Im Jahr 95 nach Hiroshima (eBook)
Bärenklau Exklusiv (Verlag)
978-3-7546-8419-1 (ISBN)
Seit dem ersten Atombombenabwurf am 06. August 1945 hat für die Menschheit eine neue Zeitrechnung begonnen: das Jahr 0 nach Hiroshima.
Durch das rücksichtslose Verhalten des Menschen hat sich die Atmosphäre erwärmt, sind die Polkappen geschmolzen, und die Ozonschicht wurde schwer beschädigt. Jetzt, 95 Jahre nach Hiroshima, steht die Welt vor einer riesigen Herausforderung: Aus ungeklärter Ursache ist die Temperatur auf der Nordhalbkugel der Erde stark gefallen, und neue Gletscher haben sich gebildet; ganze Landstriche vereisen. Eine neue Eiszeit droht.
Zwei Wissenschaftler, die Biologin Antonella Lerici und der Physiker John Federbaum, machen sich auf die Suche nach Lösungen gegen die Vereisung des Planeten. Die Zeit wird knapp, denn das Eis breitet sich immer mehr aus ...
Dieser Roman des Schriftstellers und Hörspiel-Autors Richard Hey wurde im Jahr 1983 mit dem Kurt-Laßwitz-Preis (in der Kategorie BESTER ROMAN) ausgezeichnet.
<p>Richard Hey war ein deutscher Schriftsteller und Hörspielautor, der am 15. Mai 1926 in Bonn geboren wurde und am 4. September 2004 in Berlin verstorben ist.<br> Besonders bekannt wurde Richard Hey durch seine Kriminalromane und seine Hörspielfassungen der Bücher SOPHIES WELT und DER NAME DER ROSE. Eine bekannte Serienheldin von ihm ist die Berliner Kommissarin Katharina Ledermacher. Außerdem schrieb er zahlreiche Drehbücher und betätigte sich als Übersetzer.</p>
1. Kapitel
Im Jahr 95 nach Hiroshima, Anfang Mai, waren zwei nordamerikanische Wissenschaftler vom Planeten Erde aufgebrochen zum Planetoiden Toro. In den ersten Sekunden ihrer Reise hatten sie durch die Bordfenster des Raumschiffs die Stahlgerüste der Rampe zur Seite kippen sehen, in der folgenden Minute das unter wolkenlosem Himmel grauweiß schimmernde Nordeuropa, dann hingen sie neun Tage scheinbar unbeweglich im schwarzen Weltraum, während ringsumher Sternbilder aus gelblich, bläulich, rötlich glühenden fernen Sonnen und Galaxien vorbeiglitten. Sie hatten ihre Instrumente beobachtet, Aufzeichnungen und Gymnastik gemacht, ihre Ausscheidungen der Wiederaufbereitungsanlage zugeführt, alle acht Stunden mit den beiden Bodenstationen gesprochen und mit dem Bordcomputer Trezik gespielt, eine Art Schach. Zwei Spieler mussten sich jeweils gegen den dritten verbünden. Aber Bündnisse konnten auch aufgekündigt, Fronten gewechselt werden. Und Figuren, die Arbeiter symbolisierten, durften sich gegen Figuren der eigenen Partei wenden, die Militär, Kirche oder Kapital darstellten. Ebenso durfte das Militär die eigenen Politiker schlagen, das konnte dem Spieler Vorteile bringen. Schließlich war es möglich, dass die stärkste Figur, die jeder zur Verfügung hatte, die Große Bombe, nach allgemeiner Übereinkunft nicht gezogen wurde. Bis einer sie dann doch als erster zog. Es war ein Spiel aus der guten alten Zeit vor der Jahrhundertwende, und sie hatten an jedem ihrer gleichförmigen, nur durch die Borduhr eingeteilten Tage eine Partie gespielt.
Harry Danielsson, Ende Dreißig, zur Fülle neigend, mit schütteren blonden Locken, rosigem Gesicht und großen dunklen Augen hinter dicken Brillengläsern, meistens in Weste und leicht schmuddeligem Hemd mit offenem Kragen, beherrschte das Spiel meisterhaft. Aber er war von den anderen, die weit weniger elegant mit den Regeln umgingen, jedes Mal geschlagen worden, weil er darauf bestand, fair zu spielen und eine Art bürgerlicher Sozialdemokratie mit ausgewogenen Besitzverhältnissen zu verteidigen. John Federbaum hingegen hatte nie anders als mit den übelsten Tricks gearbeitet, Verträge gebrochen, von Militärdiktatur zu Arbeiterrevolution gewechselt und wieder zurück zur Militärdiktatur, bedenkenlos, wie’s ihm gerade passte, und die Tricks des Computers waren womöglich noch schmutziger gewesen. Chancen für Harry hatte es nur gegeben, solange er mit John gegen den Computer spielte. John war fünf, sechs Jahre älter als Harry, hager, mit leicht gebogener Nase und streng gescheitelter schwarz-silberner Haarmähne dicht über schmalen grüngrauen Augen. Sein Seemannsbart war fast schon weiß, und während der ganzen Reise hatte er eine altmodische Krawatte getragen, die er nie ablegte, kaum lockerte. So wirkte er ebenso korrekt wie beunruhigend auf den friedfertigen Harry. Aber sie kannten sich schon lange, und das Einzige, was Harry wirklich störte, war das seiner Ansicht nach unerträglich ordinäre Gelächter von John, wenn er wieder mal Harrys Demokratie mit der Großen Bombe zugrunde gerichtet hatte.
Die zehnte Partie hatten sie abbrechen müssen. Sie waren in die Nähe ihres Ziels gelangt, rund siebenunddreißig Millionen Kilometer von der Erde entfernt, auf halbem Weg zur Umlaufbahn des Mars. Jetzt saßen sie angeschnallt nebeneinander im Kommandoraum, verglichen rasch wechselnde Zahlenangaben, Formeln und geometrische Figuren in leuchtenden Farben, drückten Tasten, korrigierten. Die Beschleunigung des Raumschiffs verringerte sich, der Schwerkraftsimulator schaltete sich ab. Durch die offene Tür hinter ihnen kam aus dem Wohn- und Schlafraum Harrys schlecht befestigtes Kopfkissen herangeschwebt, begleitet von zwei Fotos, einem Kugelschreiber, zwei Socken von John, einer Tablette und einem halb mit Wasser gefüllten Glas. Während John die Socken einfing, wedelte Harry Kopfkissen und Wasser von den Schirmen der Monitore. Weit vor ihnen, kaum erkennbar in der Finsternis, lag die kleine, schwach leuchtende Marssichel auf dem Rücken, wie der Mond bei den Türken, schräg unterhalb von ihnen gleißte tennisballgroß die Sonne, und über ihnen musste jeden Augenblick der winzige kosmische Felsbrocken erscheinen, auf dem sie landen sollten.
»Ich glaube, ihr könnt«, sagte der Spanier von Punta Corralejo auf dem zweiten der beiden Monitore der Bodenstationen. Der erste flirrte schwarz und gestört.
»Eure Werte sind in Ordnung.«
Er hatte eine Glatze und große Tränensäcke unter den Augen. Sein Englisch war kaum verständlich, und er blickte so melancholisch, als habe er eine unabwendbare Katastrophe angekündigt. Plötzlich löste sich sein Gesicht in Zeilen und Punkte auf, aber noch die Zeilen und Punkte schienen Kummer und Besorgnis auszudrücken, bevor sie verschwanden.
»Fernsehverbindung malade«, kam von der anderen Seite des Atlantischen Ozeans die muntere Stimme des Kollegen aus Cape Kennedy. »Wir versuchen, den Patienten zu behandeln, und gehen auf Sprechverkehr.«
»Euer Patient war schon halbtot, bevor wir gestartet sind«, schrie Harry wütend. »Ich hab’s euch gesagt. Hab’ ich’s gesagt?«
Er hämmerte auf die Sprechtaste.
»Lass sie!«, sagte John. »Die haben noch andere Sorgen.«
Das Raumschiff drehte sich um sich selbst, bis Toro genau unter ihnen auftauchte. Langsam sanken sie abwärts. Sie starrten zum Außenbildmonitor hinüber, auf dem der zerklüftete graugelbe Planetoid näher und näher kam.
»Siehst du was?«, murmelte Harry.
»Nichts.«
*
Ein kleiner rostroter Brocken schoss am Bordfenster vorbei. Harry fuhr zusammen.
»Bisher war nicht bekannt, dass Toro einen Begleiter hat«, sagte John ruhig. »Merkwürdig, nicht? Hätte uns doch seit acht Jahren bekannt sein sollen, oder?«
Harry ließ Zahlen, Winkelabstände und Parabeln, mit dicken Wurstfingern leicht wie ein Pianist über die Tasten gleitend, im Arbeitsbildschirm des Computers aufleuchten, während John auf dem Bildschirm daneben die mathematischen Angaben über das Landemanöver verfolgte.
»Schneidet unsere Lande- und Startumlaufbahn nicht«, sagte Harry aufatmend. »Verdammter Minimond.«
Und lehnte sich zurück.
Mit starken Vibrationen setzte das Raumschiff auf. Staub wirbelte am Bordfenster vorbei. Auf dem Außenbildmonitor sahen sie die kleine Wolke in den Weltraum schweben.
»Theoretisch kann man auch größere Stücke beim Landen losschlagen«, sagte Harry.
»Kann man«, sagte John.
»O. k., du hast es gleich gesagt«, meldete sich wieder die muntere Stimme von Cape Kennedy. »Wir hätten auf dich hören sollen. Gebt Nachricht, sowie ihr gelandet seid. Ende.«
Weder Harry noch John antworteten. Sie warteten die vorgeschriebenen zehn Minuten. Stumm und fast ohne sich zu bewegen saßen sie nebeneinander, ließen den Blick nicht vom Außenbildmonitor. Der zeigte jetzt, am Fuß eines gezackten hohen Felsens, zwei hell schimmernde Kuppeln. Hinter dem Felsen ging die Sonne unter. Die Kuppeln verschwanden innerhalb von Sekunden im tiefschwarzen Schatten.
John stand auf.
»Ich hatte immer gehofft …«, begann Harry.
»Ich auch.«
John ging hinüber zur Schleuse, stieg in den silberbeschichteten Schutzanzug mit dem violetten Helm, hakte das Sicherheitskabel in den Anzug.
Harry drückte die Sprechtaste
»Achtung Punta Corralejo. Achtung Cape Kennedy. Hier Toro Drei. Wir sind vor zehn Minuten gelandet. John verlässt jetzt Toro Drei. Sobald wir mehr wissen, melden wir uns. Ende.«
»Wir wissen’s ja schon«, sagte John unter dem Helm. »Scrotumzusammenziehende Gewissheit. Mein Sack täuscht sich nie. Lass mich raus!«
Harry nickte. Vor seinem Gesicht schloss sich die Schleusentür. Die Außentür öffnete sich, die automatisch ausfahrende Treppe bohrte sich in den knöcheltiefen Staub, wirbelte eine weitere Wolke auf, die in den Weltraum davonzog.
John blieb gebückt neben der Treppe stehen, suchte im grellen Licht der Scheinwerfer des Raumschiffs nach Spuren im Staub. Er fand keine. Er richtete sich auf.
»Ich bin draußen«, sagte er. »Siehst du mich?«
Nah an seinen Ohren antwortete Harrys vertraute Stimme unter dem Helm:
»Hab’ dich klar auf dem Außenmonitor. Ortungsgerät eingeschaltet.«
John prüfte Handscheinwerfer und Handkamera, zerrte am Sicherheitskabel.
»Klemmt.«
»Seh’ ich nicht.«
»Schleusenautomatik oder Landegestell.«
»Warte! Und jetzt?«
John zog am Sicherheitskabel. Leicht gab es dem Druck nach.
»In Ordnung.«
John machte ein paar Schritte.
»Harry?«
»Alles okay Deine Positionsveränderung wird optisch und akustisch angezeigt. Bleib im Bereich der Scheinwerfer!«
Langsam ging John auf die gezackte Felswand zu, drehte sich um, sah zum Raumschiff zurück. Seine Oberfläche glitzerte. Wo John stand, war außerhalb der Scheinwerfer Nacht.
»Die Sonne geht auf«, sagte er und wandte sich wieder der Felswand zu. »Versuch, das russische Labor reinzukriegen!«
»Hab’ ich. Und dahinter unseres. Sieht aber alles unbeschädigt aus.«
»Scheint so, ja.«
»Du bewegst dich immer noch zu schnell. Ohne Sicherungskabel wärst du jetzt 50 Meter hochgesegelt. Ich geb’ mal durch, dass du auf dem Weg zu den Labors bist. Dass die beiden Stationen noch vorhanden sind.«
»Harry?«
»Ja?«
»Warte noch mit dem Bericht! Ich finde, wir sollten uns erst mal allein umsehen. Ohne Beteiligung von denen.«
»Aber die Kalifornische...
Erscheint lt. Verlag | 22.9.2022 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | Dystopie • endzeit-romane • Fantasy • Horror • Horrorromane • Krimi • Nachkriegs-Dystopien • Science Fiction • Spannung • Thriller • Utopie • Weltuntergangs-Romane • zukunftsromane • Zukunfts-Thriller |
ISBN-10 | 3-7546-8419-1 / 3754684191 |
ISBN-13 | 978-3-7546-8419-1 / 9783754684191 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 543 KB
Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopierschutz. Eine Weitergabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persönlichen Nutzung erwerben.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich