIN, fährt sie fort, diesmal wird sie die Fahrkarte nicht zerreißen, wenn er das etwa glaubt. Er wird in den Zug steigen, und sie wird zur Arbeit zurückkehren. Er wird in den Zug steigen und tun, was sie sagt, und sie wird auf dem Bahnsteig stehen bleiben, bis sie den Zug, den ganzen Zug, bis auf den letzten Wagen, verschwinden sieht.
»Ich mag nicht …«, sagt er, »mir ist …«
»Und mir reicht’s! Hörst du? Ist mir egal, was du magst oder nicht, wie dir ist oder nicht ist. Verstehst du? Mir reicht es mit deinem will nicht, kann nicht, mag nicht. Und nur, dass du’s weißt: Ich bin müde. Müde, weil du mich die ganze Nacht wach gehalten hast mit deinem ständigen ins Bad rein und wieder raus, Flurlicht an und Flurlicht aus. Ich bin es müde und –«
Der Junge senkt den Kopf, schluckt. »Bitte, Frau Aunt«, sagt er schließlich. »Frau Aunt, bitte.«
Sie wendet sich ab. Unten am Bahnsteig sieht sie das Menschengewimmel zu einer einzigen langen, vor Schirmen, Hüten, Handtaschen und Koffern schuppigen Schlange werden. Zum ersten Mal fällt ihr auf, wie viele Soldaten und Matrosen unterwegs sind. Als wäre in Europa noch immer Krieg. Allerdings wirken die Jungs irgendwie anders, jünger, zuversichtlicher. Da fällt es ihr wieder ein: Sie ziehen jetzt in einen neuen Krieg; was sie sieht, ist eine neue Kriegsgeneration. Sie schiebt eine Hand in die Tasche ihres Regenmantels, zieht ein Taschentuch hervor, putzt sich die Nase und steckt das Taschentuch wieder ein. Sie legt den Kopf in den Nacken und blickt hoch zu dem Gewölbe der Decke, dann zu den Spitzbogenfenstern darunter, die aus dem grauen, verregneten Tag Silberlicht spinnen. Sie fühlt sich an eine Kirche ihrer Kindheit erinnert. Eine Kirche, deren Name ihr entfallen ist, wo einst vertraute Gebete über sie hinweg gesprochen wurden, während sie auf der einen Seite den Ellbogen eines Vaters vor Augen hatte, auf der anderen den einer Mutter. Sie schämt sich, den Jungen angeherrscht zu haben und ihn fortzuschicken, obwohl er nicht will. Schämt sich, von seiner kleinen Privatwelt gesprochen zu haben, den Spielen, die er ganz für sich spielt. Er ist schließlich immer noch ein Kind, und wie Harry oft sagt: »Weiß der Himmel, was der Kleine alles durchgemacht hat.«
Sie wendet sich dem Jungen...
Erscheint lt. Verlag | 30.1.2023 |
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Übersetzer | Uda Strätling |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2. Weltkrieg • 50er Jahre • Cape Cod • Edward Hopper • Ehe • Irland • josephine hopper • Kindheit • Kriegswaisen • Kunst • Malerei • New York • Upper Class • USA |
ISBN-10 | 3-293-31129-6 / 3293311296 |
ISBN-13 | 978-3-293-31129-9 / 9783293311299 |
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