Herrndorf (eBook)
384 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00493-1 (ISBN)
Tobias Rüther, geboren 1973, studierte Geschichte und Deutsche Literatur in Berlin und St. Louis, absolvierte die Henri-Nannen-Schule und arbeitete unter anderem als Textchef beim Kunstmagazin «Monopol». Seit 2010 gehört er dem Feuilleton der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» an, seit 2020 ist er verantwortlich für das Literaturressort. 2008 erschien sein Buch «Helden» über David Bowie, 2013 «Männerfreundschaften».
Tobias Rüther, geboren 1973, studierte Geschichte und Deutsche Literatur in Berlin und St. Louis, absolvierte die Henri-Nannen-Schule und arbeitete als Textchef beim Kunstmagazin «Monopol». Seit 2010 gehört er dem Feuilleton der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» an, seit 2020 ist er verantwortlich für das Literaturressort. 2008 erschien sein Buch «Helden» über David Bowie, 2013 «Männerfreundschaft. Ein Abenteuer». Er zählt zu den besten Herrndorf-Kennern, kommentierte u.a. die 2015 erschienene Gesamtausgabe.
1. Kapitel «3x anklopfen, ich denke nach.»
Norddeutsche Kindheit und Jugend, 1965 bis 1986
Über den Feldern von Garstedt sieht der Himmel so aus, als hätte Wolfgang Herrndorf ihn gemalt. Vor dem Wohnblock am Friedrichsgaber Weg liegt ein großzügiges Stück Rasen, das an einem Parkplatz endet. Eine Hecke begrenzt ihn hin zur zweispurigen Straße: Der Friedrichsgaber Weg durchquert das neuere und das ältere Garstedt. Noch ein letzter Zaun, aber dann: ein Weizenfeld. Eingefasst von großen Bäumen. Darüber weißgraue Wolken in einem weiten, blassblauen norddeutschen Himmel.
Das ist das Bild, das sich gezeigt hat, Tag für Tag, aus dem Fenster des Kinderzimmers im ersten Stock eines rot geklinkerten Wohnblocks. Garstedt, Ortsteil von Norderstedt. Ein norddeutsches Feld mit Wolken und Himmel: Dieses Bild, dieser kleine Ausschnitt der Welt, taucht in den Werken Wolfgang Herrndorfs immer wieder auf, mal verwandelt und eingepasst in andere Szenen und Landschaften, mal mehr oder weniger so, wie es sich an Ort und Stelle darstellte. Es taucht auf in Herrndorfs bildnerischen Arbeiten genauso wie in den Büchern. Oft ist es dann nur dieser Himmel mit den enormen Wolken, die sich am Horizont verlieren, irgendwo ganz weit dahinten. Manchmal kommt aber auch ein Feld dazu. Noch in den letzten Texten, die Wolfgang Herrndorf geschrieben hat und die erst nach seinem Tod erscheinen konnten, ist der Malerblick präsent, mit dem er die Landschaften gestaltete, in denen seine Geschichten spielen. Hier, in Garstedt, ist dieser Malerblick geweckt und geschärft worden: Aus dem Kinderzimmer wanderte er über die Felder in den Himmel. Hier wurden die Farben und Formen seiner Wahrnehmung geprägt. Und das in einer Intensität, dass man den Eindruck bekommt, Herrndorf habe für alles, was er je in seinem Leben geschaffen hat, an diesem kleinen Ausschnitt ganz am Anfang seiner Welt Maß genommen. So dass man in den Himmel über den Feldern von Garstedt nicht schauen kann, ohne Herrndorfs Farben und Formen darin zu entdecken: Farben und Formen und Stimmungen, die einem aus seinen Illustrationen und Bildern vertraut sind, und vor allem aus seinen Büchern, die man nicht lesen kann, ohne wiederum den norddeutschen Himmel zu erahnen, der über den Geschichten liegt. Wolfgang Herrndorfs Künstlerblick ist ein Kinderblick gewesen, lebenslang.
Ein Wohnblock mit weißen Balkonen und einem Rasenstück davor und einem Rasenstück dahinter, auf den wieder so ein roter Block folgt und dann noch einer und so weiter: Das ist der Möhlenbarg. Die dreiköpfige Familie Herrndorf ist 1965 in die Neubausiedlung gezogen, kurz nach Wolfgangs Geburt. Entlang des Friedrichsgaber Wegs stehen heute mächtige Eichen, damals säumten ihn noch keine befestigten Bürgersteige oder Fahrradwege, all das entstand gerade erst, als Wolfgang hier aufwuchs, unter seinen Füßen wurde die Welt langsam gepflastert. Garstedt, das ist damals ein Dorf kurz vor dem Verschwinden, oder besser: vor der Einverleibung in ein größeres Ganzes. Denn Norderstedt wird als Stadt 1970 überhaupt erst gegründet, als Zusammenschluss der Gemeinden Garstedt, Harksheide, Friedrichsgabe und Glashütte. Es ist eine typische technokratische Entscheidung jener Zeit, Mitte der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, Dörfer zu einer größeren Verwaltungseinheit zu verbinden. Das ist effizient, modern, vielleicht ein bisschen kalt, aber gut gemeint. Hamburg ist vom neu gegründeten Norderstedt aus mit der U-Bahn-Linie 1 zu erreichen, eine Dreiviertelstunde Fahrt zwischen den Garstedter Feldern und dem Hauptbahnhof an der Mönckebergstraße.
Und so verstädtert das Umland im Laufe der Jahre mehr und mehr. Die Leute wollen Platz zum Wohnen mit eigenem Grün vor der Tür und finden beides in den verschlafenen Orten rund um Hamburg. In jede Himmelsrichtung sieht es bald ganz ähnlich aus: Wohnblöcke und Reihenhäuser und Doppelhaushälften und roter Klinker, Verwaltungsbauten aus Beton, Einkaufszentren, Bushaltestellen. Als Wolfgang Herrndorf Jahrzehnte später im Internetforum der «Höflichen Paparazzi» für seine Freundinnen und Freunde ein Foto aus seiner Heimat posten soll, wählt er nicht die Pferdekoppeln oder die wenigen reetgedeckten Fachwerkhäuser an der Alten Dorfstraße von Garstedt oder die Felder vor seinem alten Kinderzimmer, sondern eine Luftaufnahme vom Bahnhof Norderstedt Mitte. Wo die Busse und Bahnen ins Umland oder nach Hamburg zusammenlaufen, wo die Leute umsteigen auf ihrem Weg zur Arbeit und zurück, das Zentrum einer aus vier Teilen zusammengesetzten Stadt ohne Mitte, eine Transitstation, ein Nicht-Ort, Vorwahl 040.
Als die Herrndorfs an den Möhlenbarg ziehen, aus einer dunklen Souterrainwohnung an der Ulzburger Straße drei Kilometer weiter an den Rand der holsteinischen Felder, ist Garstedt aber noch immer ein Dorf: mit Kirche, Grundschule, Feuerwehrteich, Kopfsteinpflaster und den Eichen. Irgendwann hatte es am Möhlenbarg auch eine Windmühle gegeben, daher der Name. Wie sich Garstedt dann verändert hat, im Laufe der Jahre, kann man an der Neubausiedlung am Friedrichsgaber Weg bis heute ablesen. Sie wird damals «Paukanien» genannt, weil in den rot geklinkerten Blöcken so viele Lehrerinnen und Lehrer wohnen, die an den Schulen des neuen Norderstedt unterrichten. Polizisten leben allerdings auch hier mit ihren Familien, und so gibt es noch einen Spitznamen für den Möhlenbarg: «Klopstock und Knüppel».
Christian Herrndorf ist Lehrer für Sport und Geschichte an der nahen Realschule am Aurikelstieg, Karin Herrndorf, genannt Katrin, leitet die Tanzgruppe des Sportvereins Eintracht Garstedt und betreut die Kinder in der kirchlichen Vorschulgruppe am Ort. Wolfgang kann zu Fuß zu seiner Grundschule laufen, einmal den Friedrichsgaber Weg hinunter, ein paar Hundert Meter sind es nur, auf unbefestigtem Weg.
Vor dem letzten Hausteil des dreigeschossigen vorderen Riegels am Friedrichsgaber Weg steht eine Birke. Der Blick aus dem Kinderzimmer, in dem Wolfgang Herrndorf die ersten sechzehn Jahre seines Lebens aufwächst, fällt aber noch ungehindert von Bäumen und Hecken oder Büschen über den Parkplatz und die zweispurige Straße auf die Felder und in den Himmel. Wolfgang kann vom Kinderzimmer aus die Sonne auf- und untergehen sehen. Zur Rückseite seines Wohnblocks, sechs Parteien pro Eingang, liegt ein Rasenstück, auf dem die Kinder von Paukanien nach der Schule Fußball spielen. Der Möhlenbarg ist eine abgeschlossene Welt, ein einziger Kinderspielplatz: Die Herrndorfs zählen mit ihrem Einzelkind Wolfgang zur Minderheit, die meisten Familien hier haben mehrere Kinder. So wie die Kurowskis, die Büchlers und die Schmidts aus dem Block der Herrndorfs. Stefan Büchler und Wolfgang Herrndorf sind gleichaltrig, Karsten Schmidt ist ein Jahr jünger. Mit Sonja Kurowski wird Wolfgang bald in die gleiche Grundschulklasse gehen, aber richtig befreundet ist er mit ihrer etwas älteren Schwester, Tatjana.
Schwarzweiße Kinderfotos vom Wohnblock am Friedrichsgaber Weg: ein Junge und ein Mädchen auf einem Fahrrad, im Sommer in Rock und kurzen Hosen, mit Mütze und Schlitten im Winter, mit den anderen Kindern vom Möhlenbarg, ein ganzer Sandkasten, ein ganzes Planschbecken voller Kinder. Geburtstage mit Kerzen und Kuchen, Rollschuhe, Schnee, der Wohnblock noch ganz neu, die Wege noch ungepflastert, die Jungs in Lederhosen. Tatjana und Wolfgang spielen mit Murmeln, sie spielen Wilder Westen, sie streuen einander Juckpulver in den Nacken, sie pflücken die Blätter von den Berberitzen und kauen darauf herum, sie rodeln im Winter auf dem Müllberg, einmal den Friedrichsgaber Weg hoch, sie machen Krach auf dem Möhlenbarg, bis einer der Nachbarn, Herr Klever, mit seinem Dackel auf den Balkon kommt und die Kinder beschimpft, und er kommt ständig und schimpft. Und wenn die beiden fernsehen bei den Herrndorfs und es unheimlich wird, macht Tatjana die Augen zu, Wolfgang versteckt sich hinter dem Sofa.
Die Kinder vom Möhlenbarg, erinnert sich Tatjana, waren immer im Pulk unterwegs, nur mit Wolfgang sei sie damals schon allein befreundet gewesen, einem sensiblen Jungen mit großer Fantasie. Das Sensible, sagt sie, habe sie wohl zu ihm hingezogen, vielleicht sei es auch eine Art von Kinderliebe zwischen den beiden gewesen. Aber geküsst habe Wolfgang nur ihre Schwester, da sind die beiden kaum acht Jahre alt. «Einen Jungen küssen», habe Sonja gesagt, «… ist doch nichts dabei.» Tatjana lacht bis heute darüber. Sie war ein eigenwilliges Mädchen mit Zöpfen – und die erste in einer Reihe von Freundinnen, die Wolfgang Herrndorfs Leben prägen werden. Verwandelt, aber erkennbar werden sie in seinen Geschichten wiedererscheinen. Wie der Himmel über Garstedt.
Die Hausteile im Wohnblock am Friedrichsgaber Weg sind unterkellert und mit Türen durchgängig verbunden. Man kann also von einem zum anderen Hausteil laufen, von einer Tür zur nächsten. Im Dachgeschoss hat Wolfgang mit seinen Freunden Karsten und Stefan ein geheimes Versteck, von ihnen «Wischibonga» genannt. Wolfgangs Mutter weiß zwar, dass die drei einen Ort ganz für sich allein haben, aber nicht, wo der sein könnte. Vor diesem Wischibonga-Verschlag auf dem Dachboden hatten sich die drei Jungen eine Erdkuhle in den Knick aus Büschen und Bäumen gegraben, der zwischen den Wiesen und Feldern vor ihrem Wohnblock verlief. Die «Mütze» hatten sie diesen Treffpunkt genannt, nichts geht ohne einen Namen. Aber der Mütze fehlte ein Dach, blöd, wenn es regnet. Der Dachboden ist für die drei Jungen ideal.
Süßigkeiten, «Bravo», «Lustige Taschenbücher» bei Kerzenschein oder im Taschenlampenlicht, und der leichte Thrill, dass die Erwachsenen im Haus...
Erscheint lt. Verlag | 15.8.2023 |
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Zusatzinfo | Mit ca. 40 s/w und farbigen Abbildungen in 2 Tafelteilen |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Arbeitsjournal • «Arbeit und Struktur» • Autor • Bachmann-Preis • Berlin • «Bilder deiner großen Liebe» • Biographie • Biographie deutscher Autor • Blog • Deutscher Jugendliteraturpreis • «Diesseits des Van-Allen-Gürtels» • Hirntumor • Illustrator • «In Plüschgewittern» • Krankheit • Krebs • Kunst • Künstlerbiographie • Maler • Nachlass • Norderstedt • Nürnberg • Preis der Leipziger Buchmesse • Sachbuch Bestenliste • «Sand» • Schleswig-Holstein • Schriftsteller • Schriftsteller Biografie • Suizid • Tagebuch • «Titanic» • Tod • tschick • «Tschick» • Wolfgang Herrndorf |
ISBN-10 | 3-644-00493-5 / 3644004935 |
ISBN-13 | 978-3-644-00493-1 / 9783644004931 |
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