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Normalhöhe Null (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
272 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0556-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Normalhöhe Null - Anna Warner
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Jeder Sturm bringt Veränderung

In einer leer stehenden Villa an der Ostsee, an einer Steilküste, treffen sie aufeinander: die kühle Nora, Bauingenieurin mit Heimvergangenheit, spezialisiert auf Abrisse, und die überschwängliche Peggy, die Skulpturen aus dem errichtet, was das Meer anspült. In der ehemaligen Pension suchen sie Zuflucht, suchen ihre Zukunft. Doch die alte Villa widersetzt sich, die Steilküste bricht ab, immer näher kommt der Abgrund dem Haus, und ein paar höchst eigenwillige Gäste tauchen auf und bleiben. Notgedrungen raufen sich die beiden Frauen zusammen. Ihre Vergangenheit holt sie jedoch auch hier ein, und es stellt sich die Frage: Was gibt Halt im Leben? Und was ist eigentlich ein Zuhause?



<p>Anna Warner, geboren 1968, lebt in der Nähe von Hamburg. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Ethnologie in Bonn und Hamburg und promovierte an der Universität Bremen im Fach Kulturwissenschaft/Europäische Ethnologie. Sie liebt die Küste und das Meer und schreibt am liebsten Romane, die in der Natur Norddeutschlands spielen.</p>

1


Eine Wolke Betonstaub nahm ihr die Sicht.

Nora hustete. Die Partikel drangen ihr in Mund, Nase und Augen, trotz Schutzkleidung und Atemmaske. Es störte sie nicht. Während sie ein Taschentuch hervorzog und sich die Stirn wischte, machte sich ein tiefes Gefühl der Befriedigung in ihr breit. Erledigt, sie hatte es wieder einmal geschafft. Sauber waren die Mauern in sich zusammengefallen, genau wie geplant, geschmeidig und in der Zeit.

Langsam wurden auch die Umrisse von Alfio, ihrem Assistenten, deutlich. Alfio stand in einiger Entfernung und hielt schon wieder sein Mobiltelefon in der Hand. Staub ist schlecht für die Technik, dachte Nora, und sowieso. Sie machte ihm ein Zeichen: Pack das Ding weg.

Er sah sie nur ausdruckslos an, während er weiter zuhörte. Alfio hängt zu viel an seinem Gerät, dachte Nora. Sie hatten schließlich einen Job, auf den man sich konzentrieren musste. Das hier war Präzisionsarbeit, nichts, wirklich nichts durfte einen ablenken, wenn man ein Gebäude abriss, erst recht nicht, wenn man sprengte. Die Räume vermessen, die Statik berechnen, den Sprengstoff deponieren. Absperren, die Straße räumen, das war bisher Alfios Aufgabe gewesen. Am Schluss noch einmal alles prüfen. Und dann die Zündung betätigen.

Alfio drehte sich von ihr weg. War er blass geworden, oder täuschte der Staub? Nora tat einen Schritt auf ihn zu. Was der Rohbau eines Bürogebäudes gewesen war, dreizehnstöckig, Stahlbeton, existierte nicht mehr. Ein Schutthaufen, zu Boden gerauscht in einer einzigen fließenden Bewegung.

Jetzt wurde Alfio laut, gestikulierte mit der freien Hand. »Wohin … was sagst du da, wohin hätte ich kommen sollen?!«

Manchmal ging sein Temperament mit ihm durch, dann gab er den Sizilianer, obwohl er aus Südtirol stammte. Sein Wesen war ihrem komplett entgegengesetzt, aber vermutlich hatte Nora ihm den Job genau deshalb gegeben. Jeden Tag hatte er sie angerufen und ihr geschmeichelt, sie sei die Beste, unbedingt wolle er die Ausbildung bei ihr machen, bis sie ihn eingestellt hatte. Seine Energie hatte sie beeindruckt, sein entschiedener Wille, das Handwerk zu erlernen. Und Alfio war gut, sie hatte seine Unterstützung bald zu schätzen gelernt. Aber wenn er gerade keine Aufgabe hatte, war er mit seinem Mobiltelefon beschäftigt, sein Leben war Kommunikation. »Nora, du bist ein Stein, quasi, ich bin wie Wasser, ich muss reden, meinen Mund benutzen, ich brauche Worte, die Sprache, capisci

Der Staub setzte sich.

Diesmal hatte Alfio den Zünder betätigt, hatte alles nach ihrer Anweisung ausgeführt. Auch ohne Berechtigungsschein, sie hatte schließlich daneben gestanden. Ein mehrstöckiges Gebäude auf einer Großbaustelle, frei stehend, für den Anfang war es ideal. Die Firma wollte es offenbar nicht mehr. Manchmal war Abreißen billiger, als ein Objekt zu halten, etwa wenn es Baufehler gegeben hatte oder wenn die weitere Finanzierung nicht gesichert war.

Jetzt ließ Alfio sich zu Boden sinken.

Er soll sich zusammenreißen, dachte Nora, egal wie attraktiv der Kerl war, der ihm gerade eine Abfuhr erteilte. Etwas weniger Pathos, bitte, das war doch wohl möglich.

Alfio steckte sein Telefon weg und fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. Jetzt überlegte Nora, ob es doch etwas Ernstes war. Vielleicht war jemand gestorben? Sie stieg über einen Haufen Steine. Draußen, außerhalb der Absperrung, erkannte sie die üblichen Schaulustigen, es waren nicht viele.

Mitgenommen blickte Alfio ihr entgegen.

»Tutto questo …« Er machte eine erschöpfte Geste, die den nicht mehr vorhandenen Raum umfasste.

Eine Sekunde später sprang er auf und fluchte, was das Zeug hielt. All diese italienischen Kraftausdrücke. Nora brauchte nicht zu wissen, was sie bedeuteten. Madonna puttana.

Sie steckten tief in der Scheiße.

Nora lehnte an der Fensterbank, die Arme vor dem Körper verschränkt. Darin, sich nichts anmerken zu lassen, hatte sie es zur Meisterschaft gebracht.

Mareike, ihre Auftraggeberin, stand neben ihrem Schreibtisch. Die vorherrschende Farbe im weitläufigen Büro: Weiß, dazu ein wenig dezentes Grau, ein rötliches Bild, moderne Architekturfotos.

Der Schreibtisch war aufgeräumt. Eigentlich verrückt, dachte Nora. Hier, wo es so sauber wirkte, so steril, wurden die schmutzigen Deals gemacht.

Mareike tippte mit dem Kugelschreiber auf ihre Handfläche. Sie wirkte ganz ruhig, war aber gespannt wie ein Bogen. Nora kannte das.

Sonnenstrahlen fielen durch die Fenster, im selben Moment fuhren die automatischen Stores herab. Der Plotter gab ein würgendes Geräusch von sich, irgendwo im Nebenraum hatte ein Mitarbeiter ihm einen Befehl gegeben. Er bräuchte mal wieder eine Wartung.

Mareike fixierte die einzige Pflanze im Raum, eine Sukkulente, sie benötigte wenig Wasser. Vielleicht ist sie nicht echt, dachte Nora, sie hatte nie gesehen, dass jemand die Pflanze mit den dicken Blättern goss.

Vielleicht war auch Mareike nicht echt. Auch sie schien nichts von dem zu brauchen, was Menschen normalerweise brauchten. Nora hatte nie erlebt, dass Mareike die Kontrolle verlor, wütend wurde oder auch nur herzhaft lachte. Wenn sie lächelte, blieben ihre Lippen geschlossen, und auch ihre Gesichtsfarbe veränderte sich nie, Mareike war stets gleichmäßig temperiert.

Das Tempo, mit dem sie den Kugelschreiber klickte, steigerte sich. Ihr Blick fiel jetzt auf Nora und durchbohrte sie. Auf ihrer Haut zeigte sich ein rötlicher Schimmer.

Und dann legte Mareike los.

Zwanzig Minuten später saß Nora in ihrem Lieferwagen und fuhr zu ihrer Wohnung. Der Staub hing noch im Overall, Mareikes Explosion tönte ihr in den Ohren. Wie Dolche waren ihr die Vorwürfe um die Ohren geflogen. Nora war wie gelähmt gewesen. Mareikes Worte waren auf sie eingeprasselt, sie hatte nur kurz die Augen geschlossen vor Erschöpfung, was Mareike erst recht befeuert hatte.

Dass Nora etwas sagte, war nicht vorgesehen. Sie hielt besser den Mund. Und sie wusste es inzwischen ja selbst: Sie hatte einen Fehler gemacht. Das Bürogebäude, der zukünftige Berliner Sitz der Baltaris Group, eines global agierenden Unternehmens, ein Prestigeobjekt im Rohbau, war die falsche Adresse gewesen.

Was um alles in der Welt sie sich dabei gedacht hätte. Ob sie nicht alles genau abgesprochen hätten. Seit wann ihre Vorbereitungen nicht mehr stimmen würden. Was um Himmels willen sie im Kopf gehabt und mit wem sie gearbeitet hätte.

Nora beherrschte die Fähigkeit, Dinge an sich abprallen zu lassen, sie hatte lange die Gelegenheit gehabt, es zu perfektionieren. Diesmal war es ihr schwergefallen.

Es klingelte anhaltend, eine Straßenbahn kam von hinten heran. Nora wechselte die Fahrspur, worauf ein Bus der Berliner Verkehrsbetriebe unter lautem Hupen dicht an ihr vorbeirauschte.

Ein Bus. Kurz wurde ihr schwarz vor Augen.

Sie brauchte Luft. Nora ließ den Wagen auf den Bürgersteig rollen, vor die Einfahrt zu einem Park, und schaltete den Motor aus. Vor ihr stand ein Schild: Rettungsweg, Zufahrt bitte frei halten. Sie öffnete das Seitenfenster und legte den Kopf zurück, zutiefst erschöpft.

Ein Zahlendreher in den Koordinaten. Eine ähnliche Adresse. Nora hatte keine Ahnung, wie ihr das hatte passieren können. War sie nicht mehr so gut, wie sie dachte?

Ein junger Mann auf einem Fahrrad umrundete sie, zwei behelmte Kinder im Anhänger, und deutete verärgert auf das Schild. Hinter dem Parkeingang stolzierte eine Taube und pickte nach den Brocken, die ihr eine grauhaarige Frau von einer Bank aus zuwarf.

Vielleicht, dachte Nora, sollte auch sie einfach Platz auf einer Bank nehmen. Spatzen und Tauben füttern und sich dort mit ein paar Plastiktüten einrichten. Das Leben vorbeiziehen lassen. Sie fühlte sich nicht weit davon entfernt.

Jetzt erhob sich die Frau und kam so dicht an das Fenster, dass Nora ihren Körpergeruch wahrnahm. »Ich will nach Hause. Du hast ein Auto, du kannst mich hinbringen.«

Nora verspürte Druck auf den Ohren. Sie griff in ein Fach neben dem Lenkrad und gab der Frau ein paar Münzen. Dann startete sie den Motor.

So plötzlich, wie Mareike explodiert war, so unvermittelt hatte sie sich gemäßigt. »Für mich beziehungsweise die Brightbau Solutions ist das natürlich ein enormer Schaden«, hatte sie sachlich konstatiert. Und dann waren die entscheidenden Worte gefallen: »Das wird dich teuer zu stehen kommen.«

Mareike hatte ihren Blazer glatt gestrichen und sogar gelächelt. Mit kühlem Blick, die Haut wieder gleichmäßig hell.

Nora war zu müde gewesen, um zu nicken.

»Und wenn ich dir einen Rat geben darf: Tu mal was für dich.«

Nora hatte sie nur angesehen, unfähig, etwas zu erwidern. Dann hatte sie sich von der Fensterbank abgestoßen und war gegangen.

In ihrer Wohnung angekommen, setzte Nora Wasser auf, nahm eine angebrochene Kaffeepackung aus dem fast leeren Kühlschrank, löffelte etwas von dem Pulver in einen Becher.

Knapp zwei Jahre war sie jetzt für Mareikes Firma tätig. Als selbstständige Bauingenieurin, gebraucht und beauftragt für Rückbauten besonderer Art. Nora fand einen Weg, wo andere abwinkten. Löste statische Probleme, brachte Bagger in Stellung oder Sprengsätze an. Nora war spezialisiert auf komplizierte Fälle, erdachte Lösungen, die vergleichsweise wenig Aufwand erforderten und kostengünstig waren. Nora brachte quasi jedes Haus zum Einsturz, es gab kein Gebäude, dem sie nicht gewachsen war.

Was...

Erscheint lt. Verlag 21.3.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte altes Haus • Architektur • Bauingenieurin • Belletristik für Frauen • Buch • Frauen ab 20 • Frauen ab 30 • Frauen ab 40 • Frauenfreundschaft • Freiheit • Freundschaft • Humor • Kunst • Künstlerin • Küste • landschaftsroman • Lebenskrise • Liebe • Mecklenburg • Meer • Midlife-Crisis • Mitte des Lebens • Natur • Norddeutschland • Norden • Ostsee • Pension • Roman deutsch • Sinnkrise • Skulptur • Steilküste • Veränderungen • Vergangenheit • Villa • Vorpommern • Zuhause finden • Zukunft
ISBN-10 3-7499-0556-8 / 3749905568
ISBN-13 978-3-7499-0556-0 / 9783749905560
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