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Rosa Schleim (eBook)

Roman | Preisgekrönte Eco-Lit aus Südamerika
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
288 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2951-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Rosa Schleim -  Fernanda Trías
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Ein berührender Roman darüber, wie Krisen unsere intimsten Bindungen auf die Probe stellen Eine Frau zieht durch eine Hafenstadt, deren Infrastruktur zusammengebrochen ist. Wie fremdgesteuert pendelt sie zwischen ihrer isoliert lebenden Mutter, dem erkrankten Ex-Mann und einem Kind, das nicht ihres ist und für das sie doch Zärtlichkeit hegt. Sie bewegt sich aus schlichter Notwendigkeit, und erst als die Stadt immer leerer wird, ihre Bindungen gekappt sind, steht sie vor der Frage, was sie will. Mit einer verstörenden, zeitweise eigentümlich lyrischen, Prosa schafft Fernanda Trías ein außergewöhnliches Universum, das die Zerbrechlichkeit menschlicher Beziehungen auslotet. Der Roman fragt nach dem Verhältnis von bezahlter und unbezahlter Care-Arbeit und danach, wie freiwillig unsere Beziehungen, wie handlungsfähig wir selbst sind. Rosa Schleim erzählt die Geschichte einer Frau und ihrer Einsamkeit, von einer ökologischen Katastrophe und einer zerstörten Welt, von Mutterschaft, Hunger und Stille. *** »Mit herzzerreißenden Schönheit erzählt.« Jordi Carrión, The New York Times  »Ein poetischer und hartnäckiger Wirbelwind, schrecklich und erhaben.« Aura Lucía Mera, El País Colombia

Fernanda Trías, geboren 1976 in Montevideo, lebte im Rahmen von Stipendien und Forschungsaufenthalten im Süden Frankreichs, in London, Berlin und Buenos Aires. An der New York University studierte sie Kreatives Schreiben. Für Rosa Schleim wurde sie 2021 mit dem Sor Juana Inés de la Cruz Preis ausgezeichnet. Derzeit lehrt sie Kreatives Schreiben an der Universidad de los Andes in Bogotá, Kolumbien.

Fernanda Trías, geboren 1976 in Montevideo, lebte im Rahmen von Stipendien und Forschungsaufenthalten im Süden Frankreichs, in London, Berlin und Buenos Aires. An der New York University studierte sie Kreatives Schreiben. Für Rosa Schleim wurde sie 2021 mit dem Sor Juana Inés de la Cruz Preis ausgezeichnet. Derzeit lehrt sie Kreatives Schreiben an der Universidad de los Andes in Bogotá, Kolumbien.

2


Es war einmal.
Was?
Es war einmal ein Einmal.
Das, was niemals war?
Das, was nie mehr.

Die wenigen Taxis, die auf der Rambla unterwegs waren, fuhren im Schritttempo, mit geschlossenen Fenstern. Sie waren auf der Jagd nach einem Notfall, irgendeinem armen Teufel, der mitten auf der Straße zusammenbrach, um ihn vor den Toren der nahegelegenen Universitätsklinik Clínicas abzuladen. Das Risiko lohnte sich. Das staatliche Gesundheitswesen zahlte die Fahrt nebst einem Infektionsrisikozuschlag. Manche weigerten sich jedoch, Kranke einzusammeln; andere nahmen nur Patienten mit Maske mit. Ich winkte einem, der mich anhupte, ehe er an mir vorbeifuhr. Ich streifte den Rucksack ab und stellte ihn auf den Boden, zwischen meine Füße. Er war vollgepackt mit Büchern. Die Epidemie hatte uns zurückgebracht, was vor einigen Jahren noch verloren schien: ein Land von Lesern, versunken fernab des Meeres, die Reichen auf ihren Landgütern oder in ihren Villen in den Bergen; die Armen, in die Städte im Landesinneren strömend, die wir früher noch als verwaist, karg und stumpfsinnig verspottet hatten. Meine Mutter folgte nicht der editorischen Mode, aber sie tauschte mit der Lehrerin Bücher, und, wenn sie alle gelesen hatte, gab sie sie an mich weiter.

Zwei weitere Taxis fuhren an mir vorbei, bevor ich Glück hatte. Kaum hatte der Fahrer mich begrüßt, erkannte ich schon, was für ein Typ er war. Er gehörte zu denen, die glaubten, eine tiefere Wahrheit, die Wahrheit der Straße zu kennen.

»Mit diesem Rucksack erregst du Aufsehen«, sagte er.

»Die werden nicht viel finden.«

Ich legte den Rucksack neben mich auf den Sitz und nannte ihm die Adresse meiner Mutter. Durchs Fenster erspähte ich, verschwommen hinter einem schmutzigen Dunstschleier, den Palast der Freimaurerloge auf der anderen Seite der Uferstraße.

»Los Pozos? Wohnst du da?«

»Ich besuche nur jemanden.«

Er prahlte damit, das Viertel gut zu kennen. Hier in der Gegend habe er seine Kindheit verbracht, im Haus seiner Großmutter. Ich sagte, ich auch, obwohl das gelogen war. Nach der Evakuierung hatte meine Mutter beschlossen, in eines der verlassenen Häuser von Los Pozos zu ziehen. Die Besitzer vermieteten sie für kleines Geld, Hauptsache, man hielt sie instand, mit diesem Stolz der verarmten Aristokratie. Sie wollten hübsch gepflegte Gärten, keine vermauerten Fenster und keine Landstreicher in ihren Räumen. Diese glorreiche Vergangenheit war es, die meiner Mutter ein Gefühl von Sicherheit gab, nicht etwa der gewonnene Abstand zwischen den Algen und ihr. Meine Mutter hegte ein blindes Vertrauen in hochwertiges Material und vielleicht dachte sie, die Seuche könne eine feste Hauswand, dick und dämmend, und eine gute Dachkonstruktion, ohne Ritzen, durch die der Wind hereinzog, nicht durchdringen. Das Wasser des Riachuelo war weniger kontaminiert als das an der Rambla, aber ein übler Gestank, eine Mischung aus Abfall, Schlamm und Chemie ergoss sich trotzdem über das Viertel.

Direkt an der Ecke, wenige Meter vor der Ankunft, durchwühlte jemand einen Müllcontainer.

»Sehen Sie? Das sind die, die uns später ausrauben«, sagte der Taxifahrer. »Die haben weder Angst vor dem Roten Wind noch vor seiner roten Mutter.«

Der Mann zappelte mit den Beinen wie ein Insekt, um nicht kopfüber in den Müll zu fallen. Der Nebel lichtete sich auch in Los Pozos nicht. Im Gegenteil, vom Wind geschützt, wurde er hier noch zäher. Die Wolken schienen an Ort und Stelle zu entstehen, aus dem Boden ausgedünstet, und die Feuchtigkeit legte sich aufs Gesicht, kalt und kriechend wie der Schleim einer Schnecke.

»Weißt du, wie ich die nenne, die hier wohnen?«, fragte der Taxifahrer.

»Wie denn?«

»Weder Fisch noch Fleisch. Nicht ganz verrückt noch ganz bei Verstand.« Er lachte. »Habe ich nicht recht?«

Ich öffnete das Tor und nahm gleich Kurs auf den Garten. Wozu mich anmelden? Wenn meine Mutter nicht zu Hause war, hielt sie sich sicher bei der Lehrerin auf, die ihr Haus nicht hatte verlassen wollen, weil sie sich nicht von ihrem Flügel trennen konnte. So verbrachten sie ihre Nachmittage, meine Mutter las, und die Lehrerin griff in die Tasten oder tat so, als spielte sie etwas Erhabenes. Mitunter gesellten sich noch ein paar betagte Nachbarn aus Los Pozos hinzu, und dann schlüpften meine Mutter und die Lehrerin in die Rolle zweier Gastgeberinnen in einer verfallenen Stadt. Die Gäste baten meine Mutter, ihnen Bücher zu empfehlen, und sie erzählte ihnen von diversen Romanfiguren, als redete sie von ihren Nachbarn: »Was kann man schon von so jemandem erwarten? Ihr sollte man lieber aus dem Weg gehen, eine vom Schicksal gebeutelte Frau, ein armer Teufel.«

Ich traf meine Mutter im Garten an, wo sie, die Füße im Beet versunken, mit einer Riesenschere die Pflanzen stutzte. Meine knirschenden Schritte schreckten sie auf, und als sie mich erblickte, streifte sie sich einen der mit Erde verschmutzten und für ihre Hände viel zu großen Handschuhe ab.

»Komm, sieh dir das mal an«, sagte sie.

Sie zeigte mir die neuen Triebe der Pflanzen, die sie als ein Wunder betrachtete, als einen Sieg des Lebens über diesen Tod aus Säure und Finsternis. Ich erzählte ihr, in Tschernobyl gebe es mehr Tiere denn je, und selbst die vom Aussterben bedrohten hätten sich dank der Abwesenheit von Menschen wieder vermehrt. Meine Mutter deutete es nicht als Ironie, sondern – erneut – als Triumph über den Tod.

»Der Menschen, Mutter. Über den Tod der Menschen.«

»Details«, sagte sie und zeigte auf die Tür zur Küche. »Hast du Hunger? Ich habe Scones gebacken.«

Auf der Marmorarbeitsfläche fand ich Brot, Käse, Orangenmarmelade und sogar eine Avocado. Wo hatte sie die bloß aufgetrieben? Besser nicht fragen. Die Scones waren mit einem weißen Geschirrtuch zugedeckt. Ein wahres Festmahl für mich, denn vor Mauro konnte ich mein Essen höchstens zwischendurch herunterschlingen. Essen, wenn der Körper es verlangte, war mir als Vorstellung fremd geworden, ein Impuls, den ich ignorierte. Ich musste meine Bedürfnisse vergessen, meinen Hunger dem von Mauro anpassen, mir schnell etwas hineinstopfen, wenn er schlief, um einen weiteren Wutanfall zu vermeiden. Das waren Tricks und Strategien, die ich im Laufe der Monate gelernt hatte.

Ich packte alles auf ein Tablett und ging zurück in den Garten.

»Wir müssen die Waffenruhe ausnutzen!«, sagte ich, während ich das Tablett klirrend auf dem Glastisch mit den leicht angerosteten gusseisernen Beinen abstellte.

Zwei Scones, Butter, Marmelade, eine Tasse Tee, das dazu passende Besteck. Ich musste verbergen, welche Freude mir diese banalen Dinge bereiteten: das Scone mit der Hand zerteilen, spüren, wie es in der Mitte trocken zerbrach; die Butter in feinen Schichten abstreichen mit diesem speziellen Messerchen mit der runden Spitze, das wie ein Spielzeug aussah; den Tee mit einem Silberlöffel umrühren, der schwerer war als mein gesamtes Besteck. Privilegien, die uns nur diese Katastrophe hatte bescheren können. Wir tranken Tee in einem Garten von Los Pozos, wo der Nebel uns wie Mullfetzen umhüllte.

»Du hast die Haare kurz geschnitten«, sagte meine Mutter. »Und jetzt sind sie krauser.«

»Das liegt an der Feuchtigkeit.«

»Lang standen sie dir besser. So wirkst du stumpfer. Lange Haare machen dich lebendiger.«

»Mir gefällt es so.«

»Ich tue nur meine Pflicht, dir das zu sagen«, bemerkte sie achselzuckend. »Wenn deine eigene Mutter dir die Dinge nicht mehr sagt …«

»Wenigstens bist du ehrlich, das muss ich dir lassen.«

»Schlimmer wäre es, zynisch zu sein, Kind. Man sollte dankbar sein, wenn jemand in diesen Zeiten noch aufrichtig ist. Außerdem rede ich ja nur von Haaren. Und Haare wachsen nach, nicht?«

Sie wandte den Blick zur Seite, in die Ferne, dorthin, wo sich der Garten des Nachbarhauses befand, der Villa mit den geschlossenen Läden und den schwarzen Löchern an den Stellen, an denen die Dachziegel fehlten. Hinter der Nebelwand deuteten sich weitere Häuser an, die meisten zugemauert, verwittert vom Leerstand oder von der verseuchten Luft.

»Resignation ist keine Tugend«, sagte sie. »Man muss kämpfen für das, was man in diesem Leben will.«

»Sag mal, Mutter, warum bleibst du eigentlich hier?«

Die Gartenhandschuhe lagen auf dem Tisch und erinnerten mich an die abgetrennten Hände eines Riesen.

»Das gleiche frage ich dich. Was willst du beweisen, Kind? Was hat man dir angetan, dass dir an deinem eigenen Leben nichts mehr liegt?«

»Max hat damit nichts zu tun.«

»Was gibt’s Neues von ihm? Sei ehrlich. «

»Nichts. Ich weiß nichts.«

»Du hast getan, was du konntest«, sagte sie, »aber auf dieser Ehe lag ein Fluch.«

»Was für ein Wort … Und weißt du noch, wer sie vom ersten Tag an verflucht hat?«

Meine Mutter blickte zu Boden, auf einen Fleck zwischen ihren Füßen. Die Ellenbogen auf den gusseisernen Rand des Glastisches gestützt, hielt sie sich den Kopf, während ihre Locken vornüberfielen und ihr...

Erscheint lt. Verlag 23.2.2023
Übersetzer Petra Strien
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Arbeit • Bindung • Care • Care-Arbeit • Corona • Dystopie • eco-lit • Ehe • Feminismus • Krise • Lateinamerika • Literatur • Mutter • Natur • Nature • Naturkatastrophen • Pandemie • Preisgekrönt • Selbstbestimmt • sor juana de la cruz • Sozial • Uruguay • Writing
ISBN-10 3-8437-2951-4 / 3843729514
ISBN-13 978-3-8437-2951-2 / 9783843729512
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