Der Medicus von Konstantinopel: Historischer Roman (eBook)
500 Seiten
Uksak E-Books (Verlag)
978-3-7389-6554-4 (ISBN)
Maria betrat wenig später einen von unzähligen Kerzen erleuchteten Raum. Stark riechendes Räucherwerk machte das Atmen schwer. Maria fühlte ein Kratzen im Hals. Ihr Herz schlug heftiger.
Auf einem hölzernen Stuhl hatte eine Gestalt platzgenommen, deren Anblick Maria zusammenfahren ließ. Auf den ersten Blick wirkte ihr Gegenüber wie eine Kreatur, die geradewegs dem Höllenschlund entwachsen oder sich ebenso im Schlamm der unterirdischen Abwasserkanäle der Stadt gebildet hatte, wie man es den Ratten nachsagte, da sie viel zu zahlreich geworden waren, als dass sie einem natürlichen Zyklus von Geburt, Vermehrung und Tod bei ihrer Ausbreitung folgten. Nein, andere Mächte mussten es sein, die sie aus dem Schlamm der Erde entstehen ließen und in erschreckenden Massen an sie Oberfläche trieben! Flackernde Schatten tanzten auf der an ein vogelähnliches Wesen gemahnenden Schnabelmaske nach Art der Pestknechte. Dumpf mischte sich der Atem ihres Trägers mit den Knistern des verbrennenden Räucherwerks, dessen freigesetzte Dämpfe Maria inzwischen Tränen in die Augen trieben. Der Körper jener Gestalt auf dem Stuhl war vollkommen von einer ledernen Kluft, die wie die runzelige Haut eines urtümlichen Krokodils wirkte, wie sie es sie am Nil gab. Maria hatte ihren Vater einmal auf eine Handelsreise nach Alexandria begleitet und dort die Tiere auf dem Markt gesehen – sowohl in ihrem furchteinflößenden lebendigen Zustand, als zu kostbarstem Leder verarbeitet, für das man in Genua ein Vermögen zahlen musste. Bisweilen wurden diese Geschöpfe aber auch als Mumien feilgeboten. Wie auch die Mumie von Menschen, Katzen und Ibissen, die man in Ägypten vor langer Zeit mit inzwischen unbekannten Verfahren vor der Verwesung zu bewahren gewusst hatten, waren sie als Rohstoff für Heilmittel aller Art in ganz Europa beliebt, so als könne die geheimnisvolle Lebenskraft, die diesen Artefakten innewohnte, übertragen werden, indem man die Mumie zu einem Pulver zerrieb, das dann als Beimengung von Arzneien und Heiltinkturen diente. Das Haus di Lorenzo hatte sich über Jahre hinweg immer wieder auch am Handel mit Mumien beteiligt, wenngleich der Anteil am Handelsumsatz der Familie bei weitem nicht so bedeutend war, wie der von Zucker, Seide und Seife, die man vornehmlich aus den levantinischen Küstenstädten bezog.
Damals in Alexandria hatte Maria zum ersten und einzigen Mal auch eine vollständig erhaltene menschliche Mumie zu Gesicht bekommen, deren Anblick ihr noch jahrelang in Form von Albträumen gegenwärtig gewesen war. Der Art und Weise, wie die Gestalt vor ihr auf dem Stuhl die Arme mit Binden umwickelt hatte, erinnerte Maria unwillkürlich an jenen Anblick. Unter diesen Binden, deren Sinn sich der jungen Frau in diesem Moment einfach nicht erschließen wollte, waren immer wieder freie Flächen zu sehen, die den Blick auf das eigentümliche Leder freigaben, aus denen der ganze Anzug bestand. Das erstaunlichste waren für Maria die Handschuhe, die bemerkenswert fein gearbeitet waren. Das Material schien fast hauteng anzuliegen und musste sehr dünn sein, denn die Konturen der Fingerglieder stachen deutlich hervor.
„Ihr seid Maria di Lorenzo?“, wisperte die Stimme unter der Schnabelmaske hervor. Er sprach Venezianisch.
„Ja, die bin ich. Und Ihr müsst der berühmte Pestarzt Fausto Cagliari sein, dem selbst der Kaiser vertraut!“
„Ja, das ist wahr. Wo ist Euer Bruder?“
„Er wartet draußen vor der Tür. Es hieß, wir sollten einzeln eintreten.“
„Zieht Euch aus“, forderte Cagliaris wispernde Stimme. „Legt alle Kleidung, die Ihr am Leib tragt, ab! Ich muss Euren Körper nach den Zeichen der Krankheit untersuchen!“
„Ich trage keine Pestbeulen! Dann wäre ich in Pera geblieben und hätte den stillen Tod erwartet, so wie er meine Eltern ereilte!“
„Tut, was ich sage!“, forderte Cagliari. Seine Stimme war nur ein leises, krächzendes Flüstern und schien doch eine geradezu unheimliche Kraft in sich zu tragen. Eine Kraft, deren Einfluss man sich kaum entziehen konnte. „Es geht mir nicht nur um die Pestbeulen, deren Anfangsstadium Ihr vielleicht selbst gar nicht bemerken würdet. Es gibt noch weitere Zeichen. Und nun ziert Euch nicht länger oder sucht Euch jemand anderen, der Euch die Pestfreiheit bestätigen könnte. Jemanden, dem der Kaiser vertraut, was ja nicht ganz unwichtig ist. Schließlich sollt Ihr ja einige wesentliche Geschäfte mit dem Hof und der kaiserlichen Familie abmachen.“
Der Gedanke daran, sich vor Fausto Cagliari zu entkleiden, war ihr äußerst unangenehm. In seiner eigenartigen, ihn vollständig bedeckenden Kluft, wirkte er kaum noch wie ein Mann, sondern eher wie ein der Hölle entstiegener Tiermensch. Aber ihr war klar, dass sie keine andere Wahl hatte. Der Kaiser hatte seine Frau durch die Pest verloren und seitdem verfolgte ihn eine geradezu panische Furcht vor dieser Krankheit. Zugang zum Kaiserhof, ohne eine Bestätigung darüber, dass man frei von Zeichen des Übels war, schien undenkbar. Aber Geschäfte in Konstantinopel zu machen, ohne eine gute Verbindung zum Kaiserhaus war ebenfalls nicht vorstellbar. Das Urteil eines Arztes, dem der Kaiser vertraute, war für den Fortbestand des Handelshauses überlebenswichtig, dass durch die Erkrankung und den Tod seines Herrn schon bis an den Rand seiner Existenzfähigkeit gebeutelt war. Es kam einer besonderen Gnade des Hofs gleich, dass dieser Arzt des kaiserlichen Vertrauens die Untersuchung durchführte. Und Maria war das sehr wohl bewusst. Es war ein Akt des Vertrauens, der von Generationen di Lorenzos verdient worden war – angefangen mit Niccolo Andrea, der geholfen hatte, die Franken und Lateiner zu vertreiben, bis hin zu ihrem Vater. Was war dagegen ihre Scham? Wie hätte sie sich angesichts dessen zieren können – zumal sie fest entschlossen war, das Handelshaus weiterzuführen. Und dem musste sich alles andere unterordnen. So soll geschehen, was zu geschehen hat, dachte sie. Der Herr hat mich bisher beschützt, warum sollte er es nicht auch in Zukunft tun?
Maria ließ das graue Büßergewand herabgleiten und mehr hatte sie ohnehin nicht mehr am Leib getragen. Schließlich hatte sie ein aufrichtiges Zeichen der Buße zum Herrn senden wollen, wie Pater Matteo es ihr geraten hatte. Unter all den Mitteln, deren tatsächliche Wirkung gegen die Pest höchst zweifelhaft waren, erschien es ihr noch am vielversprechendsten sich auf diese Weise direkt an die höchste Macht selbst zu richten.
Eine Gänsehaut überzog ihren gesamten Körper, als der Arzt an sie herantrat und begann, sie zu untersuchen. Maria fühlte tiefe Scham, so den Blicken dieses Fremden ausgesetzt zu sein. Er kam ihr nahe genug, um die Farbe seiner Augen erkennen zu können. Sie waren eisgrau und der Blick wirkte so kalt, dass ihr Schauder über den Rücken jagte. Ein Blick, der alles zu durchdringen schien und vor dem man nichts verbergen konnte. Ein Blick aber auch, dem alles Menschliche zu fehlen schien. Maria schob diesen Umstand auf die optische Wirkung der Schnabelmaske, die Cagliari vielleicht so erscheinen ließ. Aber in ihrem tiefsten Inneren ahnte sie, dass es damit nichts zu tun hatte. Selbst wenn er ihren Körper mit Lüsternheit und Begierde gemustert hätte, wie sie zunächst befürchtet hatte, dann wäre darin zumindest eine Spur von Menschlichkeit zu finden gewesen. Die Art und Weise jedoch, wie diese grauen Augen sie betrachteten, war dermaßen unangenehm, dass sie keine Worte gefunden hätte, um es zu beschreiben. Die Tücher, mit denen seine Arme umwickelt waren, strömten den Duft ätherischer Öle aus, in die sie offenbar getränkt worden waren. Ein Geruch, der so stark war, dass Maria kaum noch atmen konnte und das Wasser aus Augen und Nase zu laufen begann. Cagliaris behandschuhte Hände tasteten unter ihre Achseln und an den Leistenbeugen. Er ging dabei ziemlich grob vor, sodass Maria beinahe schreiend zurückgewichen wäre. Aber sie beherrschte sich. So ähnlich musste es sein, wenn die nackte Menschenseelen in der Hölle von den tierhaften Dämonen gequält wurden. In Genua hatte sie Gemälde gesehen, die dies in aller drastischen Deutlichkeit darstellten. „Keine Schwellungen“, murmelte Cagliaris Stimme unter der Schnabelmaske hervor und der dumpfe, fast röchelnde Laut, der dann folgte, mochte vielleicht in Wahrheit ein Aufatmen sein. „Stellt Euch mehr ins Licht!“, verlangte er dann. „Hierhin!“ Er deutete mit dem Zeigefinger auf eine bestimmte Position. Maria schritt ein paar Schritte zur Seite, der helle Schein des Kerzenlichts erfasste sie nun noch deutlicher. Cagliari hob ihr Gewand vom Boden auf, ging dann mit schnellen Schritten zum Kamin und warf es hinein. Knisternd begann es zu verbrennen. Dann kehrte er zurück. Aus einer Tasche an seinem Gürtel holte er ein Vergrößerungsglas hervor. Damit begann er nun, ihren gesamten Körper eingehend zu betrachten. Fingerbreit für Fingerbreit schritt er voran und er musste dabei den Schnabel seiner Maske stets gesenkt halten, um eine der Augenöffnungen seiner Maske näher an das Glas halten zu. „Habt Ihr Stiche oder Bisse kleinster Tiere an Euch...
Erscheint lt. Verlag | 18.10.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Literatur ► Historische Romane | |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
ISBN-10 | 3-7389-6554-8 / 3738965548 |
ISBN-13 | 978-3-7389-6554-4 / 9783738965544 |
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