»Wie geht es dem Kind?«, fragte Kali. Eigentlich kannte die indische Göttin des Todes und der Vernichtung die Antwort selbst. Aber sie wollte sie aus der spitzen Schnauze des Wächterdämons hören, der für die Gefangenschaft des unmündigen Wesens verantwortlich war. »Es ruft nach seiner Mutter!« Die gelben Augen des schwarzmagischen Unholds verengten sich zu Schlitzen. Und seine schuppige Visage verzerrte sich zu einem zynischen Grinsen. »Wirklich herzzerreißend!« Die furchtbar anzusehende Kali lachte so heftig, dass die Totenschädelkette auf ihren üppigen schwarzen Brüsten tanzte und ihre blutigen Tränen auf die umliegenden düsteren Felsen spritzten. »Die Mutter des Kleinen wird ihn finden«, orakelte Kali. »Oh ja, Asha Devi wird ihn finden!«
***
Hauptquartier der India Demon Police, New Delhi, Indien
Die Polizeiinspektorin Asha Devi schlug mit der flachen Hand zu. Edgar Jones’ Kopf wurde nach hinten geschleudert.
Gleich darauf verpasste die Inderin ihm eine weitere Maulschelle, diesmal mit dem Handrücken.
»Sie… Sie haben mich geschlagen!«, begehrte Jones auf.
»Das dürfen Sie nicht!«
»Ach, wirklich?«, erwiderte Asha Devi mit kalter Wut. »Wer hätte das gedacht!«
Die Polizeiinspektorin befand sich zusammen mit dem Gefangenen in einem fensterlosen Verhörraum. Drei der Wände bestanden aus Beton. In die vierte war ein so genannter Puff Spiegel eingelassen. Man schaute vom Verhörraum nur auf die verspiegelte Fläche. Aber auf der anderen Seite war der Spiegel durchsichtig. Von dem Raum hinter dem Spiegel aus konnte man das Verhör beobachten und belauschen, ohne selbst gesehen zu werden.
Und in diesem Beobachtungsraum befanden sich die Eltern von einigen Kindern, an denen sich Jones vergangen hatte!
Asha Devi wollte ihnen zeigen, dass der Dreckskerl hier nicht mit Samthandschuhen angefasst wurde. Allerdings hatte sie selbst auch gar keine Lust, ihn schonend zu behandeln. Die Inderin bekam schon Magendrücken, wenn sie nur seinen heimtückischen Blick auf sich ruhen fühlte.
Asha Devi wusste aus eigener Erfahrung, wie schlimm eine Kinderseele verletzt werden konnte. Wenn sie daran dachte, was ihr eigener Vater ihr in ihrer Kindheit angetan hatte…
Die Inspektorin packte den Kinderschänder mit beiden Händen am Hemd. Sie zog ihn halb über den Tisch. Edgar Jones war verblüfft, über welche Kräfte diese schlanke, durchtrainierte Polizistin in der olivgrünen Uniform verfügte.
Der Engländer wusste nicht viel über Indien. Ihn interessierte an diesem Land, dass man hier ohne viel Mühe an Kinder herankommen konnte. Kinder, nach denen niemand fragte, weil es in Indien überall mehr als genug hungrige kleine Schreihälse gab…
»Du Made wunderst dich vielleicht, warum wir von der Demon Police dich durch die Mangel drehen«, zischte Asha Devi. Sie hatte Jones jetzt so nahe zu sich herangezogen, dass zwischen ihren Nasen nur noch eine Handbreit Platz war. Das schwere exotische Parfüm der Polizistin stieg dem Verdächtigen in die Nase. Erregend fand Jones die Situation trotzdem nicht. Erwachsene Frauen ließen den Perversen ohnehin kalt. Einmal ganz abgesehen davon, dass Ashas Schläge immer noch in seinem Gesicht brannten.
»Ich würde dich Hurensohn liebend gerne den Kollegen von der Anti Child Abuse Unit überlassen«, fuhr Asha fort. »Aber du hast dir dämonische Verbündete für deine Perversionen gesucht! Und wenn es um Dämonisches geht, ist immer die India Demon Police zuständig, kapiert? Ich will jetzt wissen, wo die Schweigetürme stehen, in denen eure höllischen Komplizen die Kinder verbergen! Also, wo sind sie?« Edgar Jones schwieg störrisch. Wenn diese Inspektorin die Kinder entdeckte, würde sie noch viel wütender werden. Falls das überhaupt möglich war… Der englische Sexualverbrecher starrte die Inderin an. Selbst ein Kinderschänder wie Jones erkannte, dass er eine ausgesprochen hübsche, ungefähr dreißigjährige Frau vor sich hatte.
Ashas Haut war haselnussbraun, ihr dichtes Haar blauschwarz. Die langen Haare waren im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt. Ihr Gesicht hätte schön genannt werden können, wenn es nicht so hassverzerrt gewesen wäre.
Auf der Stirn hatte sie das Kastenzeichen der hohen Brahmanenkaste. Gekleidet war sie in die olivgrüne indische Polizeiuniform mit braunem Lederkoppel.
»Schweigetürme? Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden… Aua!«
Jones schrie auf, weil Asha Devi ihm noch mal eine geklebt hatte.
»Schweigetürme sind Pforten zur Höllenwelt, wie du sicher weißt. So eine Art Schleusen, wenn man so will. Es gibt immer wieder Idioten wie dich, die glauben, dort vor den Ordnungskräften sicher zu sein. Aber ich würde notfalls auch in die Hölle gehen, um die Kinder da rauszuholen!«
In der Tat war Asha Devi selbst bereits in den indischen Höllenwelten gewesen und hatte dort grässliche Dinge miterleben müssen, die ihre Vorstellungskraft beinahe sprengten. Wenn sie sich vorstellte, dass unschuldige Kinder in den
Schweigetürmen von Unterweltdämonen gefangen gehalten wurden…
Die Inspektorin schüttelte sich vor Ekel. Seit sie selbst Mutter war, reagierte sie viel sensibler auf Verbrechen, die Kindern angetan wurden. Dabei hatte sie ihren eigenen Sprössling noch niemals bewusst gesehen. Aber das war ein anderes Kapitel.
Und zwar eines, das ihre Laune nicht, gerade verbesserte.
Und das bekam nun Edgar Jones zu spüren!
Asha Devi stieß ihn so heftig von sich, dass er auf seinen Stuhl zurückplumpste und mitsamt dem Möbelstück umfiel.
In diesem Moment öffnete sich die Tür. Sergeant Tanu trat ein und legte grüßend die Hand an den Mützenschirm.
»Verschwinden Sie!«, schnauzte Asha ihren Untergebenen an. »Sehen Sie nicht, dass ich zu tun habe?«
»Verzeihung, Madam. Aber der Superintendent möchte Sie sofort sprechen. Umgehend, auf der Stelle, ohne Verzögerung. Es tut mir Leid…«
»Na, da kann man wohl nichts machen.« Die Inspektorin deutete mit einer Kopfbewegung auf den Kinderschänder, der sich nun stöhnend vom Boden erhob. »Bringen Sie den Kerl in den Arresttrakt.«
»Jawohl, Madam.«
»Aber seien Sie auf der Treppe vorsichtig, Sergeant!« Sie zwinkerte ihrem Untergebenen zu. »Man kann dort leicht stürzen und sich übel verletzen.«
»Ich werde darauf achten, Madam«, versprach Tanu mit einem gemeinen Grinsen. Er hatte selbst drei kleine Kinder und wusste genau, welche Verbrechen Edgar Jones begangen hatte.
Der Sergeant tastete in seiner Hosentasche nach dem eisernen Schlagring, der nicht zu seiner offiziellen Ausrüstung gehörte…
Dann packte er den Kinderschänder am Kragen und schleifte ihn hinaus. Bevor Asha Devi zum Superintendenten ging, suchte sie noch kurz die Eltern der verschwundenen Kinder auf.
Die Mütter und Väter im Nebenraum waren höchst aufgebracht. Verständlich, dachte Asha Devi. Wem gefiel es schon, die eigenen Kinder in den Schweigetürmen zu wissen?
»Bitte retten Sie meine Lata!«, jammerte eine Frau im Sari.
Sie warf sich mit einer traditionellen Unterwerfungsgeste zu Ashas Füßen auf den Boden und stellte einen Schuh der Inspektorin auf ihren Kopf.
Asha Devi war unangenehm berührt, obwohl es ihr üblicherweise gefiel, wenn Menschen vor ihr kuschten. Aber diese Darbietung war dann doch zu peinlich.
»Wir holen die Kinder da raus, das verspreche ich Ihnen!«
Schnell wandte sich die Inspektorin ab. Sie wollte ihren Vorgesetzten nicht warten lassen.
Auf dem Weg zum Büro des Superintendenten gingen ihr einige Dinge durch den Kopf.
Bei einer ärztlichen Routineuntersuchung hatte sich gezeigt, dass Asha Devi vor zwei Jahren schwanger gewesen sein musste. Doch die Inspektorin hatte überhaupt keine Erinnerung daran! Auch nicht an die Geburt oder an ihr Kind, das sie ausgetragen hatte.
Und dann war ihr die Lösung eingefallen. Asha hatte damals eine einjährige Fortbildung bei Scotland Yard in London gemacht. Das Justizministerium von New Delhi hielt mit typisch indischer Hassliebe zu den ehemaligen Kolonialherren die englische Polizeiausbildung für die beste der Welt.
Klar, dass man eine Streberin wie Asha Devi daher zur Schulung nach London schickte. Der Witz war nur: Die Inspektorin hatte kaum Erinnerungen an dieses eine Jahr! Und die wenigen Dinge, die ihr einfielen, hatten nichts mit ihr persönlich zu tun. Die Erinnerungsfetzen waren wie Teile von Filmen, die man im Halbschlaf im Fernsehen angeschaut hat.
Etwas war in diesem einen Jahr mit Asha Devi geschehen.
Wenn sie wirklich ein Kind ausgetragen hatte, wo war es dann?
Wer hatte ein Interesse daran, ihr das Baby zu rauben? Falls es überhaupt noch lebte…
Obwohl Asha Devi ihr Kind niemals gesehen hatte, empfand sie eine starke mütterliche Sehnsucht. Ein Gefühl, das überhaupt nicht zu ihrem Selbstbild passte. Das trug natürlich nicht gerade dazu bei, ihre Laune zu heben.
Jedenfalls war sie wild entschlossen, nicht nur die Kinder zu befreien, die der...