Elysion & Tartaros (eBook)
edition subkultur (Verlag)
978-3-948949-21-1 (ISBN)
Hinter der Kulisse der Wirklichkeit verbirgt sich Düsteres, Bedrohliches, Unvorstellbares. Parallelwelten kreuzen sich mit der unseren, verschmelzen mit ihr unheilvoll und unbemerkt. Es gibt kein Entkommen, denn sie sind immer da: die Ratten, die das Fundament der Welt erbauen, die lauernden Rehe, die sorgsam webenden Spinnen, die Wesen aus dem Dazwischen.
Ist es wissenschaftliche Hybris, die die Protagonisten in den Abgrund treibt? Sind es übernatürliche Kräfte? Oder ist es gar der eigene Verstand ...
Stets schleicht sich das Gefühl, dass die Dinge nicht so sind, wie sie anfangs scheinen, von hinten an. Sascha Dinse ist ein Meister des subtilen Horrors und fordert in seinen elf Erzählungen dazu auf, den bereits bröckelnden Putz von der Fassade der Realität zu schlagen und den Blick dahinter zu wagen.
Sascha Dinse, Jahrgang 1978, ist freischaffender Schriftsteller, Vorleser und Mediensoziologe. Er lebt und arbeitet in Berlin. Als Autor tritt er zunächst in zahlreichen Horror-, Dark Fantasy- und SciFi- Anthologien in Erscheinung - was dann auch in etwa die Genres benennt, in die man seine Geschichten einsortieren kann. Wobei diese meistens fulminant dazwischen passen. Zudem unterhält er mit TARTAROS seinen eigenen Podcast, in dem er vorwiegend seine Geschichten vorliest und einen Blick hinter die Kulissen gestattet.
Mise en abyme
Unter meinen Sohlen klebt der Dreck der Stadt. Mit jedem Schritt bleibt irgendetwas Neues haften, etwas anderes fällt ab. Während ich auf dem Nachhauseweg bin, nach einem dieser Tage, die sich anfühlen, als wären sie nicht mehr als eine uninspirierte Kopie eines echten, wertvollen Tages, denke ich darüber nach, wie lange es wohl dauern mag, bis die Menschen in der Stadt den Dreck von ihrer einen Seite bis zur anderen getragen haben. Mehr als drei Millionen Menschen mit doppelt so vielen Millionen Füßen – diejenigen, die aus irgendwelchen Gründen weniger als zwei Beine haben, mal außen vor gelassen. Vermutlich ist die Schmutztransferquote bei denen geringer, aber sie stellen nur einen kleinen Teil der Bevölkerung, daher lasse ich sie aus meiner Rechnung raus. Wie lange würde es dauern, wenn jeder Mensch in der Stadt am Tag ein paar hundert Meter zu Fuß zurücklegt? Die Rechnung wird dadurch komplizierter, dass ich ja auch das Zurücktragen von Dreck einkalkulieren muss. Wenn jemand hin und her läuft, ist die Wahrscheinlichkeit nicht null, dass er den Dreck, den er hergebracht hat, auch wieder mit zurück nimmt. Und was ist mit Fahrradfahrern? Oder Autos? Der Straßenreinigung? Regen?
Ich biege um die Ecke, schlängle mich an menschlichem Gegenverkehr vorbei, unter dem Baugerüst entlang, das seit Monaten das Nachbarhaus umspannt wie die Klauen irgendeines mechanischen Biestes. Unmittelbar vor mir huscht eine Ratte über den Gehweg. Sie schießt aus einer Lücke im Mauerwerk des eingerüsteten Hauses hervor und verschwindet nur Augenblicke später in einem Gully am Rand der Straße.
Ich mag Ratten. Sie sind der Beweis dafür, dass es möglich ist, sich an ein Leben in der Stadt anzupassen. Das motiviert mich, nicht einfach aufzugeben, sondern zu versuchen, es irgendwie hinzubekommen, das Leben als erstrebenswert anzusehen. Ich bleibe stehen, schaue zu der Öffnung, aus der die Ratte kam und frage mich, was sie dahinter wohl gemacht hat. Welche Art von Beute lässt sich in einem entkernten Haus finden? Oder war es reine Neugier? Wäre ich eine Ratte, würde ich nachsehen. Doch so, mit einem Stoffbeutel voller Einkäufe, schwitzend und erschöpft von einem weiteren Arbeitstag, gehe ich einfach weiter. Mir fällt einmal mehr auf, dass, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit ich unter dem Gerüst entlanggehe, dort niemals irgendein Arbeiter zu sehen ist. Dennoch gehen die Arbeiten voran, manchmal liegt Schutt vor dem Gebäude, manchmal irgendwelche Bauteile, dann wieder sind plötzlich Teile der Fassade neu gestrichen. All das scheint in einer phasenverschobenen Paralleldimension zu geschehen, denn ich habe nicht ein einziges Mal irgendjemanden hier arbeiten sehen. Genauso gut könnten es die Ratten sein, die das Gebäude instandsetzen. Von denen sehe ich wenigstens ab und an welche.
Das Licht der Nachmittagssonne blendet mich, noch dazu wirft der Häuserblock ihre unbarmherzige Hitze auf mich zurück. Die letzten Tage waren beinahe unerträglich, und doch habe ich es fertiggebracht, als halbwegs normaler Mensch durchzugehen. Vor der Haustür fische ich den Schlüssel aus der Hosentasche, schließe mit einer Hand auf und flüchte mich vor Lärm und Glut in den kühlen Hausflur.
Ich schalte den Rechner aus, danach die Schreibtischlampe, gehe zur Balkontür und lasse den Blick über die nächtliche Stadt schweifen. Im Lichtschein der Straßenlaterne direkt gegenüber wimmelt es von Insekten, die einander zu jagen scheinen. Der Wirbel aus fliegendem Getier hält meinen Blick sekundenlang gefangen und mit jedem Atemzug scheint es, als würde er dichter, greifbarer, plastischer. Ich spüre Unwohlsein in mir aufkeimen, und ich weiß nicht, ob es an den erratischen Bewegungen der winzigen Tiere liegt oder an dem, was langsam dort entsteht, wohin ich sehe. Das flaue Gefühl im Magen wächst sich aus zu Übelkeit, doch ich halte stand, unbeirrbar auf diese Stelle schauend, an der die Realität gerinnt.
Die Ratte von vorhin kommt mir wieder in den Sinn. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie sie vor mir über den Gehweg huscht, kurz innehält, mich ansieht und … den Kopf schüttelt. Dieses Bild bricht meine Konzentration, lässt mich die Augen abwenden, nur Sekunden, bevor der Würgereiz dazu führen würde, dass ich mich über die Brüstung des Balkons übergebe.
Von Schwindel erfüllt, schleppe ich mich zurück ins Zimmer, taumle durch den dunklen Raum, suche den Weg ins Bad und benetze mein Gesicht mit Wasser. Was immer da gerade passiert ist, lässt mich am ganzen Leib zittern. Ich lege mich ins Bett und ziehe die Decke über meinen Kopf. Aus der Wohnung unter mir dringen kratzende Geräusche durch den Boden. Verschiebt jemand Möbel mitten in der Nacht? Wundern würde es mich nicht. Die Menschen scheinen mit jedem Tag seltsamer zu werden.
Am nächsten Morgen, nach einer Nacht traumlosen Schlafes, erwache ich zum Geräusch schwerer Hammerschläge. Sie kommen aus der Wohnung unter mir. Es klingt, als risse jemand eine Wand ein.
Zwanzig Minuten später, noch vor Sonnenaufgang, mache ich mich auf den Weg. Ich bleibe kurz an der Tür der Wohnung unter meiner stehen. Keine Geräusche mehr. Es ist totenstill. Ich schiebe den Briefschlitz auf und spähe hinein. Nichts. Minuten vorher noch klang es, als würde dort schweres Gerät eingesetzt, doch jetzt ist nichts mehr davon zu hören. Vielleicht habe ich mir das nur eingebildet. Beim Runterlaufen zähle ich wie jeden Morgen die Treppenstufen auf jeder Etage. Verwirrt bleibe ich am Fuß des letzten Absatzes stehen. Sollten es nicht elf Stufen sein? Ich drehe mich um und zähle nach. Zehn. Sehr merkwürdig. Ich könnte schwören, dass es gestern noch eine mehr war.
Draußen empfängt mich die vertraute Mischung aus Lärm von Tausenden Autos und dem typischen Geruch der Großstadt, einer Melange aus Abgasen, Urin und dem fauligen Aroma verrottenden Mülls. Menschen strömen mir entgegen. Sie sehen aus, als hätten sie seit Tagen nicht geschlafen, ihre Augen sind glasig, die Pupillen geweitet. Ich dränge mich an ihnen vorbei, erreiche das Baugerüst am Gebäude um die Ecke und halte Ausschau nach der Ratte von gestern. Natürlich ist sie nicht da. Ich lächle ob meiner Annahme, dass das Tier hier auf mich warten würde. Trotzdem werfe ich einen Blick in das Loch in der Außenwand des Hauses, aus dem gestern mein pelziger Freund herausgekommen war. Es ist größer geworden. Ich hocke davor und bin sicher, dass es gestern nur wenige Zentimeter breit war, doch heute würde selbst ein Fußball hineinpassen. In diesem Augenblick fällt der erste Strahl der Morgensonne in die Öffnung vor mir. Wie ein Tunnel erstreckt sie sich weiter nach hinten, als sei sie nicht nur durch zerbröckeltes Mauerwerk entstanden, sondern absichtlich erschaffen worden. Ich nehme mir vor, in den nächsten Tagen darauf zu achten, ob das Loch weiter wächst.
Bis ich den Bahnhof erreiche, eintausendeinhundertsechsundfünfzig Schritte später, geht mir das Gebäude nicht aus dem Kopf. Ich muss an Recyclingpapier denken. Egal, wie sehr man sich anstrengt, seine Qualität zu verbessern, es wird nie wieder so weiß und perfekt sein wie das Original. Ist es mit Gebäuden ähnlich? Kann ein renoviertes Haus, dessen alte Wände eingerissen und durch neue ersetzt werden, je wieder dasselbe sein? Verkommt es nicht nach und nach lediglich zu einem Abbild seiner selbst, einer Erinnerung, vollgestopft mit Ersatzteilen, die nach außen den Anschein erwecken sollen, dass sich nichts geändert hätte? Vielleicht ist Verfall das Einzige, was von Bestand ist.
Das gleichmäßige Rütteln der Metro lässt mich einnicken. Obgleich ich nur ungern inmitten fremder Menschen schlafe, lässt sich mein Körper partout nicht dazu animieren, im Wachzustand zu bleiben. Ein ums andere Mal fallen mir die Augen zu und nur der Augenblick des Stillstands beim Erreichen einer Station lässt mich wieder aufwachen. So geht das mehr als eine Stunde lang. Gesprächsfetzen dringen an mein Ohr, wirres Geschwätz, Lachen, das eine oder andere undefinierbare Geräusch, dazwischen das vertraute Summen beim Schließen der Türen. Zusammengenommen ist das so etwas wie der Klang der Stadt, zumindest was ihre unterirdische Seite angeht, laut und hektisch, aber dennoch irgendwie angenehm. Etwas später, kurz bevor ich meine Station erreiche, hat mein Körper durch den Sekundenschlaf offenbar ausreichend Energie getankt, um wach bleiben zu können.
Ich frage mich, ob meine Müdigkeit daher rührt, dass mein Schlafrhythmus unregelmäßig ist, oder ob es irgendeine Art von Hypnose ist, die in der Metro auf mich wirkt. Regelmäßige Geräusche, gleichförmige Bewegungen, als säße man vor einem Metronom und starrte auf dessen Pendel, während der eigene Herzschlag sich dem Takt des Klickens anpasst.
Mir gegenüber sitzt ein Mann, sein Körper ist gegen die Seitenscheibe gesunken, er hat die Augen geschlossen. Vielleicht geht es ihm so wie mir wenige Minuten zuvor. Ich schaue ihn eine Weile lang an, studiere jede Einzelheit seines Gesichts genau, als hätte ich vor, später ein Porträt von ihm zu zeichnen. Plötzlich spüre ich wieder dieses flaue Gefühl im Magen, so wie auf dem Balkon.
»Sind Sie sicher, dass Sie das riskieren wollen?«, fragt jemand von links neben mir. Ich nehme die Worte wahr, beziehe sie aber nicht auf mich, sondern starre weiterhin den Mann gegenüber an. Seine Haut schimmert im künstlichen Licht der Metro wie Wachs. »Überlegen Sie es sich«, fährt die Stimme fort. »Wenn Sie diesen Schritt einmal getan haben, gibt es kein Zurück mehr. Insekten an einer Laterne sind das eine, aber das hier ist ein völlig anderes Niveau.« Irritiert wende ich die Augen von meinem Studienobjekt ab und schaue...
Erscheint lt. Verlag | 13.10.2022 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Angst • Dark Fantasy • Dystopie • Erzählung • Geister • Grauen • Grusel • Gruselgeschichten • Horror • Kurzgeschichten • Magischer Realismus • Mythologie • Okkultismus • Parallelwelt • Psychatrie • Realität • Reh • Rehe • Science Fiction • Sci-fi • Spinnen • Surrealismus • Technik • Verschiebung • Wahrnehmung • Wirklichkeit |
ISBN-10 | 3-948949-21-2 / 3948949212 |
ISBN-13 | 978-3-948949-21-1 / 9783948949211 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 471 KB
Kopierschutz: Adobe-DRM
Adobe-DRM ist ein Kopierschutz, der das eBook vor Mißbrauch schützen soll. Dabei wird das eBook bereits beim Download auf Ihre persönliche Adobe-ID autorisiert. Lesen können Sie das eBook dann nur auf den Geräten, welche ebenfalls auf Ihre Adobe-ID registriert sind.
Details zum Adobe-DRM
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen eine
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen eine
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich