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Das Café ohne Namen (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman
eBook Download: EPUB
2023
288 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2901-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Café ohne Namen -  Robert Seethaler
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Ein Café und seine Menschen. Ein Mann, der seiner Sehnsucht folgt. Robert Seethalers neuer Roman. Wien im Jahr 1966. Robert Simon verdient sein Brot als Gelegenheitsarbeiter auf dem Karmelitermarkt. Er ist zufrieden mit seinem Leben, doch zwanzig Jahre nach Ende des Krieges hat sich die Stadt aus ihren Trümmern erhoben. Überall wächst das Neue, und auch Simon lässt sich mitreißen: Er pachtet eine Gastwirtschaft und eröffnet sein eigenes Café. Das Angebot ist überschaubar, und genau genommen ist es gar kein richtiges Café, doch die Menschen aus dem Viertel kommen und sie bringen ihre Geschichten mit - von Sehnsucht, vom unverhofften Glück, vom Tod. Sie kommen auf der Suche nach Gesellschaft, manche hoffen sogar auf die Liebe, und während die Stadt um sie herum erwacht, verwandelt sich auch Simons eigenes Leben. Das Café ohne Namen ist ein Roman über den menschlichen Drang zum Aufbruch. Mit einem Reigen unvergesslicher Figuren und seiner besonderen Aufmerksamkeit für die Details des Lebens erzählt Robert Seethaler davon, wie eine neue Welt entsteht, die wie alles Neue ihr Ende schon in sich trägt.
Spiegel-Bestseller

Robert Seethalers Bücher wurden in über 40 Sprachen übersetzt. Mit seinem Roman Ein ganzes Leben stand er auf der Shortlist des International Booker Prize. Er lebt in Berlin und Wien.

2.


Am nächsten Morgen stand Robert Simon um neun Uhr an der Ecke vor dem Café. Der Hauseigentümer, Kostja Vavrovsky, hatte ihn bestellt. »Kommen Sie pünktlich«, hatte er gesagt. »Ansonsten pascht Ihnen jemand das Geschäft unter der Hand weg. Ist eine gute Lage, und die Wirtschaft beginnt ja wieder zu sprudeln in dieser Zeit.«

Das mit der Lage konnte man auch anders sehen. Das Viertel um den Karmelitermarkt war eines der ärmsten und schmutzigsten in Wien, an vielen Kellerfenstern klebte immer noch der Staub der Schutthalden, die der Krieg hinterlassen hatte und die das Fundament für die neuen Gemeindebauten und Arbeiterwohnblöcke bildeten. Mit der sprudelnden Wirtschaft konnte Vavrovsky jedoch recht behalten. In den Zeitungen, in die die Fischhändler ihre Saiblinge und Donauforellen wickelten, war von großen Dingen zu lesen. Aus dem Sumpf der Vergangenheit würde sich eine strahlende Zukunft erheben. Überall knatterten, hämmerten und kreischten die Maschinen, und der Dampf über den frisch geteerten Straßen vermischte sich mit dem Duft der Praterwiesen und der herben, feuchten Luft, die der Wind von den Donauauen hertrieb.

»Aus der Sache wird was«, sagte Vavrovsky. »Glauben Sie mir, ich verstehe was vom Geschäft.« Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche, öffnete die Eingangstür und ließ Simon den Vortritt.

»Sind die Fenster erst einmal sauber, gibt es ein schönes Licht. Außerdem spart es Heizkosten.«

»Geht der Kessel wieder?«

»Der war noch nie kaputt. Bloß ein bisschen verstopft.«

Simon sah sich um. Er war in den letzten Wochen einige Male hier gewesen, doch jetzt kam ihm alles nur düster und schäbig vor. Die Gläser in den Regalen waren stumpf vor Staub. Über die Spüle liefen Kalkschlieren. Auf dem Boden hinter dem Tresen lag ein einzelner schwarzer Damenschuh.

»Das gehört jetzt alles Ihnen«, sagte Vavrovsky. »Wenn Sie’s richtig machen, können Sie in ein paar Tagen aufsperren.«

Er legte die Schlüssel auf den Tresen und lächelte. »Ich komm mal auf ein Glas vorbei«, sagte er. »Hab’s ja nicht weit!«

Kostja Vavrovsky bewohnte das oberste Stockwerk seines Hauses, zweieinhalb Zimmer unter dem Dach. Noch vor zwei Tagen waren Simon und er an seinem Küchentisch gesessen und hatten den Pachtvertrag durchgearbeitet. Während Simon versucht hatte, aus den vielen Paragrafen einen Sinn herauszulesen, hatte er über seinem Kopf das Trippeln und Kratzen der Tauben gehört und sich zu ihnen gewünscht, um von dort oben weit über die Praterauen und in die andere Richtung zu den schattigen Hängen des Kahlenbergs zu schauen. Die umständlichen Formulierungen erfüllten ihn mit Unbehagen. Solange er zurückdenken konnte, hatten ihn Buchstaben eher verwirrt, als ihm ein Gefühl von Ordnung zu geben. Als Kind hatte er nicht viel Zeit in der Schule verbracht. An dem Tag, als er mit einem Stück Brot und einem Schreibheft in der Hand zum ersten Mal die Volksschule in der Malzgasse betrat und auf seinen Platz zwischen dreiundvierzig anderen Kindern gesetzt wurde, war der Krieg in vollem Gange, und nicht einmal drei Jahre später verwandelten die Alliiertenbomber an einem frühen Morgen das Schulgebäude mitsamt dem darunterliegenden Luftschutzkeller in einen schwarzen, rauchenden Haufen.

Schon damals konnte er sich an die Zeit vor dem Krieg kaum noch erinnern. Sein Vater war eine Art Märchengestalt, ein Schatten, der – immerhin war ihm dieses Bild geblieben – mit einem schweren Mantel und dem Marschbefehl in der Tasche zur Tür hinaus gegangen und nie wieder heimgekehrt war. Nur drei Monate nach der Nachricht vom Heldentod im Feldlazarett starb die Mutter an einer Blutvergiftung, die sie sich beim Entrosten alter Eisennägel zugezogen hatte. Zu verwirrt, um richtig traurig zu sein, lebte Robert fortan in einem Heim für Kriegswaisen der Barmherzigen Schwestern. Die Zeit im Heim inmitten der anderen verlorenen Kinder ließ die Gesichter seiner Eltern und alles, was mit ihnen zu tun hatte, verblassen. Übrig blieben die Erinnerungen an einen schweren Mantel und an ein nach Küche duftendes Schürzenkleid sowie das verschwommene Bild eines in gelbes Licht getauchten Treppenaufgangs, auf dessen oberster Stufe eine Brille mit fein zerkratzten Gläsern lag, was auch immer das zu bedeuten hatte.

Das Kriegsende erlebte der junge Simon als eine Art verschluckten Jubel. Die Leute konnten nicht begreifen, dass es vorbei war, und nur ganz langsam wich das Entsetzen in ihren Gesichtern einem Ausdruck zaghafter Erleichterung. Dann fingen sie an aufzuräumen. Durch das Fenster des Klassenzimmers konnte Robert beobachten, wie Menschen mit Schaufeln, Hacken und Eimern über die Schuttberge krochen. Manche saßen zu Mittag auf den zerschossenen Grundmauern, aßen Brote und tranken Tee aus Blechkannen. Hier und da ragte ein Paar spitzer Knie aus dem Schutt, wenn einer sich zum Ausruhen hingelegt hatte. Manchmal glaubte Robert unter den staubgrauen Frauen und Männern seine Eltern zu erkennen: die schöne, junge Mutter, eine Schaufel hoch über den Kopf erhoben; den Vater, einen schmutzigen Hut in der Stirn, das Gesicht verborgen hinter einem Schleier aus blauem Zigarettenqualm.

Mit dem Ende seiner Schulzeit hatte sich die Stadt verwandelt. Der Staub und die Asche waren in den Boden gesunken. Viele der kaputten Häuser waren abgetragen, auf den Brachen wucherte Unkraut, kleine Kinder spielten mit Scherben und Splittern. Nach und nach wurden die Lücken geschlossen. Überall schossen Gemeindebauten auf, zehn Stockwerke hoch, hell verputzt und mit gläsernen Eingangstüren, die Wohnungen mit gefliesten Bädern und Innentoiletten.

An einem warmen Tag im Mai 1947 stand Robert Simon gemeinsam mit einigen Hundert jubelnden Wienern und Wienerinnen im Prater und sah zu, wie sich das von den Bomben skelettierte und nun frisch renovierte und um fünfzehn Waggons erleichterte Riesenrad endlich wieder zu drehen begann. Auch er jubelte und schrie, gleichzeitig kam er sich irgendwie falsch vor. Er fühlte sich unwohl im Schatten dieses ächzenden Ungetüms, dessen Verstrebungen ihm viel zu zart erschienen, um die Holzwaggons mit ihren winkenden und lachenden Insassen zu tragen. Er fröstelte in der warmen Frühlingsluft, und noch viel später an diesem Tag dachte er mit Besorgnis an das Riesenrad. Es war zu groß und zu schwer, da war er sich sicher. Der Stahl würde reißen, nah an der Achse oder an den Gelenken oberhalb der Waggons. Die ganze Konstruktion würde unmöglich halten über die Zeit. Er wunderte sich über die Begeisterung, die ihn überschwemmt und mitgerissen hatte, er schämte sich für sein Geschrei inmitten so vieler fremder Menschen, und doch wünschte er sich, einmal in einer der roten Kisten zu schweben, hoch über dem nervösen Gewimmel der Stadt.

Mit fünfzehn verließ er die Schule ohne das geringste Bedauern. Er konnte lesen und schreiben und fand mit dem Finger auf der Karte die wichtigsten Länder sowie deren Hauptstädte, was seiner Meinung nach genügte, um sich in der Welt zurechtzufinden. Da es an gesunden Männern mangelte, hatte er keine Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Mit einem Trupp ausgemergelter Schlesiendeutscher setzte er kniehohe Trockenmauern in die Grinzinger Weinberge, jätete Unkraut und kratzte Kalk und Weinstein aus den Kellerfässern. Er füllte die Bombentrichter im Stadtpark mit Schutt und Erde und klopfte am Südbahnhof das Eisen aus den Ruinen. Eine Zeit lang arbeitete er als Abräumer und Fetzenbursch in den Pratergastgärten, und vielleicht war es hier, wo sich in ihm – während er im Licht der bunten Lampions zwischen den Tischen herumlief und nach leeren Gläsern, Hühnerknochen und Zigarettenstummeln Ausschau hielt – zum ersten Mal der Keim einer Sehnsucht regte: etwas zu tun, das seinem Leben eine entscheidende Bekräftigung gab. Einmal hinter der Schank seiner eigenen Wirtschaft zu stehen.

Für den Rest seiner Jugend lebte Robert Simon bei den Barmherzigen Schwestern, später kam er in einem Wohnheim der Volkshilfe unter, ehe er schließlich über eine Zeitungsannonce das möblierte Zimmer bei der Kriegerwitwe fand. BIETE SAUBERE UNTERKUNFT FÜR ANSTÄNDIGEN MENSCHEN. VORÜBERGEHEND ODER DAUERHAFT. KEINE GAUNER, KEINE TRINKER, KEINE FRAUEN. POLIZEILICHE MELDUNG. FESTE SCHLAFENSZEITEN. WÄSCHE, OFEN UND RADIOGERÄT VORHANDEN. BEI BEDARF FRÜHSTÜCK.

Beim Vorstellungsgespräch stand Simon in der Wohnung der Witwe und versuchte, einen soliden Eindruck zu machen. Er hatte sich von einem Arbeitskollegen einen Traueranzug geliehen und Pomade ins Haar geschmiert. Die Ärmel waren zu kurz und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er kam sich dumm vor in seiner Aufmachung und außerdem zu groß und zu ungelenk für eine so damenhafte Umgebung mit den gepolsterten Möbeln und den beiden feingliedrigen Porzellantänzerinnen auf dem Fensterbrett.

»Schön«, sagte die Witwe. »Hier sind Sie also.«

»Wahrscheinlich suchen Sie jemand ganz anderes«, sagte Simon.

»Wen denn?«

»Weiß nicht. Jemanden, der besser hier reinpasst.«

»Wollen Sie das Zimmer sehen oder nicht?«

Er nickte, und sie gingen nach nebenan. Der Raum...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Aufbruch • Café • Ein ganzes Leben • Gasthaus • Gastwirtschaft • Gelegenheitsarbeit • Karmelitermarkt • Nachrkiegszeit • Robert Seethaler • Sehnsucht • Trafikant • Wien • Wirt
ISBN-10 3-8437-2901-8 / 3843729018
ISBN-13 978-3-8437-2901-7 / 9783843729017
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