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Das Verschwinden (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
Eichborn AG (Verlag)
978-3-7517-4268-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Verschwinden -  Sandra Newman
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In nur einem Augenblick verschwinden auf der ganzen Welt alle Menschen mit einem Y-Chromosom - urplötzlich, ohne jede Spur. Auch Jane hat ihren Mann und ihren kleinen Sohn verloren. Voller Panik sucht sie die einzige Person auf, von der sie sich Hoffnung verspricht: Evangelyne, die charismatische Anführerin einer politischen Untergrundbewegung, mit der sie eine alte Freundschaft verbindet. Gemeinsam erschaffen sie und all die übrigen Frauen eine völlig neue Gesellschaft - eine friedliche, sichere Welt. Doch dann tauchen höchst verstörende Videos der verschwundenen Männer und Jungen auf, und als Jane einen Weg erkennt, sie zurückzuholen, muss sie sich fragen: Wäre sie bereit, diese neue Welt dafür zu opfern?



<p>Sandra Newman, geboren 1965 in Boston, hat bereits mehrere Romane und Sachbücher veröffentlicht. Ihre beiden Romane ICE CREAM STAR und HIMMEL (Matthes &amp; Seitz) waren in Deutschland große Presseerfolge; im Herbst 2023 erschien im Eichborn Verlag ihr vielbeachteter Roman JULIA. Sandra Newman war mit ihren Büchern u. a. für den Folio Prize, den Women's Prize for Fiction sowie den Guardian First Book Award nominiert. Sie lebt in New York.<br /><br /><br /></p>

Sandra Newman, geboren 1965 in Boston, hat bereits vier Romane, ein Memoir und zwei literaturwissenschaftliche Bücher veröffentlicht. Ihre beiden auf Deutsch erschienenen Romane Ice Cream Star und Himmel (Matthes & Seitz) waren große Presseerfolge. Sandra Newman war mit ihren Büchern u. a. für den Folio Prize, den Baileys Women’s Prize for Fiction sowie den Guardian First Book Award nominiert. Sie lebt in New York.

1


ALS DIE MÄNNER VERSCHWANDEN, war nichts zu spüren. Ich war mit meinem Mann und unserem Sohn in den nordkalifornischen Bergen zelten. Es dämmerte, und der ganze Himmel war von einem gräulichen Violett, wie Seide, schummrig. Die lindgrünen Blätter der Erle über mir zitterten und glänzten heller als der Himmel. Mein Mann Leo las im Zelt auf seinem iPad, und Benjamin, der mit seinen fünf Jahren unter Nachtangst litt, hatte sich an ihn gekuschelt, um einzuschlafen. Das Tablet schimmerte durch das Netz des Zeltfensters. Ich lag in der Hängematte und zögerte, zu ihnen ins Zelt zu kriechen. Es war August und sogar hier in den Bergen heiß, und ich stellte mir vor, wie es wäre, die Sterne aufgehen zu sehen und mich vollkommen frei und ungebunden zu fühlen, niemandem verpflichtet. Ich wollte mich meinen Träumereien hingeben, in denen ich Primaballerina in Japan war oder allein die Welt umsegelte – Fantasien, in denen ich nie geheiratet hatte und mein ganzes Leben noch vor mir lag.

Zugleich spürte ich meinen Mann und meinen Sohn in der Nähe und war froh, dass es sie gab.

Ich liebte sie. Ich wollte nicht allein und kinderlos sein; ich wollte nur davon träumen, während ich sie bei mir wusste. Ihr langes Schweigen beunruhigte mich nicht. Es hatte Zeiten gegeben, in denen ich voller Angst durch die Welt gegangen war, schlimme Zeiten. Diese Zeiten waren vorbei, ich war glücklich.

Um 19:14 Uhr passierte ein intensives Nichts, ein Taumel, der nicht von den Nerven oder dem Gehirn herrührte. Es würde mir später als eine Art Drogenrausch im Gedächtnis bleiben. Als es vorbei war, hatte ich das Gefühl, Leo und Benjamin wären verschwunden, doch ich tat es schnell als Albernheit ab. Stimmungsschwankungen kannte ich gut, genauso wie die abstrusen Vorstellungen, die damit einhergingen. Ich sah zum Zelt, wo das Tablet leuchtete, ein belebter Flecken. Ich rief nicht nach ihnen. Ich wollte Benjamin nicht wecken und gab mich wieder meinen Gedanken hin.

Etwa gegen zwanzig Uhr schlief ich ein. Unten im Tal, in der Welt der Menschen, riefen die ersten Frauen die Polizei. Sie rannten durch ihre Häuser und brüllten Namen. Sie klopften hilfesuchend an die Haustüren der Nachbarn, nur um festzustellen, dass auch die Nachbarinnen Namen rufend durchs Haus rannten. Sie fuhren zu den Polizeiwachen und fanden sie hell erleuchtet und leer vor, die Türen offenstehend. Kleinflugzeuge fielen vom Himmel.

Oben auf dem Berg schlief ich ein, während die Welt zerfiel. Ich schlief durch bis zum Sonnenaufgang.

Ihre lebendigen Stimmen, schroff und tief. Das Geräusch eines Mannes irgendwo im Haus. Jungs, die wie Affen von Ästen baumeln und einander johlend zu treten versuchen. Drei Jungs, die Krach machen für zehn. Getrommel auf dem Tisch. Pfiffe. Maskuliner, unbefangener Lärm.

Verschwunden.

Zu wenige Frauen in diesem Gremium. Wieder ein Vorstand ohne Frauen. Männer, die über die Körper von Frauen entscheiden. Herrenclubs. Männerrechte. Frauenzeitschriften. Feminismus. Verschwunden.

Dem Freund beim Computerspielen zusehen. Über die Geschichte eines Mannes lachen, über die zweite, die dritte. Sich innerlich wappnen, wenn er etwas Selbstgemachtes präsentiert; die Erleichterung, wenn es gar nicht so übel geworden ist. Einen auf kleines Mädchen machen. Mit hoher Mädchenstimme sprechen. Flache Schuhe tragen, damit er größer wirkt.

Die breite Hand auf deiner Schulter. Wie er dir sagt, dass alles gut wird. »Du bist wunderschön«, gesprochen mit dieser bestimmten Autorität. Ihn die Führung übernehmen lassen. Ihm das Autofahren überlassen. Ihn entscheiden lassen. Wie er dich ins Bett trägt. Der Rausch des sexuellen Ausgeliefertseins im Vorhinein. Ein Objekt männlicher Begierde sein.

Vorbei.

Das erdrückende Gefühl, unterbrochen zu werden. Ein Mann, der dich mit Fistelstimme nachäfft. Ein Mann, dessen Blick auf einer Party über dich hinweggleitet, auf der Suche nach einer jüngeren Frau. Wie er deine Fragen beantwortet und dabei sie anschaut. Zwei Männer, die um die Aufmerksamkeit einer jungen Frau buhlen; sie steht stumm daneben wie eine Kampfrichterin. Du sagst etwas, und alle drei warten ungeduldig darauf, dass du zum Ende kommst. Niemand hört dir zu, weil sie dich nicht anschauen wollen. Auf einer öffentlichen Toilette vor dem Spiegel stehen und sehen, was sie sehen.

Er, der plötzlich bedrohlich wirkt. Er, der gegen die Wand schlägt. Den Kopf gesenkt halten und abwarten, dass es vorübergeht. Die Scham, dass du ihn dazu getrieben hast. Der Stolz, dass du es nicht getan hast. Der Moment, in dem dir klar wird, dass du keine Kontrolle hast. In dem all das magische Denken dich verlässt und du nur noch ein Körper bist, der getötet wird. Oder wenn du an einer Straßenecke auf eine Gruppe von Männern triffst. Wie sie verstummen und dich anstarren. Deinen Körper, nicht dein Gesicht. Schritte hinter dir in der Dunkelheit. Große Hände um deinen Hals. Ihn nicht aufhalten können.

Vorbei.

Dein Vater. Dein Bruder. Dein Freund. Dein Sohn.

Die erste Begegnung mit deinem Mann.

In meinem Fall Leo.

Verschwunden.

Ein Freund von Leo wollte sich ein Auto ansehen, das mein Vater restauriert hatte, eine ’91er Corvette C4. Leo war mitgekommen, ein unscheinbarer blonder Mann mit leicht fremd klingendem Akzent. Er lehnte an der Werkstattwand, seine zusammengesunkene Haltung drückte Langeweile aus. Dadurch wirkte er wie ein Teenager, obwohl er schon achtunddreißig war. Einfach so suchte er Blickkontakt und lächelte.

Es war meine schlimmste Phase, direkt nach Alain. Ich litt unter Panikattacken und Schuppenflechte und hatte einen gebrochenen Fuß, der zweimal gerichtet werden musste. Ich wurde drangsaliert, wohin ich auch ging. Ich war wieder bei meinem Vater eingezogen, weil ich aus Sicherheitsgründen nicht mehr allein leben konnte; Morddrohungen wurden an meine Wohnungstür geklebt. Neunzehn Jahre alt, und schon die Verstoßene – das war das Wort, das ich damals immer im Kopf hatte.

Doch ich erwiderte sein Lächeln. Sofort war da diese Verbindung.

Mit der schlaksigen, gutmütigen Freundlichkeit eines Hundes, der einen anderen Hund begrüßt, kam er zu mir herüber. »Hallo. Ich bin Leo.«

»Leo«, antwortete ich, »wie das Sternbild. Ich bin Löwe.« Dann fügte ich linkisch hinzu: »Aber eigentlich glaube ich nicht an Astrologie.«

Er lächelte, erwiderte jedoch nichts. Wir sahen beide zu der Corvette, die mit ihrer geduckten, schnittigen Form wirkte wie ein Raubtier kurz vor dem Absprung. Königsblau. Leos Freund saß inzwischen auf dem Fahrersitz, und mein Vater erläuterte über die geöffnete Tür gebeugt die Arbeiten, die er am Motor vorgenommen hatte. Ich war ihm bei der Arbeit zur Hand gegangen und liebte das Auto auf eine schmerzhafte, von Einsamkeit geprägte Weise. Manchmal, wenn gerade niemand in der Nähe war, sprach ich mit ihm. Als Leo es nun betrachtete, spürte ich, wie sehr den anderen dieses Gefühl abging. Vielleicht würde der Freund es haben wollen, vielleicht auch nicht; es gab andere Autos. Leo schien Sportwagen albern zu finden, so wie es mir früher auch gegangen war. Es stimmt nicht mal, dass ich Löwe bin; ich rede oft dummes Zeug, wenn ich nervös bin. Ich wusste, dass Leo und sein Freund beide Biologen an der UC Santa Cruz waren, und ich wollte ihm erzählen, dass auch ich mal ein Leben gehabt hatte. Ich war Ballerina gewesen, professionelle Tänzerin. Ich wollte ihm die ganze Geschichte auf jene rechtfertigende Art erzählen, die ich bisher vermieden hatte. Aber natürlich war es auch gut möglich, dass er längst Bescheid wusste. Vielleicht würde er sich gleich zu mir umdrehen und sagen: Du bist diese Jane Pearson, oder? Wie fühlt es sich an, zu wissen, dass für diese Kinder nichts mehr so sein wird wie zuvor?

Als ich ihn wieder ansah, erwiderte er meinen Blick. Wir standen sehr dicht beieinander, und es fühlte sich an, als würden wir uns gleich küssen. Leo wurde rot – er errötete schnell –, und ich war überfordert und lächelte dümmlich, wie ein kleines Mädchen. Mir fiel nichts Geistreiches ein, das ich hätte sagen können. Dann wandte ich unwillkürlich den Blick ab. Leo würde gehen und ich ihn nie wiedersehen.

»Gut, dass du nicht an Astrologie glaubst«, sagte er.

Vier Monate später waren wir verheiratet.

Oben auf dem Berg schlief ich ein. Die Sonne ging unter. Die Sterne funkelten, wie auch meine Träume funkelten und dahinströmten, sanft geleitet von der wechselhaften Brise auf meiner Haut. Mein Mann und mein Kind waren seit Ewigkeiten verschwunden, seit Stunden. Und ich schlief; bis zum Morgen. Als ich erwachte, war die Sonne bereits aufgegangen. Der Himmel war klar, gigantisch und zartblau, wie das Ei einer Drossel. Ich ahnte von nichts. Als ich das Zelt verlassen vorfand, ihre Schuhe sowie Leos Handy und die Autoschlüssel jedoch an Ort und Stelle, nahm ich an, dass sie zum Pinkeln in den Wald gegangen waren. Leo fühlte sich im Wald zu Hause und hielt es womöglich für unnötig, Schuhe zu tragen. Ich kochte Kaffee und stellte eine Pfanne auf den Campingkocher, um Eier zu braten. Die Zeit verging, und die Angst schwoll an, erst allmählich und dann sehr plötzlich, wie ein Tosen in meinen Ohren. Es wurde so schlimm, dass ich gar nichts mehr fühlte. Ich sah den Wald und den Himmel wie in einem grellen Film. Ich versuchte zu atmen, um nicht ohnmächtig zu werden. Ich schrie ihre Namen.

Ich weiß nicht, wie lang ich dort blieb und immer wieder so tief wie möglich einatmete, um dann zu schreien. Ich weiß, dass es irgendwann zu schwerer körperlicher Arbeit wurde, als würde ich graben. Ein paar Mal wählte ich den...

Erscheint lt. Verlag 31.5.2024
Übersetzer Milena Adam
Sprache deutsch
Original-Titel The Men
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1984 • Alternative Welt • Christina Dalcher • Die Gabe • Dystopie • Feminismus • Gegenwartsliteratur • George Orwell • Handmaid's Tale • Margaret Atwood • Naomi Alderman • Report der Magd • Utopie • VOX • welt ohne männer
ISBN-10 3-7517-4268-9 / 3751742689
ISBN-13 978-3-7517-4268-9 / 9783751742689
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