Hannah Arendt (eBook)
528 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60348-5 (ISBN)
Thomas Meyer wurde an der LMU München promoviert und habilitierte sich auch dort. Nach zahlreichen Stationen im In- und Ausland lehrt Meyer Philosophie in München. Schwerpunkt seiner Forschungen und Publikationen bildet das 20. Jahrhundert. Er hat mehrere Schriften Hannah Arendts ediert, darunter »Wir Flüchtlinge« (2015) und »Die Freiheit, frei zu sein« (2018).
Thomas Meyer wurde an der LMU München promoviert und habilitierte sich auch dort. Nach zahlreichen Stationen im In- und Ausland lehrt Meyer Philosophie in München. Schwerpunkt seiner Forschungen und Publikationen bildet das 20. Jahrhundert. Er gibt im Piper Verlag die Schriften Hannah Arendts in einer Studienausgabe heraus.
Prolog
Das letzte Tau
Küste, die mich nicht mehr findet,
Stadt, um die mein Blick noch kreist,
wie aus Ankertiefen windet
aus Versunkenem sich mein Geist,
und dies Tau, das mich noch bindet
an die Welt, die mich gebar,
an das Festland, mit dem schwindet
alles, was Europa war:
Sprache und Musik der Landschaft,
Weltentrücktheit, Schwärmerei
und, in grässlicher Verwandtschaft,
dunkle Todesraserei.
Das Geheimnis meiner Jahre,
Worte, die ich sprach als Kind,
letztes Tau, das mich noch bindet,
wenn ich längst hinüber bin.
Hans Sahl, Lissabon, 1. April 1941, Guiné
Der 10. Mai 1941 war in Lissabon ein milder Frühlingstag. Laut amtlichem Wetterbericht kletterten die Temperaturen nicht über 19,6 Grad Celsius. Im Hafen wurden am Vormittag die Arbeiten für die Abfahrt der Guiné abgeschlossen, in wenigen Stunden würde es heißen: »Leinen los!«
Die Guiné war das kleinste der im Dienst der Companhia Colonial de Navegação stehenden Passagierschiffe. Man sah ihm seine besondere Geschichte nicht an, denn es war für den neuen Zweck umgebaut worden: Die Jungfernfahrt hatte es 1905 noch unter dem Namen San Miguel gemacht, damals war es hauptsächlich zur Beförderung von Fracht genutzt worden. Die San Miguel war ein schlankes und wendiges, geradezu elegantes Schiff gewesen. Kurz vor dem Ende des Ersten Weltkriegs, im August 1918, erlangte es in Portugal nationale Berühmtheit, und sogar der Gegner fand anerkennende Worte. Denn dem Kapitän gelang eine spektakuläre Flucht vor dem erfolgreichsten U-Boot-Kommandanten der Seekriegsgeschichte, dem deutschen Marineoffizier Lothar von Arnauld de la Perière; das Schiff entkam dem legendären Jäger, ohne dass Opfer und Verlust an Ladung zu beklagen waren.[1] Ein Dutzend Jahre später, 1930, wurde die San Miguel als Guiné II Nachfolgerin der zuvor im gleichen Jahr aus dem Verkehr gezogenen originalen Guiné. Gut zehn Jahre fuhr das umgetaufte Schiff zumeist zwischen Lissabon und Kap Verde hin und her.
Doch nicht erst im Mai 1941 war alles anders. Als Nazideutschland und seine Verbündeten in diesen ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs durch ihre Eroberungen die Fluchträume im Westen immer kleiner werden ließen, die Aktivitäten zur Rettung von verfolgten Jüdinnen und Juden daher immer größere Anstrengungen und somit auch größere Transportkapazitäten verlangten, begann das in New York ansässige American Jewish Joint Distribution Committee (JDC), häufiger Schiffe zu chartern.[2] So fuhr die Guiné erstmals am 1. April 1941 im Auftrag des JDC die Route zwischen Lissabon und New York. Insgesamt sieben Fahrten unternahm das Schiff auf dieser Strecke im Auftrag der Organisation, die letzte startete am 19. Mai 1942. Ende Oktober 1944 mietete das JDC die Guiné schließlich das letzte Mal, um 449 meist jüdische Kinder und Jugendliche nach Haifa zu bringen, wo sie am 5. November auch ankamen. Wer die Guiné betrat, durfte sich also sicherer fühlen.
Bei der ersten Fahrt für das JDC war auch der promovierte Kunsthistoriker und Dichter Hans Sahl, der eigentlich Hans Salomon hieß, mit an Bord. Im zweiten Teil seiner Memoiren eines Moralisten, die drei Jahre vor seinem Tod 1993 unter dem Titel Exil im Exil erschienen, schilderte er die Atmosphäre in der portugiesischen Hauptstadt, dem berühmten »Wartesaal« der Emigranten:
Im Hafen von Lissabon lagen Schiffe, die nicht mehr oder nur noch selten ausfuhren. In den Cafés saßen Flüchtlinge aus allen Ländern, die auf ein Visum warteten und sich in vielen Sprachen Gehör zu verschaffen suchten. Da saßen die Schwarzhändler und boten Schiffskarten an für kleine portugiesische Dampfer, die vierzehn Tage brauchten, um nach Amerika zu fahren.
Man glaubte in Sicherheit zu sein … Die Sicherheit war jedoch trügerisch. Solange man noch nicht das amerikanische Visum hatte, war man noch in Europa, und Hitler hatte fast ganz Europa besetzt. Warum sollte er Portugal verschonen? Man musste sich beeilen. Man musste sich einen Schiffsplatz sichern, bevor es zu spät war.[3]
Was wohl die 189 Passagiere, zumeist aus ganz Europa geflüchtete Jüdinnen und Juden, dachten und fühlten, die am 10. Mai 1941 im Hafen gemeinsam mit Hannah Arendt und Heinrich Blücher das Schiff bestiegen? Ernst Emil Rollmann und seine Ehefrau Hildegard etwa?
Kaum ein Jahr zuvor hatten sich Rollmanns Eltern Hans und Maria auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in Calais aus Verzweiflung das Leben genommen. In Deutschland waren die Rollmanns nicht irgendwer gewesen, sondern eine alteingesessene jüdische Kölner Familie, die sich in der dritten Generation als Schuhfabrikanten etabliert hatte. Am 29. Dezember 1921 hatte Hans Rollmann zusammen mit Karl Kaufmann und Carl Michael in dem südöstlich von Trier an der Ruwer gelegenen Örtchen Gusterath-Tal die über viele Jahrzehnte berühmte Schuhfabrik Romika gegründet, die in den besten Zeiten bis zu 2000 Menschen beschäftigte. Die drei Söhne Rollmanns, darunter Ernst Emil, sollten einmal das Geschäft übernehmen, doch gleich 1933 begann die systematische Zerstörung der persönlichen und beruflichen Existenz der Rollmanns.
Ernst Emils Frau Hildegard hatte während der Weimarer Republik Psychologie studiert; sie würde ihre akademische Ausbildung in den USA fortsetzen, wo sie später als Psychoanalytikerin sehr bekannt wurde. Und sie war nicht die einzige Frau an Bord, die sich intensiv mit Sigmund Freud beschäftigt hatte. Da gab es auch die 1907 in Wien geborene, 1929 bei dem berühmten Psychologen Karl Bühler promovierte und von seinem nicht minder bekannten Kollegen Jean Piaget über die Schweiz ins rettende Lissabon gelotste Käthe Wolf, die gemeinsam mit ihrer Schülerin und Freundin Anne-Marie Leutzendorff an Bord gegangen war. Beide erarbeiteten sich in den USA einen guten Ruf als Kinderpsychologinnen.
Blickt man weiter auf die alten Passagierlisten der Guiné vom 10. Mai 1941, entdeckt man dort auch den »author« Heinrich Blücher und seine »wife« Johanna Blücher. Laut Eintrag waren beide staatenlos und trugen ein in Marseille ausgestelltes Visum mit dem Datum vom 19. September 1940 mit sich: er, 41, »German«, geboren in Berlin, sie, 34, »Hebrew«, geboren in Hannover.
Durch viel Mut, eine gehörige Portion Glück und vor allem die Unterstützung verschiedener Organisationen und Menschen war es den Blüchers nicht nur gelungen, französischen Lagern zu entkommen, sondern sich auf der Flucht auch wiederzufinden. Dass sie dann in Marseille auf den Amerikaner Varian Fry[4] und seine Mitarbeiter trafen, war kein Zufall. Der Ruf des 1940 gegründeten Emergency Rescue Committee hatte sich rasch verbreitet, und durch die Zusammenarbeit mit dem im gleichen Jahr seine Arbeit aufnehmenden Unitarian Service Committee und verschiedenen Gruppierungen, darunter die Pariser Quäkergemeinde, war die Rettungsorganisation in der Emigrantenszene weithin bekannt. Und dennoch war persönliche Unterstützung unverzichtbar, bevor Fry, ein an der Universität Harvard ausgebildeter Altphilologe und Journalist, den Blüchers die rettenden Visa ausstellen konnte.
Zunächst galt es, Affidavits zu besorgen, Unterhaltsgarantien durch Bürger des Einreiselandes. Dies gelang über Kontakte von Arendts seit 1936 in New York lebendem ersten Ehemann Günther Stern-Anders, der über verschiedene jüdische Organisationen an den humanistisch eingestellten Unternehmer Charles Goodman empfohlen wurde. Zusammen mit dem aus Ungarn stammenden Morris Gintzler (Moricz Gunczler), der sich vom Laufburschen bis zum Präsidenten der Pulp and Paper Trading Corporation hochgearbeitet hatte, bürgte er für das Ehepaar. Den Kontakt zu Fry wiederum stellte vermutlich der später als Sozialwissenschaftler berühmt gewordene Albert O. Hirschmann her.[5] Er kannte Blücher und setzte sich trotz des zweifelhaften Rufs in der Familie bei Fry...
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2023 |
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Zusatzinfo | Mit zahlreichen Abbildungen |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Banalität des Bösen • Biografie • Denkerin • Eichmann in Jerusalem • Hannah Arendt • Hannah Arendt Leben • Nachlass Hannah Arendt • Philosophie • Philosophin • Totalitarismus • Vita activa |
ISBN-10 | 3-492-60348-3 / 3492603483 |
ISBN-13 | 978-3-492-60348-5 / 9783492603485 |
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