Vollblutpferde (eBook)
272 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77379-6 (ISBN)
Gegen Ende seines Lebens wird der altgediente Sportreporter Mike Sullivan von seinem Sohn gefragt, was ihm aus drei Jahrzehnten auf nordamerikanischen Pressetribünen am deutlichsten in Erinnerung geblieben sei. Die Antwort überrascht: »Ich habe 73 Secretariat beim Derby rennen sehen. Das war reine ... Schönheit, verstehst du?«
John Jeremiah Sullivan versteht gar nichts. Also verbringt er die nächsten zwei Jahre damit, der väterlichen Begeisterung nachzugehen - für Secretariat, dieses mythische, geniale Rennpferd, und für Pferde überhaupt. Er reist kreuz und quer durchs Land, kriecht durch prähistorische Höhlen, vergräbt sich in der Kulturgeschichte des Equus caballus, verbringt Wochen auf runtergerockten Pferderennbahnen und besucht Gestüte, wo die Jungtiere auf die Saison vorbereitet und für Millionen Dollar versteigert werden. Und bei alledem versucht er, dem inzwischen verstorbenen Vater nachträglich doch noch nahezukommen.
Memoir, Reportage, historische Erkundung: J. J. Sullivan hat ein schillerndes, wunderbar eigensinnig bebildertes Buch geschrieben, über Herkunft, über das Verhältnis zu seinem Vater und über Pferde - in unserer Geschichte, Kultur und kollektiven Fantasie.
<p>John Jeremiah Sullivan, geboren 1974 in Louisville/Kentucky, arbeitet als Reporter für das The New York Times Magazine, GQ, Harper's Magazine, die Paris Review und andere amerikanische Zeitschriften. Er lebt in North Carolina.</p>
Der Bursche
Es war der Mai vor drei Jahren, und ich stand an einem Krankenhausbett in Columbus, Ohio, wo mein Vater sich von einer Operation erholte, die ein fünffacher Bypass hätte sein sollen, dann aber ein sechsfacher wurde, als der Chirurg das Herz sah. Mein Vater war blass. Er war so dünn wie seit Jahren nicht. Auf dem Schoß hatte er schief einen Teddybären liegen, den die Schwestern ihm geliehen hatten; wenn mein Vater aufstand oder sich hinsetzte, sollte er ihn an sich drücken, damit die Naht in der Brust nicht riss. Als ich hereinkam, gratulierte ich ihm zu dem Bären, und er ließ die Kinnlade runterklappen, schielte und verdrehte die Augen. Das Gesicht machte er in allen möglichen Situationen, aber es bedeutete immer dasselbe: Ist das denn zu fassen?
Das Riverside Methodist Hospital (der Fluss war der Olentangy): Meine Familie hat hier Geschichte, oder wenigstens mein Vater und ich. Hierhin hatten sie mich mit zwölf nach dem Little-League-Football-Spiel gefahren, in dem ich zum ersten Mal in der ganzen Saison den Ball bekam, bevor ich beide Unterschenkelknochen des rechten Beins in so einer Weise gebrochen bekam, dass ich mich nach dem Pfiff aufsetzte, an mir runterschaute und die Fußspitze exakt 180 Grad in die falsche Richtung zeigen sah, woraufhin ich mich dort an der Fünfzig-Yard-Linie unter leichtem Schock zurück ins Gras sinken ließ und die Wolken bestaunte. Nur das Gesicht des Schiedsrichters versperrte mir die Sicht. Er sagte immer wieder: »Pass auf, was du sagst, Junge«, was ich lustig fand, denn soweit ich wusste, hatte ich kein Wort gesagt.
Ich erinnere mich oder habe gefolgert, dass mein Vater langsam von der Seitenlinie herankam und mir mit seiner außerordentlichen Ruhe in Notfällen die Hand auf den Arm legte und mir gut zuredete, obwohl er bestimmt selbst ein bisschen schockiert vom Zustand meines Fußes war – und vielleicht auch ein bisschen reumütig, weil er, der Sportreporter, der selbst bis in seine Zwanziger ein großer Sportler und später mehrfacher Little-League-Coach gewesen war, hätte wissen müssen, dass ich gar nicht erst auf dem Feld hätte stehen sollen. Die einzige mögliche Position für mich war Running Back, denn wenn der Coach mich irgendwo auf der Offensive Line eingesetzt hatte, war ich im Zweifel vor den anderen Spielern zurückgewichen. Mein einziger Vorzug war meine Schnelligkeit; ich hatte immer noch einen präpubertären Läuferkörper und war der Schnellste im Team. Dem Coach war aufgefallen, dass ich Sprints meistens gewann, also witterte er eine Gelegenheit. Dabei übersahen wir aber beide, dass ein Running Back nicht bloß den Guards davonrennen muss – was überhaupt nur bei perfekt ausgeführten Spielzügen infrage kommt –, sondern dass er sich auch an ihnen vorbeikämpfen, sie beiseitestoßen muss. Ich hatte keine Chance.
Fairerweise muss ich sagen, dass der Coach andere Sorgen hatte. Unserem namenlosen Team fehlte es sowohl an Talent als auch an »Drive«, wie er es nannte. Auf der Heimfahrt nach unseren ersten beiden Spielen spürte ich, dass mein Vater kein Wort über die Ereignisse auf dem Spielfeld fallen ließ, weil wir jämmerlich waren – und zwar nicht jämmerlich wie das Team aus Die Bären sind los, wir rissen uns nämlich nicht irgendwann auf einmal zusammen, »wollten es« oder gaben alles. Beim Training reagierten viele der anderen Spieler mit solcher Gleichgültigkeit auf den Rat vom Coach, dass es einem vorkam, als wären sie nur da, um ihre Sozialstunden abzuleisten.
Kyle, der Sohn vom Coach, war unser erster Quarterback. Wenn es beim Training nicht so lief, wie Kyle wollte, wenn er nicht mehr auf dem Feld war, weil der zweite Quarterback eingewechselt wurde, der übrigens sehr stark war, oder wenn Kyle zwar auf dem Feld war, aber keine guten Würfe hinbekam, dann fing Kyle an zu weinen. Und keine Kindertränen, bei denen ich mich gefragt hätte, wie es wohl beim Coach zu Hause zuging, bei denen ich vielleicht ein bisschen Mitgefühl mit Kyle gehabt hätte, sondern er weinte bittere Tränen, viel zu bittere für einen Zwölfjährigen. Und dann machte Kyle etwas Bemerkenswertes: Er schmiss seinen Helm weg und rannte die vierzig Meter zum Auto vom Coach, einem beigefarbenen Cadillac El Dorado, der immer auf dem Fußballplatz nebenan stand. Kyle stieg ein, startete den Motor, ließ alle vier Fenster runter und spielte – immer noch weinend, nahm ich an, vielleicht dort im Wagen seines Vaters sogar schluchzend – Aerosmith-Kassetten auf Lautstärken, für die die Anlage des El Dorado bei weitem nicht ausgelegt war. Die Lautsprecher knarzten. Fünf oder zehn Minuten lang ignorierte der Coach diese Darbietung demonstrativ und brüllte uns eben etwas lauter an, als wollte er zeigen, dass so etwas im Football nun mal vorkam. Aber bald nahm sich der verzweifelte Kyle die Hupe vor, die er erst ein paarmal drückte, bevor er sie ganz festhielt. Dann streckte er die Faust mit erhobenem Mittelfinger aus dem Fahrerfenster. Nun ließ der Coach uns zurück und ging ganz langsam zum Wagen. Während wir anderen auf dem Feld standen, sprach er mit Kyle. Bald verstummte der Motor. Als die beiden zu uns zurückkehrten, ging das Training weiter, und Kyle war wieder Quarterback.
Nichts davon erschien mir damals außergewöhnlich. Wir waren neu in Columbus, gerade aus Louisville hergezogen (unser Haus war am anderen Flussufer gewesen, in den Hügeln über New Albany, Indiana), und ich brauchte Freunde. Also sah ich es mir alles mit dumpfer, animalischer Duldsamkeit an, obwohl ich spürte, dass es nicht gut ausgehen konnte. Und dann hatte mir an jenem letzten Samstag Kyle plötzlich den Ball gegeben, als etwas sehr Kurzes, Heftiges passierte und ich einen großen, muskulösen Halbwüchsigen von mir aufspringen und wegsprinten sah, als wäre er neben einer Klapperschlange aufgewacht. Ich habe noch seine Augen vor mir, als sie mein Bein sahen. Er war schwarz und hatte einen Afro, der sich aufbauschte, als er sich den Helm runterriss. Er wirkte ernsthaft verwirrt darüber, wie leicht ich zu zertrümmern war. Während die Sanitäter mich auf die Trage luden, kam er herüber und entschuldigte sich.
Im Riverside Hospital schienten sie mein Bein falsch. Das Röntgenbild zwei Wochen später zeigte, dass ich den Rest meines Lebens hinken würde, wenn man es nicht wieder brach und neu schiente. Dazu schickte man mich zu einem Arzt namens Moyer, einem Spezialisten, den andere Krankenhäuser einfliegen ließen, um einem Farmer die Hand wieder anzunähen und so weiter. Er strahlte Wärme und Ruhe aus. Aber aus Gründen, die sich mir nie ganz erschlossen, bekam ich keine Vollnarkose für die Prozedur. Man spritzte mir ein Beruhigungsmittel, wohl ein ziemlich schwaches, denn ich war bei vollem Bewusstsein, als Dr. Moyer meine Wade mit der einen und die Ferse mit der anderen Hand packte und sagte: »John, die Knochen sind schon wieder etwas zusammengewachsen, deshalb tut es jetzt gleich ein bisschen weh.« Mein Vater war da gerade zum Rauchen auf dem Parkplatz, und er erzählte mir hinterher, dass man meine Schreie bis draußen hören konnte. Das war mein erster Monat in Ohio.
Zwei Jahre nachdem die Verletzung verheilt war, saß ich gerade in meinem Zimmer oben in unserem Haus im Nordwesten von Columbus, als ich aus dem Erdgeschossflur ein einzelnes, ersterbendes »Oh!« hörte. Mein Vater und ich waren allein zu Hause, und erschrocken rannte ich die Treppe hinunter. Als ich um die Ecke kam, wäre ich fast über seinen Kopf gestolpert. Er lag bewusstlos auf dem Rücken, lang ausgestreckt, zur Hälfte im Flur, mit den Beinen im Bad. Alles war voller Blut, sein ganzer Kopf klebte davon, aber ich fand die Wunde nicht. Ich bekam ihn auf die Beine, brachte ihn zum Sofa und rief den Rettungsdienst. Die Sanitäter untersuchten ihn ein bisschen und sagten, sein Blutdruck »spiele verrückt«. Also hoben sie ihn auf eine Trage und fuhren ihn ins Riverside Hospital.
Wie sich herausstellte, war er einfach beim Pinkeln bewusstlos geworden, was bei Männern Mitte vierzig schon mal vorkomme, wie sie uns versicherten (er war damals fünfundvierzig). Er hatte sich beim Sturz die Nase am Waschbecken angeschlagen, die alles vollgeblutet hatte. Der Vorfall jagte ihm so einen Schrecken ein, dass er wieder einmal versuchte, mit dem Rauchen aufzuhören – oder sich den Versuch wenigstens vornahm, einer seiner vielen zum Scheitern verurteilten Vorsätze.
Mein Vater war unrettbar zigarettenabhängig. Ich kann kaum an ihn denken,...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2022 |
---|---|
Übersetzer | Hannes Meyer |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Blood Horses |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1970ger • aktuelles Buch • Autobiographie • Autor • Bibliothek Suhrkamp 1543 • Blood Horses deutsch • BS 1543 • BS1543 • bücher neuerscheinungen • Neuerscheinungen • neues Buch • Pferde • Pferderennen • Pferdesport • Pulphead • Rennpferde • Schreiben • Secretariat • Sportjournalismus • Triple Crown • USA • Vereinigte Staaten von Amerika USA • Windham Campbell Prize 2015 |
ISBN-10 | 3-518-77379-8 / 3518773798 |
ISBN-13 | 978-3-518-77379-6 / 9783518773796 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 10,0 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich