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Als die Welt zerbrach (eBook)

Roman | Die Fortsetzung des Weltbestsellers »Der Junge im gestreiften Pyjama«

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
400 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60304-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Als die Welt zerbrach -  John Boyne
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1946. Drei Jahre nach dem katastrophalen Ereignis, das ihre Familie zerriss, fliehen eine Mutter und ihre Tochter von Polen nach Paris. Blind vor Sorge und Schuldgefühlen begreifen sie nicht, wie schwer es ist, der Vergangenheit zu entkommen. Fast achtzig Jahre später führt Gretel Fernsby in ihrem Londoner Villenviertel ein ruhiges Leben, Welten entfernt von der traumatischen Kindheit. Als eine junge Familie in die Wohnung unter ihr zieht, hofft sie, dass die eingespielte Hausgemeinschaft nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Doch der neunjährige Henry weckt Erinnerungen, denen sie sich nicht stellen will. Gretel steht plötzlich vor der Wahl zwischen ihrer eigenen und Henrys Sicherheit. Eine Wahl, der sie sich ganz ähnlich schon einmal gegenübersah. Damals wurde sie, die Tochter eines Lagerkommandanten,mit ihrer unentschuldbaren Entscheidung zur Mittäterin. Aber sollte sie jetzt eingreifen, riskiert sie, Geheimnisse zu enthüllen, die sie ein Leben lang gehütet hat ...

John Boyne, geboren 1971 in Dublin, ist einer der renommiertesten zeitgenössischen Autoren Irlands. Seine Bücher wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Der internationale Durchbruch gelang ihm mit seinem Roman »Der Junge im gestreiften Pyjama«, der weltweit zum Bestseller wurde und von der Kritik als »ein kleines Wunder« (The Guardian) gefeiert wurde. 

John Boyne, geboren 1971 in Dublin, ist einer der renommiertesten zeitgenössischen Autoren Irlands. Seine Bücher wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Der internationale Durchbruch gelang ihm mit seinem Roman »Der Junge im gestreiften Pyjama«, der weltweit zum Bestseller wurde und von der Kritik als »ein kleines Wunder« (The Guardian) gefeiert wurde. 

2


Mutter und ich flohen Anfang 1946 aus Deutschland, nur wenige Monate nach Kriegsende, ein Zug brachte uns aus den Trümmern von Berlin in die Trümmer von Paris. Ich war fünfzehn, wusste wenig vom Leben und tat mich immer noch schwer damit, dass die Achsenmächte besiegt worden waren. Vater hatte immer mit solch einer Überzeugung von der genetischen Vorherrschaft unserer Rasse und dem unvergleichlichen strategischen Talent des Führers gesprochen, dass der Sieg stets eine Gewissheit gewesen war. Und doch hatten wir aus irgendeinem Grund verloren.

Die mehr als tausend Kilometer weite Reise quer über den Kontinent stimmte nicht gerade optimistisch für die Zukunft. Die Städte, durch die wir kamen, waren gezeichnet von der Zerstörung der letzten Jahre. In den Gesichtern der Leute auf den Bahnhöfen und in den Waggons sah ich keine Freude über das Ende des Kriegs, sondern bloß seine Wunden. Überall spürte man Erschöpfung und die zunehmende Einsicht, dass Europa nicht einfach in den Zustand von 1938 zurückkehren konnte, sondern vollständig neu aufgebaut werden musste, genau wie der Lebensmut seiner Einwohner.

Die Stadt meiner Geburt lag fast vollständig in Schutt und Asche, und vier unserer Eroberer teilten nun die Beute unter sich auf. Zu unserem Schutz hatten wir uns in den Kellern der wenigen wahren Getreuen versteckt, deren Häuser noch standen, bis man uns die gefälschten Papiere beschafft hatte, die uns die sichere Ausreise aus Deutschland ermöglichten. In unseren Pässen stand nun der Name Guéymard, dessen Aussprache ich immer wieder übte, damit es so französisch wie möglich klang. Mutter musste ich ab sofort Nathalie nennen, nach meiner Großmutter, ich aber blieb Gretel.

Täglich kamen neue Details über die Vorgänge in den Lagern ans Licht, und Vaters Name wurde zum Inbegriff von Verbrechen abscheulichster Natur. Obwohl niemand behauptete, wir seien genauso schuldig wie er, glaubte Mutter, es würde uns ins Unglück stürzen, sollten wir uns den Behörden stellen. Ich stimmte ihr zu, weil auch ich Angst hatte, aber der Gedanke, man könnte mich zur Mittäterin an den Gräueltaten erklären, schockierte mich. Es stimmte, dass ich seit meinem zehnten Geburtstag Mitglied im Jungmädelbund gewesen war – wie aber auch jedes andere Mädchen in Deutschland. Es war schließlich Pflicht, genau wie der Eintritt ins Deutsche Jungvolk es für alle zehnjährigen Jungen gewesen war. Allerdings hatten mich weit mehr als die Parteiideologie die regelmäßigen Freizeitaktivitäten mit meinen Freundinnen interessiert. Und nach unserem Umzug an jenen anderen Ort hatte ich mich nur ein einziges Mal auf der anderen Seite des Zauns aufgehalten, an dem Tag, als mein Vater mich mit ins Lager genommen hatte, um mir seine Arbeit zu zeigen. Ich redete mir ein, nur Zuschauerin gewesen zu sein, nichts weiter, dass mein Gewissen rein sei, aber die Frage nach meiner Mitschuld an den Taten, deren Zeugin ich geworden war, ließ mich nicht los.

Als unser Zug Frankreich erreichte, machte ich mir plötzlich Sorgen, dass unser Akzent uns verraten könnte. Die kürzlich befreiten Bürger von Paris waren, so rechnete ich mir aus, nach ihrer beschämend raschen Kapitulation 1940 sicher nicht gut auf Menschen zu sprechen, die redeten wie wir. Meine Sorge erwies sich als begründet, denn bei der Zimmersuche wies man uns in fünf verschiedenen Pensionen einfach ab, und das, obwohl wir mehr als genug Geld für einen längeren Aufenthalt vorweisen konnten. Erst als sich eine Frau an der Place Vendôme gnädig zeigte und uns die Adresse einer nahe gelegenen Unterkunft mitteilte, deren Vermieterin keine Fragen stelle, fanden wir Unterschlupf. Ohne sie wären wir vermutlich die wohlhabendsten Obdachlosen der ganzen Stadt geworden.

Das Zimmer, das wir mieteten, lag im östlichen Teil der Île de la Cité. In jenen frühen Tagen blieb ich am liebsten in der Nähe und beschränkte mich darauf, in endlosen Schleifen die kurze Strecke vom Pont de Sully bis zum Pont Neuf abzuspazieren, stets ängstlich darauf bedacht, keine der Brücken zu überqueren, die mich auf unbekanntes Terrain geführt hätten. Ab und zu dachte ich an meinen Bruder, der so gern Forscher geworden wäre, und daran, mit wie viel Freude er die unbekannten Straßen durchstreift hätte, aber wie immer in solchen Momenten schob ich die Erinnerung an ihn rasch beiseite.

Mutter und ich lebten schon seit zwei Monaten auf der Île, als ich endlich den Mut aufbrachte, mich zum Jardin du Luxembourg zu wagen. Beim Anblick der Pflanzenpracht hatte ich das Gefühl, im Paradies gelandet zu sein. Was für ein Unterschied, dachte ich, zu unserer Ankunft an jenem anderen Ort, wo uns die trostlose Ödnis fast erdrückt hatte. Hier atmete man den Duft des Lebens; dort erstickte man am Gestank des Todes. Wie benommen ging ich vom Palais zur Fontaine Médicis und von dort in Richtung des zentralen Bassins, wandte mich allerdings ab, als ich eine Bande kleiner Jungen sah, die Holzboote ins Wasser setzten und sie von der leichten Brise zu ihren Kameraden auf der anderen Seite treiben ließen. Ihr Lachen und aufgeregtes Geplapper klangen nach der bedrückenden Stille der Not, an die ich mich gewöhnt hatte wie eine verstörende Musik. Es schien unfassbar, wie ein und derselbe Kontinent solche Extreme von Schönheit und Hässlichkeit in sich vereinen konnte.

Eines Nachmittags, als ich auf einer Bank neben dem Boulodrome Schutz vor der Sonne suchte, überwältigten mich plötzlich Trauer und Schuldgefühle, und mir liefen die Tränen übers Gesicht. Ein hübscher Junge, vielleicht zwei Jahre älter als ich, blieb mit besorgter Miene vor mir stehen und fragte, was los sei. Ich sah auf und spürte sofort ein leises Sehnen in mir, wünschte mir, er würde mich in die Arme schließen oder mir erlauben, meinen Kopf an seine Schulter zu lehnen. Doch als ich antwortete, fiel ich zurück in alte Sprachmuster, mein deutscher Akzent überwältigte mein Französisch, und der Junge wich einen Schritt zurück, offene Verachtung im Gesicht, ehe er all seiner Wut auf mich und meinesgleichen freien Lauf ließ und mir heftig ins Gesicht spuckte. Dann marschierte er davon. Seltsamerweise minderte seine Tat meine Sehnsucht nach Berührung keineswegs, sondern verstärkte sie noch. Nachdem ich mir die Wangen abgewischt hatte, rannte ich ihm nach, packte ihn am Arm und bot ihm an, mit mir ins Dickicht der Bäume zu gehen, wo er mit mir machen dürfe, was immer er wolle.

»Du darfst mir wehtun, wenn du willst«, flüsterte ich und stellte mir mit geschlossenen Augen vor, wie er mich hart ohrfeigte, mir die Faust in den Magen stieß, mir die Nase brach.

»Warum willst du das?«, fragte er, in seiner Stimme eine Unschuld, an die man angesichts seiner Schönheit kaum glauben mochte.

»Damit ich spüre, dass ich am Leben bin.«

Er wirkte erregt und angewidert zugleich und blickte sich nach möglichen Zuschauern um, ehe er zu dem Wäldchen hinübersah, auf das ich gezeigt hatte. Kurz fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen und betrachtete die Rundung meiner Brüste, aber als ich nach seiner Hand griff, empfand er dies offensichtlich als Beleidigung und nannte mich eine Putain. Dann rannte er aus dem Park und verschwand in der Rue Guynemer.

Bei gutem Wetter lief ich schon frühmorgens durch die Straßen und kehrte erst in unsere Wohnung zurück, wenn Mutter schon zu betrunken war, um mich nach meinem Tag zu fragen. Die Eleganz, die ihr in ihrem früheren Leben zu eigen gewesen war, verblasste mittlerweile. Aber sie war immer noch eine attraktive Frau, und ich fragte mich, ob sie sich insgeheim nach einem neuen Mann sehnte, jemandem, der für uns beide sorgen könnte. Allerdings wirkte es auf mich nicht so, als wäre sie auf Liebe oder auch nur Gesellschaft aus, eher schien sie mit ihren Gedanken allein bleiben zu wollen, während sie von Bar zu Bar zog. Wenn sie trank, wurde sie still. Sie saß mit ihrer Weinflasche stets in einer düsteren Ecke und kratzte an unsichtbaren Kerben im Holz der Tischplatte herum, immer darauf bedacht, auf keinen Fall eine Szene zu machen, wegen der man sie hätte hinauswerfen können. Einmal kreuzten sich unsere Wege, als gerade die Sonne über dem Bois de Boulogne unterging. Sie schwankte auf mich zu, griff meinen Arm und fragte mich nach der Uhrzeit, wobei sie gar nicht zu bemerken schien, dass sie mit ihrer eigenen Tochter sprach. Als ich antwortete, lächelte sie erleichtert, da die Bars noch ein paar Stunden offen sein würden, und ging dann in...

Erscheint lt. Verlag 27.10.2022
Übersetzer Michael Schickenberg, Nicolai von Schweder-Schreiner
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Auschwitz • Buch • Buch Auschwitz • Bücher • Der Junge im gestreiften Pyjama • Der Tätowierer von Auschwitz • Erinnerung • Historischer Roman • Holocaust • Holocaust Überlebende • irischer Autor • Judenverfolgung • KZ • London • Lüge • Mittäter • Nazizeit • Paris • Psychologischer Roman • Roman • Roman Zweiter Weltkrieg • Schuld • Schwester • Spannung • Sydney • Täterschaft • The Boy in the Striped Pyjamas • Vergangenheit • Vergessen • Zeitzeugen • Zeitzeugenschaft • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-492-60304-1 / 3492603041
ISBN-13 978-3-492-60304-1 / 9783492603041
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