Solange wir leben (eBook)
464 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01082-6 (ISBN)
David Safier, 1966 geboren, zählt zu den erfolgreichsten Autoren der letzten Jahre. Seine Romane, darunter «Mieses Karma», «Jesus liebt mich», «Happy Family» und «MUH!» erreichten Millionenauflagen im In- und Ausland. Der erste Band seiner Krimireihe rund um die Ex-Kanzlerin gehört zu den bestverkauften Büchern des Jahres 2021. Als Drehbuchautor wurde David Safier unter anderem mit dem Grimme-Preis sowie dem International Emmy ausgezeichnet. Er lebt und arbeitet in Bremen, ist verheiratet und hat zwei Kinder.
David Safier, 1966 geboren, zählt zu den erfolgreichsten Autoren der letzten Jahre. Seine Romane, darunter «Mieses Karma», «Jesus liebt mich», «Happy Family» und «MUH!» erreichten Millionenauflagen im In- und Ausland. Der erste Band seiner Krimireihe rund um die Ex-Kanzlerin gehört zu den bestverkauften Büchern des Jahres 2021. Als Drehbuchautor wurde David Safier unter anderem mit dem Grimme-Preis sowie dem International Emmy ausgezeichnet. Er lebt und arbeitet in Bremen, ist verheiratet und hat zwei Kinder.
1937–1938
Am Abend, an dem die kleine Waltraut in einem Bremer Arbeiterhäuschen ihre ersten Schritte machte, saß Joschi als junger Mann im Theatersaal des Hotel Stefanie in der Wiener Taborstraße und sah sich eine Aufführung des Jüdisch-Politischen Cabaret an. Seine Schwester Rosl moderierte auf der Bühne gerade das letzte Lied des Abends an: «Der ideale Nazi ist blond wie Hitler, schlank wie Göring, schön wie Goebbels und heißt Rosenberg.»
Die Zuschauer lachten, und das Sextett begann zu der schmissigen Melodie von ‹Habanera› aus der Oper ‹Carmen› ihren Evergreen ‹An allem sind die Juden schuld› zu singen: «Ob das Telefon besetzt ist, die Badewanne leckt, ob dein Einkommen falsch geschätzt ist …»
Die fünf Männer und die rothaarige Rosl trugen Frack und Fliege wie die ‹Comedian Harmonists›, die Joschi um so vieles lustiger fand als die politischen Witze der Gruppe auf der Bühne, in der seine Rosl durch Stimme und Schönheit herausragte. Er war nur zu dem Auftritt gekommen, weil er seine Schwester mal wieder sehen wollte. Seit sie vor einem Jahr ihren viel älteren Wasserballer geheiratet hatte und aus der kleinen Wohnung der Familie Safier in der Rotensterngasse 23 gezogen war, hatte sie sich rar gemacht. Joschi hätte früher nie gedacht, dass er Rosl einmal vermissen würde, so oft hatten die beiden sich in dem gemeinsamen kleinen Zimmer gestritten.
«Dass der Schnee so furchtbar weiß ist, und dazu, was sagt man, so kalt, dass dagegen Feuer heiß ist …»
Joschi gab der Ehe mit dem Wasserballer keine zwei Jahre. Entweder würde Rosl hinter dem Verkaufstresen seines Sportgeschäfts Lamberg nahe des Naschmarkts vor Langeweile meschugge werden oder der Wasserballer sie erwürgen, weil sie ständig etwas zu meckern hatte. Vermutlich sogar beides. Joschi war der Einzige, der ihr Gestänker ertrug. Weil er sie liebte. So wie er seine Eltern liebte. Seine Mutter Scheindel, die mit Strenge und dem Wunsch nach Bildung für ihn seinem Leben eine Richtung gegeben hatte, auch wenn er den von ihr vorgesehenen Weg nicht gerade flotten Schrittes beschritt. Und seinen Vater Israel, der sich schon vor Ewigkeiten damit abgefunden hatte, dass seine Frau, Rosl und er nicht auf ihn hörten.
Joschi liebte seine Familie, wie er bisher noch kein Mädchen geliebt hatte. Und Rosl, davon war er überzeugt, würde niemals im Leben einen Mann mehr lieben können als ihre Träume von der Bühne und von einem Leben in Palästina.
«Und glaubst du’s nicht, sind sie dran schuld. An allem, allem sind die Juden schuld!»
Das Lied war zu Ende, die Vorstellung auch, und das Publikum klatschte. Am lautesten Joschi. Nicht etwa, weil er das Lied so mochte. Nein, er war einfach gut im Klatschen. Er bekam in Theatern und Cabarets oft freien Eintritt, wenn er sich als Claqueur verdingte. Deshalb verbrachte er viele Abende auf diese Weise. Obwohl er einige Texte berühmter Kabarettisten wie Karl Farkas oder Fritz Grünbaum schon fast auswendig konnte, schüttete er sich selbst noch beim zehnten Mal über die albernsten Wortspiele aus, wie zum Beispiel das über den Staatsvertrag von Locarno: «Der Locarno-Pakt». «Er packt? Wo will er denn hin?»
Als die Gäste den Hotelsaal verließen, ging Joschi zu seiner Schwester. Sie strahlte ihn an. Cabaret war ihr Leben, der Applaus ihr Elixier. Wenn sie strahlte, war Rosl noch schöner als ohnehin. Für Joschi war es kaum zu glauben, dass sie die Tochter der kleinen, dürren Mutter und des blassen Vaters war, der so wenige Haare besaß, dass keine Kippa groß genug war, die kahle Platte zu bedecken. Mama Scheindel hatte sich spät im Leben dazu entschlossen, Mutter zu werden, und zu diesem Zweck den fünf Jahre jüngeren Israel Safier geheiratet. Für einige in der polnischen Heimat, aus der die beiden vor dem Ersten Weltkrieg nach Wien geflohen waren, war dieser Altersunterschied zwischen Frau und Mann unerhört gewesen.
Es gab Momente, in denen Joschi selbst nicht glauben konnte, dass er von diesen beiden Alten abstammte, war er doch ein fescher Junge. Davon war er überzeugt, aber das zeigte auch sein Erfolg bei den Frauen. Mit dem perfekt sitzenden Anzug, den sein Vater ihm genäht hatte, der exakt richtigen Menge an Pomade im Haar und dem langen Trenchcoat, den er außer an heißen Sommertagen wie diesen trug, wirkte Joschi nicht wie der arme Jude, der er war. So dachte er jedenfalls.
«Was macht das Studium, Joschi?», fragte Rosl. Während die Geschwister mit den Eltern hauptsächlich Jiddisch redeten, sprachen sie untereinander ausschließlich Deutsch. Sie verstanden sich als Juden einer neuen Generation.
«Keinen Spaß», antwortete er.
«Es soll auch keinen Spaß machen.»
«Wäre aber schöner.»
«Du musst aufhören, so faul zu sein.»
«Wer sagt denn, dass ich faul bin?»
«Bist du es etwa nicht?»
Joschi hätte jetzt gerne tausend Argumente hervorgebracht, warum er nicht faul war, aber die Wahrheit war, dass er nie Bauingenieur hatte werden wollen. Es war halt ein besseres Schicksal, als Schneider zu sein wie der Vater. Und er hatte seine Eltern mit der Entscheidung glücklich gemacht. Ganz besonders die Mama, deren Vater Henoch Klapholz in Brzesko sogar Bürgermeister gewesen war, während der Vater von Papa Israel ein Leben als Vagabund geführt hatte. Letzteres hätten die beiden Kinder nie erfahren, wenn Mama Scheindel es ihrem Mann nicht mal in einem Wutanfall an den Kopf geworfen hätte.
Beide Großväter hatten Joschi und Rosl nie kennengelernt, genauso wenig wie die 18 Tanten und Onkel, die noch in Polen lebten, und deren unzählige Kinder. Bei den weiteren Verzweigungen der Familie – allein Großvater Henoch hatte sieben Geschwister – wurde es für alle Beteiligten unübersichtlich. Nur jene Verwandten, die ebenfalls vor den Wirren des Ersten Weltkriegs nach Wien geflohen waren, und deren Sprösslinge kannten Joschi und Rosl. Und das war immer noch genug Mischpoke.
Die Eltern waren nur so lange glücklich über Joschis Studium, bis sie sich zu sorgen begannen, wie sie die hohen Gebühren zusammenkratzen sollten. Joschi selbst trug nur wenig dazu bei, er lieferte lediglich die Hosen und Anzüge aus, die sein Vater in der Küche der winzigen Wohnung schneiderte oder ausbesserte, wofür er ein kleines Trinkgeld kassierte. Die Gebühren waren besonders hoch, weil der in Wien geborene Joschi nicht als österreichischer Staatsbürger galt, sondern als Pole wie Rosl und seine Eltern. Und das, obwohl der Landstrich, aus dem die Familie stammte, zur Zeit der Flucht noch zu Österreich-Ungarn gehörte.
Wenn sie Österreicher gewesen wären, wären sie alle gewiss glücklicher gewesen.
«Ich bin nicht faul.»
Rosl verzog verächtlich das Gesicht, wie es nur eine andere Person auf der ganzen Welt sonst tun konnte.
«Jetzt siehst du aus wie Mama», sagte Joschi und wusste, dass er damit seine Schwester auf die Palme bringen konnte.
«Ich bin nicht wie Mama!», protestierte sie von der Palme hinab.
Es war ein Phänomen. Joschi liebte seine Schwester, und er war sich auch ziemlich sicher, dass sie ihn liebte, und dennoch brauchten sie beide in der Regel weniger als eine Minute, um in einen Streit zu geraten. Wenn sie sich früher bei ihrer Mutter – nie beim Vater – über den jeweils anderen beschwerten, hatte die nur geantwortet: «Pack schlägt sich, Pack verträgt sich», und die beiden hatten sich tatsächlich vertragen oder besser gesagt verbündet, um gemeinsam gegen die Mutter zu protestieren, dass sie alles andere wären als ein Pack!
«Hast du eine Freundin?», änderte Rosl das Thema und versetzte damit, vermutlich absichtlich, den nächsten Nadelstich.
«Gerade nicht.»
«Du brauchst mal eine, mit der du länger als eine Woche zusammen bist.»
«So wie du mit dem alten Wasserballer?», versuchte nun auch Joschi sie zu piesacken.
«Der Wasserballer heißt Paul. Und er ist erst 37. Ein bisschen Ernsthaftigkeit in deinem Leben würde dir guttun.»
«Du bist wirklich wie Mama.»
Rosl stieg die Zornesröte ins Gesicht. Joschi erwartete, dass sie wie ein Schwarm Rohrspatzen zu schimpfen beginnen würde, doch sie sagte nur: «Servus, ich muss mich umziehen.» Ohne eine Antwort von ihm abzuwarten, ging sie hinter die Bühne. Es war in der Tat wie immer: Er freute sich auf sie, und am Ende trennten sie sich im Streit.
Als Joschi auf die bunt erleuchtete Taborstraße trat, wurde seine Laune gleich wieder besser. Auf den Straßen war viel los, insbesondere junge Menschen tummelten sich, aber auch ein paar fromme Juden palaverten miteinander auf dem Gehsteig. Die drückende Junihitze des Tages war einer angenehmen Brise gewichen. Sie roch nach den Bergen, in denen Joschi noch nie war. Er zog sein Jackett aus, warf es lässig über die Schulter und ging langsam die Straße in Richtung Rotensterngasse. Seine Eltern, die in ihren jeweiligen Heimatorten Brzesko und Dębica ohne fließend Wasser und Strom gehaust hatten, waren unendlich dankbar für diese Wohnung, die sie mit ihren Kindern bewohnen durften. Wenn Rosl als Heranwachsende gemeckert hatte, dass der Goi von der Etage unter ihnen das Klo am Ende des Gangs zu lange besetzte, verwies Mama Scheindel stets auf die vielen aus dem Osten geflüchteten Juden, die nahe am Prater in Bretterbuden hausten. Und darauf, dass Rosl sich glücklich schätzen konnte, zur Schule gehen zu dürfen, und dass Joschi sogar das Gymnasium besuchen konnte. Dass Rosl sich für wesentlich klüger hielt als ihren Bruder und statt seiner auf das Gymnasium hätte gehen wollen, hatte sie nur einmal im zarten Alter von elf...
Erscheint lt. Verlag | 18.4.2023 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anschluss Österreich • Bestseller • Bestsellerautor • Biografischer Roman • Bremen • David Safier • Deutsch-Jüdische Geschichte • Eltern • Familiengeschichte • Familienroman • Holocaust Überlebender • Judentum • jüdische Familie • Liebe • Nachkriegszeit • Palästina • Schicksal • Wien • Wirtschaftswunder • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-644-01082-X / 364401082X |
ISBN-13 | 978-3-644-01082-6 / 9783644010826 |
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