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Steinhammerstraße (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
352 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31129-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Steinhammerstraße -  Jörg Thadeusz
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Dortmund-Lütgendortmund in der Nachkriegszeit, das bedeutet Armut, Kriegstraumata und wenig Hoffnung auf eine rosige Zukunft. Doch drei Jugendliche kämpfen um einen besseren Platz im Leben. Edgar wächst bei seiner Mutter und seinem Onkel - der Vater ist im Krieg gefallen - in den 50er-Jahren in der Steinhammer Straße in Dortmund auf. Er soll später den Friseurladen übernehmen oder bei schlechtem Betragen zur Strafe auf den Pütt. Er, seine Jugendliebe Nelly und sein bester Freund Jürgen - sie alle haben genug von der ärmlichen Enge und Versehrtheit des Viertels und träumen davon, alles hinter sich zu lassen. Als Edgar die Möglichkeit bekommt, Schaufensterdekorateur zu lernen, und Förderer findet, öffnet sich die Tür zur Düsseldorfer Künstlerszene. Doch Edgar ist anders als die Sprösslinge reicher Familien und eckt mit seiner unkontrollierten Art immer wieder an.  Der Roman lehnt sich an an das Leben des Malers Norbert Tadeusz, der es zum Meisterschüler Beuys' und zum Kunstprofessor brachte. Jörg Thadeusz schreibt in diesem authentischen Roman über einen Aufsteiger, der mit seiner Herkunft bricht und sie doch nie ganz loswird.

Jörg Thadeusz, Journalist, Moderator und Autor. Für seine Außenreportagen bei »Zimmer frei« erhielt er den Grimme-Preis. Er moderiert die politische Gesprächssendung »Thadeusz und die Beobachter« im rbb-Fernsehen. Bei WDR2 befragt er in seiner Abendsendung Menschen, die etwas zu sagen haben. Er ist wöchentlicher Kolumnist der Berliner Morgenpost. Bei Kiepenheuer & Witsch erschienen von ihm »Rette mich ein bisschen«, 2003; »Alles schön«, 2004; »Aufforderung zum Tanz« (gemeinsam mit Christine Westermann), 2008; »Die Sopranistin«, 2011, sowie »Die vereinigten Zutaten von Amerika«, 2012 (gemeinsam mit Anna Engelke). 

Jörg Thadeusz, Journalist, Moderator und Autor. Für seine Außenreportagen bei »Zimmer frei« erhielt er den Grimme-Preis. Er moderiert die politische Gesprächssendung »Thadeusz und die Beobachter« im rbb-Fernsehen. Bei WDR2 befragt er in seiner Abendsendung Menschen, die etwas zu sagen haben. Er ist wöchentlicher Kolumnist der Berliner Morgenpost. Bei Kiepenheuer & Witsch erschienen von ihm »Rette mich ein bisschen«, 2003; »Alles schön«, 2004; »Aufforderung zum Tanz« (gemeinsam mit Christine Westermann), 2008; »Die Sopranistin«, 2011, sowie »Die vereinigten Zutaten von Amerika«, 2012 (gemeinsam mit Anna Engelke). 

Inhaltsverzeichnis

6. August 1957
Dortmund
Steinhammerstraße
Vor elf Uhr am Vormittag

Der Postkasten sagte nichts.

War gelb und schweigsam.

Vielleicht zu heiß. Noch nicht elf Uhr am Vormittag, und der Zeiger des Thermometers an der Paracelus-Apotheke stand schon im rot unterlegten Bereich, der bei 28 Grad begann.

Der Postkasten sollte ihm gratulieren. Sollte sagen, dass du dich das traust, Edgar, toll! Oder: Das wird bestimmt was, so sehr, wie du es dir wünschst.

Edgar wollte nicht ausschließen, dass Sachen sprechen können. Das Krokodil, das er kürzlich geschnitzt hatte, würde die Stimme seines Freundes Jürgen haben, sollte es endlich losreden.

Für seinen Stiefvater wäre das ein ganz schlechtes Thema. Das Unmögliche. Das Magische. Das Undenkbare. Irgendwas anderes als das Offensichtliche. Irgendwas, worüber er nicht vorgeben konnte, ganz und gar Bescheid zu wissen. Er solle mal aufhören zu spinnen, würde Jupp sagen. Wieder einmal würde Jupp losleiern, dass der »Ernst des Lebens« jetzt unaufhaltsam auf Edgar zukäme. Jetzt, wo er die Schule fertig habe und 17 Jahre alt sei.

»Das würdest du dir auch nicht dauernd anhören wollen«, sagte Edgar zu dem Postkasten und klopfte zur Bestätigung auf seinen Deckel. Machte kehrt und ging zwei Schritte zum Bordstein. Er musste zurück auf die andere Straßenseite, zurück in Jupps Friseursalon. Eigentlich auch gut, dass der Postkasten nichts sagte. Denn ein stummer Kasten konnte auch nichts ausplaudern. Er würde keinem erzählen, was Edgar getan hatte. Einen Brief eingeworfen. Adressiert an die Städtischen Bühnen Dortmund. Der Absender nicht seine Mutter, nicht sein Stiefvater Jupp. Er hatte nicht im Namen von jemandem diesen Brief aufgegeben. Sondern in seinem eigenen Namen, Edgar Woicik, Steinhammerstraße, Dortmund.

Edgar rannte nicht einfach über die Straße wie früher. Sondern stoppte an der Bordsteinkante. Seit vor anderthalb Jahren seine Oma Lina von der Straßenbahn überfahren worden war, passte Edgar auf.

»Was rennt die auch in Pantoffeln auf die Straße und guckt nicht?«, hatte Jupp danach gemotzt. Um »Mama« zu trauern, das passte nicht zu Jupp. Vorwürfe klappten einfach besser als Gefühle.

Edgar sah, dass die Straßenbahn hundert Schritte die Straße aufwärts an der Haltestelle vor dem Kiosk von Herrn Miebach hielt, und ging los. Als er auf der anderen Straßenseite ankam, roch er den Qualm, den der alte Wichmann erzeugte.

Der stand, wie immer, im Hauseingang, gleich neben dem Salon. Keine Augenbrauen, keine Haare auf dem Kopf und auch keine guten Aussichten. Staublunge, wie bei so vielen Bergleuten. Die Luft reichte nur bis vor die Haustür. Der alte Wichmann rauchte die billigsten Zigarren, die es gab. »Der steckt getrocknete Kacke in Brand«, lästerten die Kunden in Jupps Salon.

Edgar nickte dem alten Wichmann zu. Der fasste sich an die Mütze und krächzte, wie immer, etwas Unverständliches. Edgar glaubte, dass der Gesichtsausdruck des alten Wichmann als Lächeln gemeint war. Ihm würde er sofort erzählen, warum er den Städtischen Bühnen einen Brief geschrieben hatte.

 

Edgar schob die Tür zum Salon auf. Die quietschte. Das Ölen der Scharniere gehörte eigentlich auch zu seinen Aufgaben. Er überbrückte die Zeit zwischen seinem Abschlusszeugnis der Schule und dem, was da kommen würde, indem er Jupp half. Er konnte nicht Haare schneiden, nicht rasieren und durfte nicht an die Kiste mit den Kondomen, die Jupp den Herren »für die Ehehygiene« mitgab. Wie andere Friseure auch. »Du bist hier Hilfsarbeiter«, war Jupp aus irgendwelchen Gründen wichtig zu betonen. Edgar besah sich die Tür, wollte schon das Ölkännchen holen, bekam dann aber von drinnen gleich Kontakt mit Jupps Organ.

»Mach die Tür zu, da kommt doch die ganze Hitze rein. Ich bin doch getz schon am Ölen wie sonne Schiffsratte.« Jupp sah nur kurz über die Gläser seiner dicken Brille hinweg und konzentrierte sich dann wieder auf die Rasur von Ludger Kafinek. Der lag mehr im Friseurstuhl, als dass er saß. Den rechten Arm ließ er entspannt baumeln, in der Hand die qualmende Zigarette. Steiger auf der Zeche Oespel. Edgar wusste nicht, was einen Steiger von einem normalen Bergmann unterschied. Außer, dass die anderen Männer »Na immerhin« sagten, wenn sich jemand als Steiger zu erkennen gab. Wenn es Leute wie Kafinek schaffen konnten, war Steiger aber alles andere als ein kometenhafter Aufstieg, da war sich Edgar sicher. Ludger Kafinek wurde aus guten Gründen »der Schäbbige« genannt. Sein Gesicht war eine echte Herausforderung für Jupp und sein Rasiermesser. Es bestand größtenteils aus Narben und Wülsten. Über der leeren rechten Augenhöhle trug der Schäbbige eine Augenklappe.

Seiner Erzählung nach hatte er in den letzten Kriegstagen im Kampf gegen amerikanische Soldaten eine feindliche Handgranate zurückgeworfen. Zu spät, jedenfalls für sein Gesicht.

Die anderen Kunden glaubten ihm das nicht. Vor allem diejenigen, die Wert darauf legten, sich »an der Ostfront den Arsch abgefroren zu haben«. Unter denen galten die Amerikaner generell als Weichlinge. Und wer sich von den Milchbrötchen fangen und »vertubacken«, also verprügeln ließ, der wäre »gegen den Iwan« verloren gewesen. »Zu allem fähig, zu nichts zu gebrauchen«, hieß es über Kafinek.

Er hatte das intakte Auge geschlossen und redete.

»Ersaufen ist noch schlimmer als verbrennen«, sagte er laut, als hätte die Welt lange nichts Bedeutsameres gehört.

Der Schäbbige trug vor, was er zum Untergang des italienischen Ozeandampfers Andrea Doria vor ein paar Tagen falsch aufgeschnappt oder dazu erfunden hatte.

»Da inne Karibik gibt es so Stechfische. Die gucken dich nur böse an, da bisse schon kaputt. Aber unter schreckliche Schmerzen.« Kafinek machte eine genussvolle Pause, so als würde er diese Fische essen, sobald es sie in einer Dose mit Tomatensauce gab.

»Ludger, wenn du jetzt nicht mal für einen Moment die Klappe hältst, dann gibt es gleich ein Blutbad«, sagte Jupp, der das Rasiermesser vorsichtig zwischen den Kratern in Kafineks Gesicht führte. »Du wirst zwar nicht mehr hässlicher, aber wenn du mir hier auf dem Stuhl kaputtgehst, wohin dann mit der Leiche?«

Kafinek lachte rasselnd. Ötte Schmidt, der auf der Eckbank wartete, bis Jupp Zeit für ihn und seine formlose Wolle aus rötlichem Drahthaar hatte, grinste in die »Ruhr Nachrichten«, die er vor sich aufgefaltet hatte.

Jupp hatte Ötte mehr oder weniger befohlen, vorbeizukommen. Denn der würde am Sonntag bei der Kommunionfeier für Edgars kleine Schwester Inge singen. »Kommejon« sagten hier alle. Eine Nachfeier. Denn den Weißen Sonntag, den Sonntag nach Ostern, hatte die kleine Inge wieder in der Lungenklinik in Hemer verbringen müssen. Da sollte Ötte eine anständige Frisur haben. Ötte arbeitete auf dem Schlachthof, hätte aber eigentlich an die Oper in Danzig gehört. Fand jedenfalls seine Mutter. Kein Fest in der Straße, bei dem Ötte nicht irgendwann »Du schwarzer Zigeuner« von Vico Torriani sang. Das Sehnsuchtslied für alle, die aus der ›kalten Heimat‹ geflohen waren. »Und wenn deine Geige weint, weint auch mein Herz.«

Für Kafinek war »Pauline, mach das Strumpfband los« Musik genug. Er hatte sich an der Andrea-Doria-Schiffskatastrophe festgebissen, redete unablässig weiter: »Die Itaker sind wehleidig, die werden beim Absaufen ordentlich geschrien haben.«

Edgar stand im hinteren Teil des Ladens vor dem Regal und faltete die Handtücher, die er mit seiner Mutter in der Waschküche gekocht hatte. Zuerst an der Längsseite umschlagen, dass sich ein langes Tuch ergibt. Drei Drittel vorstellen. Das rechte Drittel in die Mitte falten und das linke obenauf legen. So, und nur so mussten Jupps Handtücher gefaltet werden. Ungut, wie Edgar die Wut auf Kafinek im Bauch spürte. Ein heißer Ball. Das war schon so oft schiefgegangen. Aber warum konnte der Schäbbige nicht einfach die Schnauze halten, wenn er sowieso nicht wusste, wovon er sprach? Woher wollte er wissen, wie genau sich Ertrinken anfühlte? Niemand wusste das, und schon gar nicht dieser Kerl, der vor allem nicht nichts sagen konnte.

»Herr Kafinek, die Andrea Doria ist gar nicht in der Karibik gesunken. Sondern 2000 Kilometer nördlich, vor Nantucket. Da ist das Wasser sehr kalt. Es sind nur 46 Menschen gestorben. Andere Schiffe in der Umgebung haben schnell gehandelt und eine Katastrophe, wie bei der Titanic, verhindert. Was an ein Wunder grenzt, wie sie im Radio gesagt haben. Und nur der italienischen Besatzung zu verdanken ist.« Edgar faltete sofort das nächste Handtuch und wartete darauf, dass Jupp zustimmend nickte. Denn sie hatten den Bericht gemeinsam beim Abendbrot gehört.

Das Nicken blieb aus, aber Ötte nahm die Zeitung wieder runter und lächelte einmal quer durch den ganzen Raum in Edgars Richtung.

Jupp zischte plötzlich ein »Verdorrich« durch die Zähne. Was »Verdammt« meinte. Außer dem Schäbbigen sahen alle, was passiert war. Ein Blutrinnsal in der weißen Landschaft aus Rasierschaum auf Kafineks Wange wurde rasch größer. Wie ein schnell fallender Bühnenvorhang.

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst mal die Klappe halten«, sagte Jupp.

»Hab ich ja auch«, antwortete der, »gesprochen hat der Hauptgewinn, den dir dein Herr Bruder hinterlassen hat. Für das, was der schon anna Volksschule gelernt hat, müssen andere ja ersma’ studieren gehen. So ein kluges Kerlchen.«

Kafinek öffnete sein Auge immer noch nicht, sondern gab Jupp mit der Kippe in der Hand ein Zeichen. Weitermachen mit der Rasur, hieß das, lass es bluten.

»Damit...

Erscheint lt. Verlag 5.4.2023
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Arbeiterklasse • Arbeitermilieu • Beuys Schüler • Dortmund • Düsseldorf • Joseph Beuys • Kohlepott • Künstler • Kunstszene • Lütgendortmund • Maler • Meisterschüler • Norbert Tadeusz • Norbert Thadeusz • Pottroman • Ruhrgebiet • Ruhrpott • Sozialer Aufstieg • Werk ohne Autor
ISBN-10 3-462-31129-8 / 3462311298
ISBN-13 978-3-462-31129-7 / 9783462311297
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