Die Krume Brot (eBook)
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01487-9 (ISBN)
Adelina, Tochter italienischer Einwanderer, arbeitet in einer Schweizer Fabrik, als sie sich 1973 nach kurzer Ehe allein mit einem Kind wiederfindet, Emma. Ein quälender Kampf ums Überleben beginnt, bis sie einen älteren Belgier kennenlernt und in dessen Gutshof im Piemont zieht.
Vieles wird nun leichter, aber ohne Liebe bleibt alles fad. Und eines Tages ist der Belgier fort, mitsamt dem Kind.
Kurz darauf taucht ein Mann auf, ein Streuner, ein Brigant. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach Emma. Der Mann ist oft fort und kehrt zurück mit Geld, Essen und Zeitungen, in denen von Überfällen und ausgeraubten Munitionsdepots berichtet wird.
Er nimmt Adelina mit in seine Mailänder Kommune, und zum ersten Mal fühlt sie sich als Teil einer Gruppe. Sie macht Schießübungen und Botengänge, geht der Polizei aus dem Weg. Das ist nicht schwierig, denn die Bullen sind beschäftigt.
In dieser Zeit der Bomben und der Gewalt sucht eine Mutter ihre Tochter, lange vergeblich. Bis der Streuner meldet, er habe in dem Gutshof Licht gesehen: Ein Mann sei dort, ein Mann mit einem Kind.
Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun, ist Dramatiker, Romancier und streitbarer Publizist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, die Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich. Für seine Werke wurde er u.a. mit dem Berliner Literaturpreis, dem Schweizer Buchpreis und dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.
Der neue Roman von Lukas Bärfuss führt uns in die 1970er-Jahre und findet dort Themen, die auch unsere Gegenwart bestimmen.
Dies ist der Auftakt zu einer Romantrilogie, im Mittelpunkt stehen Frauen und die Frage: Wo bleibt die Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft?
Die Krume Brot speist sich aus zwei Quellen. Aus der Herkunft des Autors: Adelina teilt viele Erfahrungen mit seiner Mutter. Und aus der Geschichte jener Epoche, in der sich Wege in der Gesellschaft und in den Biografien verzweigten, die bis heute nicht zusammengefunden haben.
Niemand weiß, wo Adelinas Unglück seinen Anfang nahm, aber vielleicht begann es lange vor ihrer Geburt, fünfundvierzig Jahre vorher, um genau zu sein, an der Universität in Graz. Dort hatte ihr Großvater, ein Mann namens Angelo Mazzerini, während seines Studiums der Rechtswissenschaften die verbotenen Schriften von Cesare Battisti gelesen, und von da an verehrte er die Karstlandschaft Istriens als heiligen Boden, hasste er das Imperium, den österreichischen Kaiser und seine Henker. Für den Studenten aus Triest fand jede Frage ihre Antwort in der Geschichte, und mit Barzini sah er seine Heimatstadt als Bollwerk der römischen Zivilisation. Ohne den Abwehrkampf an der Adria hätten die Slawen längst das Abendland überrannt. Die Habsburger, deren Untertan er war, stützten diese Horden mit ihrem Geld, ihren Waffen und ihren Gerichten. Italiener wie er, Abkömmlinge eines Weltreichs, hatten im Himmel einen Verbündeten, auf Erden standen sie seit fünfzehnhundert Jahren alleine im Kampf gegen die Vernichtung. Ungeheure Mächte hatten sich verschworen, um die Latinität auszurotten, wie es in Dalmatien geschehen war, und wenn viele in Triest ihn für verrückt hielten, dann nur, weil sie sich von Wien hatten kaufen lassen.
Als Italien im Mai 1915 Österreich den Krieg erklärte, befand sich Angelo auf Urlaub in seiner Heimatstadt, und nach einer schlaflosen Nacht, in der er sich betend an Fortunatus wandte, den Patriarchen von Grado, der sich im achten Jahrhundert ebenfalls gegen ein Imperium, gegen Byzanz, gestellt hatte, zerriss er den Einberufungsbefehl des Kaisers und verließ im Morgengrauen, ohne von seinen Eltern Abschied zu nehmen, die Wohnung an der Via dell’Istria.
Über Udine, Padua, Ferrara und Bologna kam er bis nach Rom. Dort schloss er sich als Freiwilliger den Granatieri di Sardegna an und wurde nach einer dreiwöchigen Ausbildung an die Front bei Monfalcone verlegt. Beim Sturm auf die österreichischen Stellungen erlitt er eine Beinverletzung, und die Monate darauf, bis zu seiner Genesung, saß er als Leutnant der Territorialmiliz in den Bergen bei Garda ab, bevor man Angelo in ein Regiment versetzte, das im Mai 1916 auf der Hochebene bei Asiago fast vollständig aufgerieben wurde. Mit einer Tapferkeitsmedaille in Gold nahm er unter dem Herzog von Aosta an der Schlacht von Caporetto teil und kehrte nach dem Waffenstillstand von Villa Giusti im November 1918 in seine Heimatstadt zurück.
Mutter und Vater waren an der Cholera gestorben. Angelo, alleine in der elterlichen Wohnung, fand sich in der Zeit nach dem Zusammenbruch der Doppelmonarchie im Leben nur schwer zurecht. In seinen Träumen begegnete er den sterbenden Kameraden, und sonntags, wenn seine Seele an der frischen Seeluft Linderung suchte, sah er ihre Gespenster mit ausgerissenen Augen und zerfetzten Beinstümpfen über die Mole kriechen. Er trank, rauchte und zermarterte sich das Gehirn, etwa, was er über Rossetti denken sollte, ob der geniale Ingenieur eher Bewunderung verdiente, da er mit einem Torpedoboot das Flaggschiff der Österreicher, die Viribus Unitis, im Hafen versenkt hatte, oder ob er ihn als Patriot verachten musste, weil er zu den Republikanern, den Verrätern am Vaterland, übergelaufen war.
Zu seinem Glück hörte Angelo an einem Donnerstag Ende Dezember im Hof der alten Kaserne einen ehemaligen Scharfschützen aus dem Bersaglieri-Regiment über Oberdan und die nationale Frage der Italiener in Venetien dozieren. Ein herrlicher Redner, dessen Worte die Herzen fanden, und als er von der religiösen Erbauung auf dem Schlachtfeld sprach, das neue Geschlecht beschwor, erstanden im heiligen Lärm der Artillerie, eine Elite, bereit, die nationale Wiedergeburt anzuführen, da bebte Angelos verwundete Seele, und wie dieser Mann, Mussolini war sein Name, den Karst erwähnte, den ewigen Hain der italienischen Märtyrer, da wusste der junge Mann, wer für seine und die Sache der Nation einstand.
Er fand eine Stelle als Buchhalter bei der Generali und hatte die Absicht, sich bei der Wahl zur nächsten Bürgerversammlung aufstellen zu lassen, aber auf einer Abendveranstaltung der Società di Minerva, bei der ein Professor aus Bologna über die archäologischen Ausgrabungen in Venetien berichtete, begegnete er Paola Carnieri, einer blonden Dame mit dünnem Haar, die sich den ganzen Abend auf den Arm ihres Vaters stützte und sich immer wieder nach Angelo umwandte. Sie war eigentlich keine Frau nach Angelos Geschmack, ihr Silberblick und ihre Blässe stießen ihn ein wenig ab, aber da sein Begehren bisher nur in den Schützengräben Erfüllung gefunden hatte, folgte er dem erotischen Spiel und wies Paola nicht zurück. An der Brust trug sie eine schwarze Stoffnelke, in Erinnerung an ihren Verlobten, der im letzten Kriegsjahr am Piave gefallen war, und wenn Angelo von seinen Kriegserfahrungen berichtete, von den nächtlichen Angriffen auf die österreichischen Stellungen, dann begann Paola am ganzen Körper zu zittern, ebenso, wenn er zur Politik wechselte, dem anderen Thema, über das er etwas zu sagen hatte.
Paola war kurzatmig, die gemeinsamen Spaziergänge fielen kurz aus, danach saßen die beiden in einem Caffè in der Altstadt, wo Paola anhänglich wurde, sich zu Angelo auf die Bank setzte, seine Nähe suchte, sich an ihn schmiegte, während sie mit leiser Stimme ihre Gedichte vorlas, somnambule Sonette, die sie im Selbstverlag herausgab. Angelo fand sie so peinlich wie Paolas Schwärmerei für D’Annunzio. Das war gewiss ein großer Mann, ein Nationalist und Kriegsheld, aber wenn sie von Fiume und den Arditi sprach und ihre patriotischen Heiligenlegenden mit Zitaten aus Il piacere garnierte, dann war klar, wie wenig Paola von der wahren, der politischen Bedeutung des Dichters begriff. So gingen die Nachmittage dahin. Sie tranken Kaffee mit Orangenlikör, Angelo rauchte eine Zigarre, und Paola hustete in ihr Taschentuch.
Paolas verwitweter Vater, ein hochgewachsener Mann mit Monokel, war ein ehemaliger Prokurist in der literarisch-artistischen Abteilung des Österreichischen Lloyd. Der alte Herr litt an Arthrose, aber er fand Gefallen an der Bekanntschaft seiner einzigen Tochter und förderte sie nach Kräften. Angelo, der die Politik mehr und mehr vernachlässigte, hatte das Gefühl, in einen Zangenangriff geraten zu sein. Die Carnieris ließen ihn keinen Moment in Ruhe, erstickten ihn mit Einladungen zu literarischen Soireen und Bridge-Turnieren, bis er nachzudenken begann, wie er sich ohne Skandal aus dieser Umklammerung befreien konnte. Bei einem gemeinsamen Theaterbesuch, sie spielten Goldoni, eine billige Komödie, wie Angelo fand, typisch venezianisch, ohne Ernst oder Tiefgang, packte der Vater in der Pause Angelo am Ärmel, redete auf ihn ein, beschwor ihn, sich seiner Tochter, die für einen Augenblick den Waschraum aufgesucht hatte, anzunehmen. Der Krieg habe das kranke Kind, wie er wisse, um das Sakrament der Ehe gebracht, Paola blieben ein paar Wochen, vielleicht Monate, mehr nicht, und Angelo müsse, wenn er ein Mann sei und einen Rest Ehre im Leib spüre, seine Tochter vor ihrem Tod an den Altar führen. Eine Heirat werde er nicht bereuen. Das Vermögen der Familie sei intakt, der Name ehrbar. Der Vater wischte sich das Auge trocken, setzte das Monokel wieder ein, dann ging die Glocke und der dritte Akt begann, von dem Angelo nichts mitbekam, zu sehr waren seine Gedanken mit dem Gespräch im Foyer beschäftigt. Nach dem letzten Vorhang verabschiedete er sich mit wenigen Worten, und als er Paolas Hand küsste, warf sie ihm aus ihren blauen Augen einen Blick zu, als hätte er ihr das Herz aus dem Leib gerissen.
Angelo kam nicht zur Ruhe. Der Hinweis auf die todbringende Krankheit, von der er nichts geahnt hatte, die flehentlichen Worte des Vaters, der Appell an das Ehrgefühl, nagten an seinem Gewissen, und vier Wochen später besiegelten Angelo Mazzerini und Paola Carnieri in der Kirche von San Bartolomeo den heiligen Bund der Ehe.
Paola zog in die Wohnung an der Via dell’Istria, und für Angelo begann ein peinvolles Warten. Mit dem Tod war er vertraut, im Krieg war er ihm täglich und tausendfach begegnet, aber es waren Männer und Packpferde gewesen, deren Sterben er beigewohnt hatte, niemals dem einer Frau. Mit ängstlicher Neugier verfolgte er Paolas letzten Kampf, fragte sich, wenn er sie in ihrem Zimmer am Schreibtisch sitzen sah, wann sie aufgeben und wie groß das versprochene Erbe sein würde. Er hatte sich nichts vorzuwerfen, er wünschte ihr den Tod nicht, aber er war nun einmal unumgänglich, das hatte ihr Vater gesagt. Doch das beklommene Warten wich über die Monate einem ungesunden, bitteren Überdruss, einer Langweile, die ihn lähmte und mit dem Gefühl erfüllte, dass die Krankheit seiner Frau auch ihm die Lebenskraft raubte, und er fragte sich, ob die Sterbende ahnte, wie ungeduldig er seiner Befreiung harrte.
Ablenkung fand er nun wieder in der Politik. Im Mai 1919 war er im Haus von Bartolomeo Vigini mit zweihundert Schwarzhemden bei der Gründung der faschistischen Partei in Triest zugegen. Paola erzählte er nichts davon, aber er nahm regelmäßig an den Versammlungen im Haus der Arbeitergesellschaft teil, dabei fühlte er sich dort fremd und ergriff niemals das Wort. Er war und blieb Nationalist, die Faschisten, denen er sich ideologisch und gesellschaftlich überlegen fühlte, waren nur Mittel zum Zweck. Die Führung bestand aus Wichtigtuern, Jacchia war ein Idiot, Comici ein Drückeberger und Suvich mutmaßlich Slowene. Dennoch hielt er ihnen die Stange, und dank seiner neuen Beziehungen ergatterte er eine subalterne Stelle im städtischen Finanzamt, mit einem lächerlich hohen Gehalt.
Paola war stolz auf den Erfolg ihres Gatten und wünschte sich, da sie...
Erscheint lt. Verlag | 18.4.2023 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Armut • Aufwachsen in Armut • Autofiktion • Brigate Rosse • Büchner-Preisträger • Deutschsprachige Literatur • Einwandererkind • familiäre Herkunft • Frauenleben • Georg Büchner Preis • Gesellschafsroman • Gesellschaftskritik • Hagard • Identität • Italien • Liebesgeschichte • Linksintellektueller • politischer Diskurs Roman • Reichtum • Roman • Schweiz • Schweizer Autor • Schweizer Schriftsteller • Sechziger Jahre • Siebziger Jahre • Terrorismus • Wohlstandsgesellschaft • Zeitgenössische Literatur • Zeitgeschichte |
ISBN-10 | 3-644-01487-6 / 3644014876 |
ISBN-13 | 978-3-644-01487-9 / 9783644014879 |
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