Der Duft von Steinen (eBook)
Quadriga (Verlag)
978-3-7517-2884-3 (ISBN)
Im Februar 2018 verschwanden Dutzende Angehörige der Journalistin Gulchehra Hoja. Sie wurden ihretwegen verhaftet, denn Hoja hatte es gewagt, über die Not des uigurischen Volkes zu berichten. Die talentierte Tänzerin, Schauspielerin und Geschichtenerzählerin wurde zum Star des chinesischen Staatsfernsehens - bis sie den Genozid erkannte, den China an den Uiguren verübt. Sie floh in die USA und kämpfte dort um mehr Öffentlichkeit für ihr Volk. DER DUFT DER STEINE enthüllt die Schönheit Ostturkestans und seines Volkes und zeigt eine Frau, die bereit war, nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Familie zu riskieren, um der Welt die Geschichte ihres Volkes zu erzählen.
PROLOG
Am späten Abend des 1. Februar 2018 wurden im Laufe einer einzigen Nacht vierundzwanzig Mitglieder meiner Großfamilie verhaftet. Darunter meine nicht mehr jungen Eltern, ebenso wie Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen sowie deren Ehegatten. Mein jüngerer Bruder war nicht unter ihnen, aber nicht etwa, weil er Glück hatte. Schon ein Jahr zuvor hatte man ihn ohne Angabe von Gründen festgenommen und in einem Internierungslager verschwinden lassen.
An jenem schrecklichen Abend drangen zwei Polizisten, ein Uigure und ein Han-Chinese, im Schutz der Dunkelheit ins Haus meiner Mutter ein. Da mein Bruder im Gefängnis war und mein Vater nach einem Schlaganfall auf der Intensivstation lag, war sie ganz allein im Haus. Sie legten ihr Handschellen an und warfen ihr etwas über den Kopf. Ein schweres schwarzes Tuch, das sie wegen ihres hohen Blutdrucks (neben anderen ernsten Gesundheitsproblemen) nach Luft ringen ließ. Sie flehte sie an, es wegzunehmen.
Der uigurische Polizist beugte sich zu ihr hinunter. »Es tut mir leid. Wir müssen Sie so mitnehmen. So lautet unser Befehl.« Doch gleichzeitig zog er das Tuch ein wenig in die Höhe, damit sie atmen konnte.
Der andere Polizist, der das bemerkte, herrschte ihn an: »Wie, ist sie deine Mutter, oder was?« Er zerrte ihr das Tuch wieder übers Gesicht und führte sie zum wartenden Polizeiwagen.
Als erstes brachte man sie ins örtliche Polizeigefängnis, wo sie auf meine alte Tante traf, die ebenfalls verhaftet worden war. Mittlerweile war der Blutdruck meiner Mutter gefährlich angestiegen. Man untersuchte sie, und da das Gefängnis über keinerlei medizinische Einrichtungen verfügte, wollten sie sie nicht dortbehalten. So wurde meine Mutter wieder von ihrer Schwester getrennt und ins Gefängnis Ürümchi Nr. 1 gebracht, einer berüchtigten Einrichtung für Schwerverbrecher. Obwohl dieses Gefängnis über eine medizinische Station verfügte, wurde meine Mutter weder behandelt noch versorgt. Und als sie um einen Blutdrucksenker bat, gab man ihr Hustentropfen. Als Professorin der Pharmazie kannte sie den Unterschied.
Im Gefängnis zwang man sie, sich zu entkleiden und eine schmutzige Kluft anzuziehen, die noch nach dem Schweiß und der Angst ihrer letzten Trägerin stank. Mit dreißig anderen Frauen warf man sie in einen kleinen Raum und ließ sie dort tagelang an ein Rohr gekettet liegen. Es war nur eine der zahlreichen Erniedrigungen, die sie erdulden musste. Und sie war bei Weitem nicht die Einzige, die solche Demütigungen erlebte. Im 21. Jahrhundert hat sich meine wunderschöne Heimat in eine Stätte des Terrors verwandelt, und die umfassende Zerstörung der uralten uigurischen Kultur und Lebensweise schreitet in unvorstellbarem Tempo voran. Meine Geschichte und die meiner Familie sind Teil dieses kulturellen Genozids.
Die Stadt Ürümchi, in der ich aufgewachsen bin, wird nach Westen hin vom atemberaubenden Tengritagh-Gebirge flankiert und ist von weiten Wüstenlandschaften umgeben, die von überraschend grünen Oasen voller Weinstöcke und Melonensträucher unterbrochen werden. Es ist eine uralte Stadt, die viel näher bei Kasachstan liegt als bei Beijing. Lange einer der wichtigsten Umschlagsplätze der Seidenstraße, ist Ürümchi heute die geschäftige Hauptstadt einer Region, die von der einheimischen Bevölkerung seit dem 19. Jahrhundert als Ostturkestan bezeichnet wird. Das Volk der Uiguren behauptet sich seit Jahrtausenden inmitten einer ebenso herben wie spektakulären Schönheit der Natur und hat in dieser Zeit eine komplexe und reiche Musiktradition, eine Kultur des Tanzes, der Architektur, der bildenden Künste, der Sprache sowie eine eigene Form des Islam entwickelt. Viele Elemente dieser Kultur können auf uralte zentralasiatische und Turk-Einflüsse zurückgeführt werden, aus denen sich vor vielen Jahrhunderten unsere sufistisch geprägte Musik, die Muqam, und viele unserer regionalen Gerichte – von den duftenden, als Naan bekannten Fladenbroten bis hin zu den mit Kreuzkümmel gewürzten, über offener Flamme gegrillten Kebabspießen – entwickelt haben.
Im Süden Ürümchis erstreckt sich die große Taklamakan, die zweitgrößte Flugsandwüste der Welt, in deren Oasen die Uiguren als Kleinbauern mehr als ein Jahrtausend lang mithilfe eines raffinierten unterirdischen Bewässerungssystems namens Kariz Hirse, Weizen, Baumwolle, Feigen, Dattelpflaumen und andere Feldfrüchte kultivierten. Entlang der Ränder dieser enormen Sandfläche haben sich die Uiguren und unsere Vorfahren unter verschiedenen turksprachigen, vorwiegend muslimischen Machthabern meist selbst regiert. Um 1755 eroberte die von den Mandschu geführte Qing-Dynastie die uigurische Region – die etwa die Größe des amerikanischen Bundesstaats Alaska besitzt und ein Sechstel des Gebietes umfasst, das wir heute als Volksrepublik China kennen – und gliederte sie formal ins chinesische Kaiserreich ein. In der Folge griffen lokale Aufstände immer mehr um sich, und das Gebiet geriet auch militärisch zunehmend unter die Kontrolle der Chinesen. Die Umbenennung in Xinjiang (d.h. »neues Territorium«) durch die Chinesen geschah jedoch erst 1884, als meine Urgroßeltern noch lebten. Unser kulturelles Gedächtnis reicht weit zurück. Mein Vater erinnert sich noch daran, dass er mit sieben Jahren in einer Parade mitmarschierte, in der Ostturkestan gefeiert wurde, während sein älterer Bruder hoch zu Ross in der örtlichen uigurischen Kavallerie ritt und unsere blaue Flagge mit ihrem unverwechselbaren Stern und dem Halbmond flattern ließ.
Bis 1949 hisste Ostturkestan stolz seine eigene Fahne und gelangte ebenso sehr unter den kulturellen Einfluss der Sowjetunion wie unter den des chinesischen Staates. Obwohl es ein mehrheitlich uigurisches Gebiet war, in dem Uiguren bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts fünfundsiebzig Prozent der Bevölkerung ausmachten, gibt es auch beträchtliche Minderheiten von Kasachen, Tadschiken, Usbeken, Tataren und Kirgisen, von denen die meisten eine Form des Islam praktizieren. Es ist eine heikle Balance, eine, die die chinesische Regierung seit Mitte des 20. Jahrhunderts systematisch zu zerstören begann.
Nach der offiziellen Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 und der Etablierung der Kommunistischen Partei Chinas als Regierung trat eine neue Politik in Kraft. Statt das Uigurengebiet nur nominell aus der Ferne zu regieren, entschied die junge KPCh, eine umfassende Besatzung sei nötig, um das Uigurengebiet und, ebenso wichtig, die Uiguren zu kontrollieren. Während der 1950er-Jahre gab es eine massive Einwanderung von Han-Chinesen – die Han sind die größte ethnische Gruppe Chinas, das, was man landläufig unter Chinesen versteht –, meist ehemaliger Soldaten, in den nördlichen Teil Ostturkestans. Sie wurden von der Regierung geschickt, um sowohl unberührtes Land zu bewirtschaften als auch für eine enorme paramilitärische Präsenz in der Region zu sorgen. Diese Leute bildeten das Xinjiang Produktions- und Aufbau-Korps oder Bingtuan, und sie waren gekommen, um das Land und seine Bodenschätze maximal auszubeuten. Einfach ausgedrückt, entwickelte sich ein Verhältnis wie das eines Kolonialherrn zu einem kolonisierten Volk, wobei allein die kommunistischen Machthaber in Beijing das Sagen hatten. Innerhalb weniger Jahrzehnte sank der Anteil der uigurischen Bevölkerung in der Region auf unter fünfzig Prozent. Ein umfassendes und sich auf erschreckende Weise beschleunigendes Programm der Kolonisierung und kulturellen Vernichtung hatte begonnen.
In den 1950ern hatte die KPCh Ostturkestan in das »Uigurische Autonomiegebiet Xinjiang« umbenannt, doch genau wie beim sogenannten Autonomen Gebiet Tibet hatte der Name weder politische noch kulturelle Autonomie zur Folge. Wie die Tibeter wurden die Uiguren nach wie vor von vielen als rückständiges Volk betrachtet, und nur wenige Han-Chinesen wussten etwas über unsere Traditionen oder unsere Lebensweise. Das Reisen wurde Uiguren erschwert – viele Hotels weigerten sich sogar, Uiguren zu beherbergen –, und viele Han-Chinesen betrachteten das uigurische Gebiet als eine Art »Wilden Westen« voller Gewalt, Gesetzlosigkeit und primitiver Zustände. Vorurteile waren an der Tagesordnung, gespeist meist aus Unwissenheit, jedoch auch durch die jahrelange unablässige KPCh-Propaganda über die notwendige Zivilisierung des Uigurengebiets und die Erziehung der Uiguren zu modernen Bürgern.
2017 wurde diese Kampagne auf fürchterliche Weise forciert, als die chinesische Regierung begann, eine große Anzahl von Uiguren in Haftanstalten inmitten der Wüste zu internieren, wo sie sowohl dem Blick der internationalen Gemeinschaft als auch dem der örtlichen Bevölkerung entzogen sind. Angesichts der Geheimhaltungsstufe, die diese Lager umgibt, kann man unmöglich wissen, wie viele Menschen in diesen Einrichtungen verschwunden sind. Doch vorsichtigen Schätzungen aufgrund mir zugespielter amtlicher Dokumente sowie Augenzeugenberichten zufolge wurden zwischen einer und drei Million Menschen in diese Lager gezwungen, wo man sie entmenschlichender Behandlung wie Folter, Vergewaltigung und Zwangsarbeit sowie fortwährender Erniedrigung unterzieht. Uiguren können für jeden beliebigen Ausdruck unserer einzigartigen Kultur verhaftet und in diese Lager gesteckt werden.
Doch auch außerhalb der Lager herrschen schlimme Zustände. In meiner Kindheit, während der 1970er- und 1980er-Jahre, waren Fernsehgeräte im Uigurengebiet noch selten. Heute dagegen hat man überall in der Region ein ausgedehntes Überwachungssystem installiert. An Straßenecken, wo einst Wassermelonenverkäufer ihre Eselskarren oder Handwagen abzustellen pflegten, stehen jetzt...
Erscheint lt. Verlag | 24.2.2023 |
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Übersetzer | Maria Mill, Simone Schroth |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | A STONE IS MOST PRECIOUS WHERE IT BELONGS |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Autobiografie |
ISBN-10 | 3-7517-2884-8 / 3751728848 |
ISBN-13 | 978-3-7517-2884-3 / 9783751728843 |
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