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Um mein Leben -  Koschka Linkerhand,  Azadiya H.

Um mein Leben (eBook)

Ein biografischer Bericht
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2022 | 1. Auflage
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Mitten unter uns: die gewaltvolle Geschichte einer jungen Jesidin, bedrohlich und stärkend zugleich »Alles, was ich tue, mache ich, um meiner Cousine nahe zu sein.« Azadiyas Cousine wird von ihrem Vater ermordet, weil sie ein selbstbestimmtes Leben führen will. Nach dem Ehrenmord erkennt Azadiya, dass sie ihr Leben verändern muss, um frei zu werden: als jesidische Kurdin in Deutschland, die in eine streng gefügte Gemeinschaft hineingeboren wurde; als Lesbe; als Frau, die studieren, reisen und Fußball spielen will. Jahre später verlässt Azadiya ihre Familie. In diesem Buch berichtet sie von familiärer Gewalt, ungeahnten behördlichen Schwierigkeiten, dem Sexismus im ganz normalen deutschen Alltag - und ihrem unbedingten Willen, frei zu sein und anderen Frauen zu helfen, sich ebenfalls zu befreien.

Koschka Linkerhand, geboren 1985, lebt nach Zwischenstationen in Dänemark und Hamburg wieder in Leipzig. Sie versucht, ihre Arbeitskraft zwischen pädagogischer Lohnarbeit, feministischer Politik und schöner Literatur dreizuteilen, und glaubt an die Möglichkeit, den gesellschaftlichen Zuständen ästhetisch beizukommen.

Berxwedan


Meine Cousine Berxwedan wurde von ihrem Vater in die Türkei verschleppt und dort von ihm getötet. Ihre Mutter und ihre Geschwister wussten davon und haben es gebilligt.

Berxwedan hatte schon vorher eine Menge Ärger mit ihrer Familie gehabt. Ihr Vater, mein Onkel, hatte sie schon mehrere Male halbtot geprügelt, weil sie angekündigt hatte, von zu Hause auszuziehen. Mit 18 Jahren wollte Berxwedan eine eigene Wohnung haben und eine Ausbildung beginnen. Sie hatte mehrmals gesagt, dass sie sich nicht verheiraten lassen würde. Darüber empörte sich besonders ihre Schwester, die selbst früh verheiratet worden war. Sie fragte: Warum soll sie dürfen, was ich nicht durfte? Sie drängte die männlichen Familienmitglieder, Berxwedan härter zu bestrafen. Dann gab es neue Schläge, Geschrei, Tränen, Berxwedan wurde in ihr Zimmer gesperrt.

Irgendwann gelang es ihr zu fliehen. Sie ging in ein Frauenhaus, änderte ihren Namen und schnitt ihre Haare ab. Sie zeigte ihren Vater wegen Körperverletzung an. Aber sie verließ die Stadt nicht, in der wir alle lebten. Wozu soll ich mich verstecken?, fragte sie. Wenn ich mich hinterm Mond verstecke, sie finden mich ja doch.

So war es dann auch. Als die Leute begannen, darüber zu reden, dass sie ihre Familie verlassen hatte, sah ihr Vater seine Ehre in Gefahr. Er beschloss, Berxwedan umzubringen. Er lauerte ihr auf, packte sie ins Auto, fuhr zum Flughafen und flog mit ihr in die Türkei. Er dachte wohl, in der Türkei käme er deswegen nicht ins Gefängnis.

Als Berxwedan nicht ins Frauenhaus zurückkehrte, riefen die Mitarbeiterinnen die Polizei. Sie suchten nach Berxwedan und begannen kurz darauf, wegen eines mutmaßlichen Tötungsdelikts zu ermitteln. Im Fernsehen und in den Zeitungen erschien ihr Foto: Wer hat diese junge Frau gesehen? Für mich und für die ganze Familie war klar, dass man sie nicht lebend finden würde, nachdem mein Onkel allein aus der Türkei zurückgekommen war. Aber alle haben geschwiegen.

Bevor sie ihn verhafteten, saß er bei uns auf dem Sofa und fragte mich: Wenn ich in den Knast komme, bringst du mir dann gutes Essen? Dir bringe ich gar nichts, lautete meine Antwort. Weil mein Vater das respektlos fand, schlug er mich. Mir war das egal. Ich wusste zwar nicht konkret, dass mein Onkel seine Tochter umgebracht hatte, aber ich habe ihn ohnehin gehasst – für alles, was er Berxwedan schon vorher angetan hatte.

Im Gerichtsverfahren kam ans Tageslicht, wie sehr die Familie Berxwedan misshandelt und gequält hatte. In Zusammenarbeit mit der türkischen Justiz verurteilte das Gericht meinen Onkel zu lebenslänglicher Haft wegen Mordes. Auch meine Tante und zwei meiner Cousins wurden wegen schwerer Körperverletzung, Freiheitsentzug und Nötigung verurteilt. Die Brüder haben kurze Gefängnisstrafen bekommen, die Freiheitsstrafe der Mutter wurde auf Bewährung ausgesetzt.

Die jesidische Gemeinschaft hat diese verhältnismäßig geringen Strafen gefeiert. Vor dem Gericht standen Familienmitglieder und Nachbarn, jubelten und schwenkten Blumen. Mein Onkel aber stieg zum Helden auf, der die Ehre der Familie wiederhergestellt hatte.

Berxwedan wurde in der Türkei bestattet. Außer Angehörigen einer Frauenrechtsorganisation war niemand vor Ort.

***

Als Berxwedan starb und meine Welt auseinanderfiel, war ich 16. Wir hatten uns sehr gern gehabt, waren gemeinsam zur Schule gegangen und hatten über die Zukunft gesprochen. Genau wie Berxwedan wollte ich mein Fachabitur machen und dann weit weggehen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie eine von uns dafür töten würden. Wir sind beide mit Gewalt und Drohungen aufgewachsen. Aber dass sie die Morddrohung wahr machen würden, hat meinen Horizont überstiegen. So was versteht man nicht, man rechnet nicht damit, dass es wirklich passiert. In der eigenen Familie!

Wir hatten einander auch im Familienkreis viel gesehen: Meine Eltern waren jeden Tag bei Berxwedans Eltern zu Besuch. Unsere gemeinsamen Großeltern lebten dort, aber ich bin immer nur ihretwegen hingegangen. Nach dem Mord weinte meine Mutter und sagte, Berxwedan sei wie eine Tochter für sie gewesen. Doch mein Vater schlug sie und uns Kinder, wenn wir von Berxwedan sprachen oder um sie weinten. Und auch Berxwedans eigene Mutter verkündete: Dieser Name wird in meinem Haus nicht mehr erwähnt.

Sie haben sie einfach totgeschwiegen. Es war, als hätte sie nie existiert. Als Menschen- und Frauenrechtsorganisationen eine Mahnwache organisiert haben, durften wir nicht hingehen. Ich bin heimlich hingegangen.

Bevor Berxwedan ins Frauenhaus ging, habe ich ihr angeboten, zu uns zu kommen. Sie antwortete: Dann tötet mich eben dein Vater, nicht meiner. Ich schrieb zurück: Okay, hau lieber ab. Ihre letzte Antwort lautete: Wohin soll ich denn gehen?

Sie hatte eigentlich schon aufgegeben, als sie geflohen ist. Mit 18 Jahren hatte sie mit ihrem Leben abgeschlossen, sie wusste, dass sie sterben würde.

***

Nach dem Mord wurden meine Eltern noch strenger. Ich hatte einen Klassenkameraden, mit dem ich oft zusammen zur Schule gegangen bin. Das hat mir mein Vater verboten, mit der Begründung, die Leute sollten jetzt bloß nicht anfangen, über ihn und seine Töchter zu reden. Er sagte: Du lässt dich mit keinem Mann in der Öffentlichkeit blicken. Einmal bin ich mit einem anderen Jungen aus meiner Klasse zur Schule gegangen, einem Türken – aber was meinen Vater anging, war es völlig egal, was für ein Landsmann er war. Wir kamen durch einen kleinen Park, mein Vater folgte uns offenbar heimlich. Als ich an dem Tag nach Hause kam, hat er mich fast totgeschlagen: Warum ich mit einem Mann ins Gebüsch gehen würde. Das war mein Schulweg, habe ich mich verteidigt. Wenn deine Fotze juckt, geh heiraten, hat er gebrüllt. Er ist ständig ausgerastet, und ich dachte: Lange halte ich das nicht mehr aus. Aber es hat noch Jahre gedauert, bis ich tatsächlich gegangen bin.

***

Nach dem Ehrenmord hatte die ganze Stadt Angst vor meiner Familie. Einmal saß ich im Bus neben einem Klassenkameraden, als mein Vater zustieg. Ich sagte: Oh, mein Vater!, und der Junge sprang voller Angst auf und entfernte sich so weit wie möglich. Er dachte bestimmt, er müsste sterben, weil er neben mir gesessen hat.

Alle haben mich nur noch als Mitglied einer Mörderfamilie betrachtet. Einmal kam ein Mitschüler zu mir und sagte, er hätte was mit einer Jesidin, und ich solle ihrem Vater erklären, er hätte sie nicht geküsst, sondern sie hätte ihn geküsst und er wolle nicht umgebracht werden. Dabei kannte ich die beiden kaum und wusste nichts von ihrer Beziehung.

Andere Leute haben alle Jesiden als Mörder beschimpft. Dagegen musste ich mich verteidigen. Einer Freundin habe ich mitten im Klassenzimmer eine geknallt, weil sie gesagt hatte, meine Familie sei asozial. Das tut mir im Nachhinein leid. Aber damals konnte ich nicht anders, ich hatte ein starkes Bedürfnis, meine Familie zu schützen. Innerlich hatte ich angefangen, sie zu kritisieren, ich habe einen richtigen Hass auf alles Jesidische entwickelt. Aber nach außen hin nahm ich sie nach wie vor in Schutz.

Meine Lehrerinnen und die Schulsozialarbeiterin haben dabei mehr oder weniger zugesehen. Mit dem Ehrenmord wollten sie am liebsten nichts zu tun haben. Sie haben ihn weder im Unterricht thematisiert noch mich oder meine Geschwister persönlich angesprochen, ob wir Hilfe bräuchten. Sie hatten wohl genauso große Angst, von meiner Familie angegriffen zu werden, wie der Junge im Bus.

Aus ähnlichen Gründen beschwor mich später das Jugendamt, niemals zu erwähnen, dass sie mir bei der Flucht geholfen haben. Einige meiner Cousins hatten nach Berxwedans Verschwinden Mitarbeiter des Jugendamts bedroht, weil sie angeblich Berxwedan aus der Familie herausgenommen und woanders untergebracht hätten. Dabei wussten sie genau, dass sie tot war,...

Erscheint lt. Verlag 7.9.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-89656-685-7 / 3896566857
ISBN-13 978-3-89656-685-0 / 9783896566850
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