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Echtzeitalter (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman | Deutscher Buchpreis 2023
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
368 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01446-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Echtzeitalter -  Tonio Schachinger
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«Ein Internatsroman, ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis, der den Vergleich mit Robert Musil oder Hermann Hesse nicht scheuen muss.» Denis Scheck, ARD Druckfrisch Auf den ersten Blick ist es die Kulisse für ein großes Abenteuer: das traditionsreiche Internat mitten in Wien, umgeben von einem Park mit Hügeln, Sportplätzen und einer historischen Grotte. Aber Till kann weder mit dem Lehrstoff noch mit dem snobistischen Umfeld viel anfangen. Seine Leidenschaft sind Computerspiele, konkret: das Echtzeit-Strategiespiel Age of Empires 2. Ohne dass jemand aus seiner Umgebung davon wüsste, ist er mit fünfzehn eine Online-Berühmtheit, der jüngste Top-10-Spieler der Welt. Nur: Wie real ist so ein Glück? «Eine witzige, kühl analysierende, einfühlsame Geschichte junger Menschen im 21. Jahrhundert ... Ein herausragender Gegenwartsroman.» FAS

Tonio Schachinger, geboren 1992 in New Delhi, studierte Germanistik an der Universität Wien und Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Nicht wie ihr, sein erster Roman, wurde mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises ausgezeichnet und stand 2019 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, den er 2023 für seinen zweiten Roman, Echtzeitalter, erhielt. Tonio Schachinger lebt in Wien.

Tonio Schachinger, geboren 1992 in New Delhi, studierte Germanistik an der Universität Wien und Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Nicht wie ihr, sein erster Roman, wurde mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises ausgezeichnet und stand 2019 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, den er 2023 für seinen zweiten Roman, Echtzeitalter, erhielt. Tonio Schachinger lebt in Wien.

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Till hat einige Hobbys ausprobiert. Er hatte Klavierunterricht, ist Tischtennis spielen gegangen, in den Judokurs und zu den Pfadfindern, und in seinem Zimmer kann man die Relikte all dieser Hobbys sehen: die zerfledderten Noten in seinem Bücherregal, den Judoanzug mit dem weiß-gelben Gürtel ganz unten im Kleiderschrank und, am offensichtlichsten, das Teleskop, das sein Vater ihm letztes Jahr in der Hoffnung geschenkt hat, Astronomie könnte vielleicht Tills Hobby werden, hätte er nur ein eigenes Teleskop.

Keiner dieser Beschäftigungen ist Till aus eigenem Antrieb nachgegangen, aber was heißt das schon, aus eigenem Antrieb? Wie soll er wissen, ob das kurze Aufflackern eines Interesses, das er spürt oder eben nicht, das ihn dazu bringt, bei etwas mitzumachen oder eben nicht, und der vorbeihuschende Schatten der Gleichgültigkeit, der ihn wieder aufhören lässt, Spiegelungen der Welt um ihn herum sind oder tiefere Hinweise darauf, was er wirklich will?

Tills Eltern kennen sich nicht gut genug aus, um einen Unterschied darin zu sehen, ob ihr Sohn mit dem Xbox-Controller in der Hand in seinem Sitzsack liegt und Radio Los Santos hört, während er auf einer Motocross-Maschine durch die Wüste fährt, oder ob er in völliger Stille stundenlang durch die Berge Alaskas reitet, um einen legendären Grizzly zu jagen, zu zerlegen und seine Einzelteile zu verkaufen.

Sie haben kein Gefühl dafür, ob er sich gerade mitten in einem Onlinematch oder an der zentralen Stelle einer Mission befindet, wenn sie sein Zimmer betreten und ihn bitten, kurz auf Stopp zu drücken, oder ob er nur so vor sich hin spielt, Menschen ersticht und über die Dächer von Damaskus flüchtet.

Ja, Tills Eltern könnten nicht einmal den fundamentalen Unterschied zwischen RTS-Spielen wie League of Legends, Dota oder Age of Empires erkennen, bei denen Till aufrecht an seinem PC sitzt und hoch konzentriert spielt, unfähig, einen anderen Gedanken zu fassen, weil er jede Sekunde in Echtzeit strategische Entscheidungen treffen und ausführen muss, und den Open-World-Spielen auf der Xbox, die ihm ermöglichen, sich treiben zu lassen.

Tills Eltern haben selbst nie irgendein Computerspiel genug verstanden, um Spaß daran zu haben, oder nie genug Spaß daran entwickelt, um es verstehen zu wollen. Sie sprechen über Computerspiele, wie jemand, der nicht lesen kann, über Bücher spricht, und ihre Sorgen unterscheiden sich kaum von den Sorgen derjenigen, die zur vorletzten Jahrhundertwende ins Kino gingen und fürchteten, der Zug könne aus der Leinwand über sie hinwegrollen.

Trotzdem kauft Tills Mutter ihm GTA und Red Dead Redemption, denn auch die meisten anderen Eltern kaufen sie ihren Kindern, obwohl beide erst ab 18 freigegeben sind, und sie ist sich, auch wenn sie auf Ö1 immer wieder Gegenteiliges hört, sicher, dass Gewalt in Computerspielen nicht zu realer Gewalt führt, denn in Tills Wesen liegt keine Spur von Brutalität.

Erst als sie kurz vor den Semesterferien, ohne zu wissen, warum, abends vor seiner offenen Tür stehen bleibt und ihm einige Minuten zuschaut, statt gleich in ihr Zimmer zu gehen, kommen ihr Zweifel. Sie sieht, wie die von Till gelenkte Figur aus dem Spital entlassen wird, sich Waffen besorgt und wahllos auf Passanten zu schießen beginnt, auf Polizisten, die ihn zu stoppen versuchen, auf Sanitäter und Feuerwehrleute, sieht, wie er Granaten in Menschenmengen wirft, mit der Bazooka auf Polizeihubschrauber und FBI-Mannschaftswägen schießt, bis er irgendwann stirbt. Und wieder aus dem Spital entlassen wird und von vorne beginnt, auf die erstbesten Menschen zu schießen.

 

Das Missverständnis, das seitdem zwischen Till und seiner Mutter besteht, basiert darauf, dass sie seine digitalen Amokläufe als schlechtes Zeichen deutet, weil sie fürchtet, sie hingen mit der Scheidung zusammen, während er den Gedanken, spräche seine Mutter ihn aus, gar nicht verstünde, weil für ihn außer Frage steht, dass er seine Zeit nur dann mit bereits durchgespielten Open-World-Spielen verbringt, in denen er keine Missionen erledigt, sondern nur Dinge macht, die man in der echten Welt nicht machen darf, wenn er, für alles andere zu erschöpft, von der Schule nach Hause kommt.

In den Semesterferien verlagert sein Fokus sich vollkommen auf Age of Empires 2. Er spielt ranked, also auf einer nach ELO geordneten Rangliste gegen andere ihm zufällig zugeteilte Spieler seines Niveaus, und nicht gegen Georg, der mit seinen Eltern nach Hintertux gefahren ist. Er spielt auf seinem PC, der gerade so die Mindestanforderungen erfüllt, damit Dota oder League of Legends darauf laufen, der aber für ein zwanzig Jahre altes Spiel wie Age of Empires ein Mercedes ist, ein Ferrari, verglichen mit den Rikschas im Informatiksaal, und steigert seine ELO innerhalb einer einzigen Woche um unglaubliche dreihundert Punkte.

Am Anfang haben Georg und er wie Kinder gespielt. Sie spielten die Kampagnen, sie verwendeten Cheats für alles, was zu erreichen eigentlich harte Arbeit sein sollte. Sie tippten aegis in den Chat, und schon war jedes Gebäude mit einem einzigen Hammerschlag errichtet, sie tippten marco und polo und hatten die ganze Karte erkundet, holten sich durch Cheats riesige Mengen der vier Ressourcen, tippten how do you turn this on und erschufen blaue Shelby Cobras mit Maschinengewehren, die alles niedermähen.

Mit Cheats zu spielen ist wie Motorboot fahren, es macht sofort Spaß, wird aber schnell wieder fad. Dann muss man sich entscheiden: Bleibt man für den Rest seines Lebens ein Motorbootmensch, jemand, für den Glück darin besteht, auf einen Knopf zu drücken und sofort eine Wirkung zu sehen, oder lernt man segeln und fängt wieder ganz von vorne an.

 

Till und Georg lernten bald segeln, erarbeiteten sich ein Grundlagenwissen darüber, wie man die ersten paar Dorfbewohner auf Ressourcen verteilen sollte, dass man zuerst nur Nahrung sammelt, dann Holz und erst danach irgendwann Gold und Steine. Sie begannen, einzelne Völker immer wieder zu wählen, die Teutonen wegen ihrer Elite Teutonic Knights oder die Perser wegen ihrer Kriegselefanten, ohne zu bedenken, dass beide Einheiten zwar cool aussehen, aber nur in ganz wenigen Situationen die richtige Wahl sind. Sie wurden Amateure.

Georg war immer deutlich besser als Till, denn Georg konnte nicht nur jeden Nachmittag doppelt so lange AOE2 spielen wie Till, sondern übte auch an den Abenden, wenn Till kaputt in seinem Sitzsack lag und versuchte, alle Mega-Jumps bei GTA zu finden. Und wenn er wieder einmal gewonnen hatte, erklärte er Till seine Fehler: «Du hättest nicht so viele scouts producen sollen, wenn du schon siehst, dass ich gewalled bin! Das hat deine Castle-Time ur verzögert, und ich musste meinen Vorsprung bei den vils dann nur noch weiter ausbauen.»

Wenn Georg und Till über Age Of Empires reden, sagen sie nicht Dorfbewohner oder Plänkler, sondern vil oder skirm, denn das ist ja die Schönheit des Englischen: Man kann alles abkürzen und wird trotzdem verstanden. Statt Town Center sagt man TC, statt Cavallery Archer CA, während man im Deutschen Dorfzentrum oder Berittener Bogenschütze ebenso wenig abkürzen kann wie Schularbeit oder Konferenzzimmer.

Mag sein, dass Till und Georg wissen, was eine Reuse ist, vielleicht hat Till den Begriff sogar in seinem Fremdwörterheft stehen, weil er bei Undine vorgekommen ist. Das Wort fish-trap verstehen sie aber auf jeden Fall, und statt Reuse zu sagen, übersetzen sie es als Fisch-Falle zurück ins Deutsche.

«Hast du ihn gescoutet?» ist für sie ein normaler deutscher Satz. «Hast du ihn erspäht?» So spricht man vielleicht beim Dolinar, der von seinen Schülern verlangt, König wie Könich und übrig wie übrich auszusprechen. Aber nirgendwo sonst.

 

Praktisch am Englischen sind auch die Verben, mit denen sich so viel gleichzeitig sagen lässt. Man sagt «He’s going castle», wenn man sieht, dass der Gegner versucht, in die Ritterzeit voranzuschreiten. Man sagt «He’s going cav», wenn man erkennt, dass er vorhat, auf Kavallerieeinheiten zu setzen. Und so sagen auch Till und Georg: «Er geht castle.» Oder: «Er geht auf ranges.» Und nicht: «Er schreitet in die Ritterzeit voran.» Oder: «Er setzt vornehmlich auf Einheiten aus der Schießanlage.» Sie denken sich absolut nichts dabei, wenn sie Formulierungen verwenden wie: «Das hat mein Scout gescoutet.» Oder: «Du musst seine Trebs trebben!» Oder wenn sie zur Karte Mappe sagen oder zum Eber Eboar, weil der Übergang zwischen Deutsch und Englisch für sie nahtlos ist.

 

Till und Georg sind es ohnehin gewohnt, falsch zu sprechen. Einer der wenigen Grundsätze, auf den sich alle Autoritätspersonen in ihrem Leben einigen können, besteht darin, dass Anglizismen eine Verfallserscheinung darstellen und möglichst unterbunden werden sollten. Trotzdem gelten dabei sehr unterschiedliche Maßstäbe.

Georg wird es als Fehler angestrichen, bei der Schularbeit als Witz «Sie haben das nicht gegettet» zu schreiben. Till wäre für eine solche Formulierung zwei Monate eingesperrt worden. Denn wenig überraschend verurteilt der Dolinar Anglizismen extremer als seine Kollegen.

Bei ihm ist keine Rede davon, englische Verben im Deutschen mit neuen Flexionsformen zu versehen, er wehrt sich schon gegen die Aufnahme von Ausdrücken wie checken und shoppen in den allgemeinen Sprachgebrauch und kann sich stundenlang über die Formulierung Das macht Sinn...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2023
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Age of Empires • Age of Empires 2 • and Tomorrow • AOE 2 • Bildungsroman • Bücher Neuerscheinungen 2023 • Coming of Age • Computerspiele • Daniel Kehlmann • Deutsche Gegenwartsliteratur • Deutsche Literatur • Deutscher Buchpreis • Deutscher Buchpreis 2023 • Eliteschule • Erste Liebe • Faserland • Freiheitslust • Gabrielle Zevin • Gaming • Gegenwartsliteratur • Gesellschaftsroman • Heranwachsen • Identität • Jugend • Liebe • Machtverhältnisse • morgen • morgen und wieder morgen • Nicht wie ihr • Österreich • österreichischer Autor • Patriarchat • Schulabbrecher • Schule • Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019 • Stefanie Sargnagel • Strategiespiele • Tomorrow • twitch • Virtualität • Wien
ISBN-10 3-644-01446-9 / 3644014469
ISBN-13 978-3-644-01446-6 / 9783644014466
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