Mann vom Meer (eBook)
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30394-0 (ISBN)
Volker Weidermann, geboren 1969 in Darmstadt, war Gastgeber des»Literarischen Quartetts« im ZDF. Er ist Kulturkorrespondent der Zeit und Autor zahlreicher Bücher, darunter »Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen« und »Mann vom Meer«. Außerdem ist er Herausgeber der Reihe »Bücher meines Lebens«.
- Spiegel Jahres-Bestseller: Sachbuch / Hardcover 2023 — Platz 18
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Volker Weidermann, geboren 1969 in Darmstadt, war Gastgeber des»Literarischen Quartetts« im ZDF. Er ist Kulturkorrespondent der Zeit und Autor zahlreicher Bücher, darunter »Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen« und »Mann vom Meer«. Außerdem ist er Herausgeber der Reihe »Bücher meines Lebens«.
Verleugne dich selbst
Die bucklige Therese Bousset, in deren Pensionat sie aufwächst, mag sie gern. Die Großmutter ist zauberhaft. Auch die Tante und den Onkel mag sie, selbst wenn Onkel Eduard sie eines Tages, nachdem sie aus Angst vor dem Teufel »Diabo! Diabo!« geschrien hatte, so lange prügelt, bis ihre Teufelsfurcht, die, wie er sagt, durch Erziehung im Dschungel in sie gefahren ist, ihr endgültig ausgetrieben ist. Dieser Onkel wurde »ihr Lieblingsonkel«, schreibt sie.
Das Schönste in diesen Jahren: das Meer. Wenn die anderen Kinder aus der Pension im Sommer zu ihren Eltern fahren, um mit ihnen gemeinsam die Ferien zu verbringen, reist Julia zusammen mit ihrem Bruder Manuel, ihren anderen Geschwistern und Therese an die Ostsee nach Travemünde. Das ganze Jahr freut sie sich darauf. Palmen gibt es keine, auch keine Tukane, Urubus, und der Wald hier oben ist merkwürdig still. Aber das Meer ist das Meer. Das Meer ist Heimat und das Wasser hier ist auf ferne, verzauberte Weise mit dem auf der anderen Seite des Globus in ihrer Heimatbucht verbunden. Bei jedem Wetter und schon morgens vor sechs Uhr macht sich Julia auf an den Strand, um zusammen mit Manuel die Erste zu sein, die einen Badekarren ergattert. Die sind schon früh ins tiefere Wasser hinausgezogen worden, und mit einem Kahn rudert man vom Steg aus bis an den Karren heran. Dann ist Herrlichkeit, schwimmen, springen, tunken, spritzen, tauchen. Wenn sie fertig sind, ziehen sie an einer Glocke und ein Bootsmann holt sie ab und bringt sie sicher ans Ufer. Auch bei Sturm und Wellen sind sie hier draußen, die Karren sind dann etwas dichter am Ufer, aber Baden ist immer, Meer ist immer, Spaß ist immer. Und so groß sind die Wellen ja nun auch wieder nicht.
Nach dem Frühstück gehen sie mit Therese in die Parkanlagen hinter dem Kurhaus, um dem Frühkonzert zu lauschen, das immer mit einem Choral beginnt, dann lesen sie, machen Hausaufgaben, Handarbeiten und schließlich geht es wieder ins Meer. Manchmal reiten sie wie Sancho Pansa auf einem störrischen Esel am Strand und am Kurhaus vorbei. Abends sitzen sie mit Therese in der großen Glasveranda gegenüber dem Wald und lesen vor. Am meisten Eindruck auf sie macht die Geschichte von Undine, das Findelkind aus dem Meer, das seelenlose Wassermädchen, dessen Vater, der Wasserfürst aus dem Mittelmeer, es einst fortgeschickt hatte, die Liebe zu finden und eine unsterbliche Seele zu gewinnen. Julia liebt diese Geschichte und schaudert auch davor, vor der Rache, die Undine an ihrem geliebten Huldbrand übt, der in ihren Armen unter Küssen und Tränen stirbt. Und sie fürchtet sich vor dem Wassergeist Kühleborn, Undines Onkel in Wasser- und in Menschengestalt, der das Wasser anschwellen lassen kann und als einer der Elementargeister im Wald lebt. Und den Undine aus ihrer glücklichen Welt für immer zu vertreiben sucht, indem sie einen Stein auf den Brunnen wälzt, den einzigen Zugang zu ihrer Welt. Kühleborn – wie schrecklich und furchteinflößend findet sie den jedes Mal aufs Neue. »Wenn die Rede von ihm war, schaute sie, in unheimlichen Gedanken verloren, scheu in die dunklen Bäume hinüber und bildete sich ein, in einem derselben die Riesengestalt des Wassergeistes zu erkennen.« Viele Jahre später wird sie hier in Travemünde in einem ähnlich gelegenen Haus, dem Wäldchen gegenüber, ihren Kindern das Märchen von Undine vorlesen. Und auch die werden sich lange daran erinnern.
Die kleine Julia träumt sich oft fort aus der Welt. In den Märchen, die sie hört und liest, und vor allem auch im Theater und in der Musik. Sie spielt Klavier, sie spielt es sehr gut, spielt lange, ganz freiwillig, komponiert bald selbst kleine Stücke, geht früh in die Oper, ins Theater, will unbedingt, das ist ihr erster Wunsch, »Theaterdame« werden, so nennt sie das. Schauspielerin, in andere Leben schlüpfen, andere Welten, sie steht oft in der Gartenlaube und singt die Opern, die sie zuvor gehört hat. Egal, ob sie Zuschauer hat oder nicht. Die Laube ist ihre Bühne.
Doch die sonst so freundliche und zugewandte Therese Bousset ist in der Sache »Theaterdame« kompromisslos, kalt und klar: »Therese aber hat ihr kurz den Gedanken abgeschnitten, gesagt, sie dürfe keine Lust zu so etwas haben, sonst würden Pai und Großmai, Therese, Oncles und Tanten sehr traurig.« Ihre ganze Welt, alle, die ihr etwas bedeuten also. Und nicht nur den Beruf zu ergreifen, ist verboten, sondern schon, Lust darauf zu haben. Julia schreibt: »Von da an betrachtete Dodo die Sache als für sie unmöglich und erledigt.«
Julia war folgsam. Was sollte sie auch tun? Sie war hier falsch in dieser Welt. Es störte sie, dass man es ihr nicht sofort ansah. All ihre Geschwister hatten brasilianisch-dunkles Haar, nur sie war blond, als gehöre sie hierher. »Auf entsetzliche Weise mit Ölen« tränkt sie ihre Haare, damit sie dunkler werden, wie die ihrer Mutter, wie die ihrer Geschwister. Mit den Jahren dunkeln die Haare ganz von selbst nach und werden tiefbraun.
Die Einsamkeit wird immer größer. Als sie vierzehn ist, stirbt ihre über alles geliebte Großmai. Auch von diesem Menschen muss sie Abschied nehmen. Auf entsetzliche Weise erinnert sie die Tote hier in Lübeck an ihre Mutter und den für immer unvergesslichen Schreckensmoment, als ihr Vater sie an deren Totenbett gezerrt hatte. Dieser plötzliche Ernst, die eingefallene Brust, die mageren Hände, das bleiche Gesicht, dazu ein schneeig-seidenes Gewand. Das alles, diese kalte Gestalt, hat nichts mehr mit dem Menschen zu tun, den sie liebt. Und immer hat sie Angst, dieser kalte, weiße Mensch könnte plötzlich die Augen aufschlagen oder ein Glied rühren. Auch dieses Totenzimmer verlässt das Mädchen fluchtartig.
Ihr geliebter großer Manuel wurde inzwischen vom Vater nach Brasilien gerufen. Es wurde immer einsamer um sie herum. Zur Freundin hatte sie nur eine, Josefa, die wie Julia früh aus ihrer fernen Heimat gerissen wurde. Josefa kommt aus Mexiko und spricht Spanisch. Ihre Fremdheit verbindet die Mädchen.
Aber sie hat das Gefühl, dass Freundschaften ohnehin nicht helfen gegen das Gefühl der Einsamkeit und der Verlassenheit. Außerdem werden auch die Freundinnen und die Freundschaften nicht bleiben. Und was dann? Wie groß wird die Verlassenheit dann sein? »Hauptsächlich aber empfand sie, daß tausend Freundinnen ihr die Liebe, welche mit Mutter und Großmutter und mit den Großeltern ›drüben‹ ihr so früh entrissen wurde, nicht ersetzen könnten; daß vielmehr Freundschaften wie Seifenblasen vergänglich seien. Sie ließ alle Mädchen mehr oder minder interesselos an sich herankommen, und sie kamen.« Aber es war eine Kälte um sie herum. »Herrschsüchtig«, »eingebildet«, »selbstständig« lauteten die Vorwürfe anderer Mädchen gegen sie. Dabei waren es Angst und Traurigkeit, die sie die Freundschaften fliehen ließ.
Ihre Hoffnung war schon bald: raus aus der Kindheit, möglichst schnell. So gern sie Therese mochte und ihre Mütterlichkeit, aber ihre ältere Schwester war schon konfirmiert und verließ das Heim, auch der nächste Bruder wurde vom Vater nach Brasilien geholt, sie war ausgeliefert, machtlos, allein. Der frühe Entschluss zur Konfirmation war ihr Entschluss zum Erwachsenwerden. Dass sie überhaupt die Religion ihrer Mutter abgelegt und zum Protestantismus übergewechselt war, hatte ihr großer Bruder entschieden. Mit ihm und seinem Übertritt war die Entscheidung für die neue Konfession für alle Geschwister gefallen. Dann endlich kam der Palmsonntag heran, der Tag ihrer Konfirmation. Sie erfuhr ihren Segensspruch und war schockiert. Sie liebte Jesus, sie war entschlossen, seinen Geboten zu folgen und natürlich vor allem ihrem persönlichen Segensspruch. Doch der lautete so: »Wer mich liebhat, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!« Was sollte das? Warum für sie dieser Spruch? Jeder kannte doch ihre Geschichte, jeder wusste doch, dass ihr Leben hier eine einzige verzweifelte Anpassung war an ein Leben, das nicht ihres war, eine Welt, die nicht ihre war. Sie verleugnete sich doch schon längst, so gut es ging. Sie konnte es nicht fassen: »Warum bekam sie ihn!« Und fügte hinzu: »Jetzt nahm sie ihn ernst; sie glaubte nicht, versprechen zu können, daß sie die Kraft haben würde, dem Heilande im Leiden nachfolgen und sich selber verleugnen zu können.«
Doch sie wird die Kraft haben. Es ist der Segensspruch ihres Lebens. Oder auch ihr Fluch: Verleugne dich selbst.
Dann sind auch die beiden jüngeren Brüder zurück in Brasilien, vom Vater gerufen. Die Mädchen werden nicht gerufen. Sie müssen bleiben. Ihre Schwester Mana heiratet einen Sohn aus der Familie Stolterfoth, die ein großes Gut hat und die die Schwestern gern besuchen. Es ist ein freies Leben dort auf dem Land, es sind sieben Geschwister. Julia fühlt sich hier immer ein wenig an ihre sorglose Kindheit zu Hause erinnert. Auf Manas Hochzeit verliebt sich Julia schrecklich in den Bruder des Bräutigams, in Paul. Und er liebt sie auch. Jetzt könnte alles gut werden. Wer sollte etwas dagegen haben? Schließlich waren seine Eltern und auch der strenge Pai mit der Hochzeit der Geschwister einverstanden gewesen. Dass die Stolterfoths kein großes Vermögen haben, keine respektierten Großkaufleute sind – wen soll es stören? Ihn. Den strengen Pai. Offenbar hat er nicht vor, beide Töchter an Habenichtse aus dem Hause Stolterfoth zu verlieren. Und außerdem, so können wir vermuten, liegt dem Vater da schon eine andere Anfrage vor. Oder er hofft auf eine solche. Julia ahnt von nichts. Julia ist verliebt und voller Vorfreude.
Mit aller Macht will sie aus der Kindheit hinaus und in die...
Erscheint lt. Verlag | 7.6.2023 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Brasilien • Buddenbrooks • Der Tod in Venedig • Der Zauberberg • Elisabeth • Exil • Heinrich • Kalifornien • Katja • Klaus • Los Angeles • Mann am Meer • Mittelmeer • Niederlande • Ostsee • Pazifik • Roman • strandspaziergang • Thomas Mann • Travemünde |
ISBN-10 | 3-462-30394-5 / 3462303945 |
ISBN-13 | 978-3-462-30394-0 / 9783462303940 |
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Größe: 2,1 MB
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