Sehnsucht nach dem Dünenhof (eBook)
480 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46491-5 (ISBN)
Anke Petersen schreibt unter anderen Namen erfolgreich historische Romane. Als sie das erste Mal auf der Insel Amrum Urlaub machte, hat sie sich sofort in die Insel verliebt und sich in ihre Geschichte vertieft. Dabei stieß sie auf das erste Hotel des Inselortes Norddorf, das sie zu ihrer ersten Roman-Trilogie inspirierte. Ihre neue Serie führt die Lesenden nach Föhr, das Traumziel vieler Urlauber*innen.
Anke Petersen schreibt unter anderen Namen erfolgreich historische Romane. Als sie das erste Mal auf der Insel Amrum Urlaub machte, hat sie sich sofort in die Insel verliebt und sich in ihre Geschichte vertieft. Dabei stieß sie auf das erste Hotel des Inselortes Norddorf, das sie zu ihrer ersten Roman-Trilogie inspirierte. Ihre neue Serie führt die Lesenden nach Föhr, das Traumziel vieler Urlauber*innen.
1. Kapitel
Berlin, 18. Juli 1901
Hier ist er auch nicht«, vermeldete Anni. Sie kniete auf dem Fußboden des Krankensaals und blickte unter das weiße Gitterbett des kleinen Karli.
»Aber wo soll er sonst abgeblieben sein?«, fragte ihre Kollegin Bille. Sie sah den vierjährigen Karli, er war an Tuberkulose erkrankt, mit ernster Miene an.
»Denk nach, Karli. Wo könnte der Gisbert noch stecken? Wenn wir ihn nicht bald finden, musst du ohne ihn auf die große Reise gehen.«
Karli zog den Kopf ein.
»Ohne den Gisbert geh ich nicht auf eine Reise«, antwortete er und verschränkte trotzig dreinblickend die Arme vor der Brust.
Anni, die sich wieder erhoben hatte, stieß einen Seufzer aus und wischte sich eine Staubfluse von ihrer weißen Schwesternschürze. Es waren insgesamt zwanzig Kinder, die in wenigen Stunden die Reise an die Nordsee, genauer gesagt auf die im nordfriesischen Wattenmeer gelegene Insel Föhr antreten sollten. Doch waren sie bedauerlicherweise noch weit davon entfernt, den aufgeregten Hühnerhaufen reisefertig zu haben. Hier fehlte ein Kuscheltier, dort war es ein Schuh, der sich in Luft aufgelöst hatte, bis vor wenigen Minuten hatten sie sogar verzweifelt eines der Kinder gesucht. Die kleine Hilde hatte sich in einem der Schränke versteckt, denn sie wollte nicht an die Nordsee fahren, weil sie Angst vor dem Klabautermann hatte, der sich auf Schiffen rumtreiben würde und kleine Mädchen fraß. So hatte es jedenfalls der zehnjährige Walter erzählt. Und dem konnte man schon glauben, schließlich war sein Vater ein Schiffskapitän, zwar nur auf einem Boot auf der Spree, aber Klabautermänner gab es auf allen Schiffsplanken. Anni hatte mit Engelszungen auf die Kleine eingeredet und ihr versichert, dass es auf den Fähren zur Insel Föhr keine Klabautermänner gebe. Ihr konnte sie in dieser Hinsicht auch mehr glauben als dem Walter, denn sie stammte von der Insel. Es kam ihr immer noch unwirklich vor, dass sie, wenn alles nach Plan lief, noch am heutigen Tag ihre Heimatinsel wieder betreten würde. Die Charité hatte vor einigen Wochen im Bereich der Kinderheilkunde eine Zusammenarbeit mit dem erst vor drei Jahren neu erbauten Nordseesanatorium des Dr. Gmelin in dem Seebad Wyk vereinbart, das sich auf der Insel befand. Von Krankheiten geschwächte Kinder sollten sich in der heilsamen Nordseeluft von ihren Gebrechen erholen. Oberschwester Dorothea war es gewesen, die Anni sogleich für die Kindertransporte nach Föhr eingeteilt hatte. Die resolute Mittfünfzigerin kannte ihre Schäfchen, wie sie die ihr unterstellte Schwesternschaft häufig bezeichnete, gut. Eine Insulanerin als Begleiterin zu haben, die sich mit den Gegebenheiten im Norden auskannte, hielt sie für ein großes Glück. Obwohl Annis Insulanerleben in dem auf Föhr gelegenen Friesendorf Nieblum bereits viele Jahre her war und sie nur noch wenige Erinnerungen an die damaligen Zeiten hatte. Sie war sieben Jahre alt gewesen, als sie gemeinsam mit ihren Eltern Föhr für immer den Rücken gekehrt hatte. Den genauen Grund für den Weggang aus der Heimat hatte Anni nie erfahren. Als kleines Kind hatte sie nicht danach gefragt, später hatte sie nicht mehr die Möglichkeit dazu gehabt. Ihre Eltern waren bei einem Hausbrand ums Leben gekommen. Anni hatte das tragische Unglück nur deshalb überlebt, weil sie von einem Nachbarn gerettet worden war. Damals war sie dreizehn Jahre alt gewesen. Ein befreundetes und in der Nachbarschaft lebendes Ehepaar ihrer Eltern nahm sich ihrer an. Birgitta und Wilhelm Kraus. Er war Lehrer an einem Gymnasium, sie in der Armenhilfe tätig. Durch die Kontakte von Birgitta Kraus war ihr die Ausbildung zur Krankenschwester an der Charité ermöglicht worden, wofür Anni ihr unendlich dankbar war.
So ganz hatte Hilde ihr das Nichtvorhandensein des Klabautermanns auf Schiffsfähren nicht geglaubt, doch immerhin hatte Anni es durch ihre beruhigenden Worte geschafft, das Mädchen aus dem Schrank zu locken. Sie hatte ihr fest versprochen, die gesamte Überfahrt von Dagebüll bis Wyk nicht von ihrer Seite zu weichen.
Eine der Hilfsschwestern betrat den Krankensaal, in Händen hielt sie, zu Annis und Billes Erleichterung, den Teddybären Gisbert.
»Ich hab diesen Burschen im Waschraum gefunden«, sagte sie. »Gehört er vielleicht zu einem eurer Kinder?«
»Gisbert«, rief Karli freudig und streckte sogleich die Ärmchen nach seinem Kuscheltier aus.
»Ein Problem weniger«, kommentierte Bille das Wiedersehen des Jungen mit seinem struppigen Bären. »Dann lass uns zusehen, dass wir fertig werden. In einer Stunde müssen wir los, sonst fährt der Zug ohne uns, und das wäre jammerschade, denn ich will endlich mal das Meer sehen.« Billes Bemerkung brachte Anni zum Lächeln. Ihre Kollegin und Freundin war die letzten Tage das reinste Nervenbündel. Eine Bahnreise an die Nordsee und dann noch eine Schifffahrt mit einer Fähre waren in ihren Augen das Aufregendste, was sie jemals erleben würde. Bille hatte sich als eine der Ersten für das Projekt Kindertransport Nordsee freiwillig gemeldet. »Da komm ich endlich mal raus aus diesem Moloch«, hatte sie zu Anni gesagt.
Anni und sie hielten seit dem ersten Tag ihrer gemeinsamen Schwesternausbildung wie Pech und Schwefel zusammen. Sie teilten sich im Wohnheim ein Zimmer und achteten sogar darauf, dass sie dieselben Schichten hatten. Bille war in Berlin geboren und aufgewachsen, ihre Eltern betrieben eine Bäckerei, die ihr ältester Bruder Joachim übernehmen sollte. Bille hatte früh entschieden, nicht im Familienbetrieb zu arbeiten. »Ich esse einfach zu gerne Süßes für diesen Beruf«, hatte sie Anni kurz nach ihrem ersten Kennenlernen erklärt. »Stünde ich in der Backstube, würde für die Kundschaft nichts mehr übrig bleiben.«
Ihr äußeres Erscheinungsbild passte zu ihrer Vorliebe für Torten und Kekse. Bille war als füllig zu bezeichnen, was ihr jedoch gut zu Gesicht stand. Ihre runden Wangen umhüllte rotblondes, schimmerndes Haar, auf ihrer Nase saßen stets einige Sommersprossen. Besonders ihre großen blauen Augen, von langen, dunklen Wimpern umrandet, waren ein Hingucker.
»Wenn du Pech hast, ist das Meer sowieso gerade nicht da, wenn wir in Dagebüll ankommen«, antwortete Anni.
»Wie?«, hakte Bille verdutzt nach. »So ein Meer kann doch nicht einfach verschwinden.«
»Man nennt es die Gezeiten«, erklärte Anni, während sie einen von Karlis Pullovern zusammenfaltete und in seinen Koffer verfrachtete. »Sie werden vom Mond gelenkt. Das heißt Ebbe und Flut. Ungefähr alle sechs Stunden zieht sich das Wasser zurück und kommt dann wieder. Herrscht Ebbe, kann man von Föhr über das Watt sogar bis zur Nachbarinsel Amrum laufen.«
»Ein Meer, das kommt und geht, wie es ihm passt. Na, das kann ja heiter werden«, antwortete Bille und schüttelte den Kopf. »Und ich dachte immer, Meer ist halt Meer. So kann man sich irren. Und was ist Watt?«
»Ich zeige es dir, wenn wir angekommen sind«, versprach Anni und schloss Karlis Koffer.
Munter ging es mit dem Reisefertigmachen der Kinder weiter. Mädchen wurden in Kleider gesteckt, Schuhe geschnürt, letzte Koffer gepackt, Jacken gesucht und Zöpfe geflochten. Walter wurde zwischendurch mehrfach ermahnt, keine Schauermärchen mehr zu erzählen. Jedes Kind erhielt einen Beutel mit Reiseproviant. Belegte Brote, einen Apfel und eine Flasche Limonade. Schließlich dauerte die Reise an die See über acht Stunden. Niemand sollte unterwegs hungern müssen. Anni freute sich besonders darüber, dass nicht nur Kinder aus wohlhabenderen Familien in den Genuss des Sanatoriumsaufenthalts kamen. Kleinen Patienten aus ärmlichen Verhältnissen wurde der Kuraufenthalt von Spendengeldern finanziert. Anni wusste, dass gerade diese Kinder bald große Augen machen würden. Ihr Leben in den Arbeitervierteln spielte sich meist in düsteren und trostlosen Hinterhöfen ab, in manch einen von ihnen fiel den ganzen Tag kein Sonnenstrahl, Hauswände versperrten die Sicht auf den Horizont. Bereits die Bahnfahrt bedeutete für diese Kleinen ein Abenteuer. Es galt jedoch auch zu hoffen, dass die noch immer geschwächten Patienten diese gut überstehen würden. Viele von ihnen waren blass und abgemagert, manch eines dem Tode gerade so entronnen. Eine weite Reise konnte in einem solchen Zustand für einen kleinen Menschen beschwerlich sein. Deshalb galt das oberste Gebot, die Kinder stets zur Ruhe zu ermahnen, was besonders bei Walter und seinem Freund, dem achtjährigen Otto, schwierig werden könnte. Die beiden litten an Asthma, Otto hatte eine Lungenentzündung überstanden, Walter eine schwere Bronchitis. Diese Tatsache hinderte die Buben mit den braunen Haarschöpfen jedoch nicht daran, ständig irgendwelchen Unsinn zu machen. Just in diesem Moment war es Otto, der die neunjährige Karla, die an Hauttuberkulose litt und ebenfalls mit an die See reisen würde, an einem ihrer blonden Zöpfe zog und ihr die Zunge herausstreckte. Karla, die erst seit einigen Tagen fieberfrei war, begann zu weinen.
»Heulsuse«, blaffe Otto sie an.
»Otto, bitte«, ermahnte Anni den Buben sogleich. »Was soll das denn? Du entschuldigst dich sofort bei Karla. Ein anständiger junger Mann zieht eine Dame nicht an den Zöpfen.«
»Das ist mir egal«, antwortete Otto und sah Anni herausfordernd an. »Sie hat gesagt, ich bin dumm. Und das nur, weil ich noch nicht lesen kann. Aber ich kann das schon. Ich hab nur keine Lust darauf. Ich finde die Buchstaben eben langweilig.«
Anni verkniff sich einen lauten Seufzer. Karla Glauberg und Otto waren ein gutes Beispiel dafür, dass auf ihrer Kinderstation oftmals Welten aufeinandertrafen. Karla kam aus einem gutbürgerlichen Haushalt, ihr Vater war...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2023 |
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Reihe/Serie | Die Föhr-Trilogie | Die Föhr-Trilogie |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • Alleinerbin • Anke Petersen • Dünenhof • Familiengeschichte • Familiensaga Buch • familiensaga historisch • Famliensaga • Föhr • Föhr-Roman • Frauenroman • Frauenromane • Friesendorf • Friesenhof • Gabriella Engelmann • Großvater • Historische Bücher • historische Familienromane • historische familiensaga • historische Frauenromane • Historische Romane • historische romane 20. jahrhundert • Historische Romane Deutschland • Historische Romane Medizin • historische Romane Nordsee • Historischer Roman • Insel-Roman • Inselromane • Insel Romane • Kinderhaus • Kinderheim • Kinderkrankenschwester • Kranke Kinder • Krankenschwester • Liebesgeschichte • Nordsee • Nordsee-Insel • Nordseeküste • Romane für Frauen • Romane Nordsee • Roman Föhr • Seebad |
ISBN-10 | 3-426-46491-8 / 3426464918 |
ISBN-13 | 978-3-426-46491-5 / 9783426464915 |
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