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Materialermüdung -  Dietrich Brüggemann

Materialermüdung (eBook)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
480 Seiten
Edition W (Verlag)
978-3-949671-53-1 (ISBN)
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Als Jacob und Maya von Jacobs Vater aus seinem Garten herausgeworfen werden, ahnen sie noch nicht, dass dies der Anfang vom Ende ist - vom Ende ihrer Beziehung, aber auch vom Ende der Welt. Gemeinsam mit ihrem Freund Moses navigieren sie einen Herbst lang durch die Untiefen eines Lebens zwischen Kulturszene, Social Media, künstlicher Intelligenz und postmoderner Ellbogengesellschaft. Doch spätestens, als Moses sich auf Twitter anmeldet, um dort seine verschollene Schwester zu suchen, wird deutlich, dass das Leben der drei Freunde sich mehr verändern wird, als sie es ahnen. Denn die geplante Obsoleszenz, aufgrund derer heute jedes Gerät nach vier Jahren den Geist aufgibt, hat schleichend die ganze Welt befallen, und eine große Materialermüdung breitet sich aus. Also kämpfen die drei in einer zerfallenden Welt um das, was ihnen wichtig ist: Ihre Freundschaft, ihre Familien, ihre Liebe - und die Menschheit, die sich stets Geschichten vom eigenen Untergang erzählt und sich darin immer wieder neu erfindet. Materialermüdung, der furiose Debütroman von Dietrich Brüggemann, lebt von tiefgründigem Humor, einer markanten Figurenzeichnung sowie dem feinen Gespür für die Höhen und Tiefen des Zeitgeistes. Der Musiker und Filmemacher zeigt mit seinem ersten Roman, dass er nicht nur auf Zelluloid ein großer Erzähler ist, der dem Irrsinn unserer Zeit mit Scharfsinn, Witz und gewaltigem erzählerischen Tempo beikommt.

Dietrich Brüggemann, geboren 1976 in München, ist Filmemacher, Musiker und Autor. Aufgewachsen in Deutschland und Südafrika, Regiestudium an der Babelsberger Filmhochschule. Erster Spielfilm "Neun Szenen", danach "Renn, wenn du kannst" und "3 Zimmer Küche Bad", der zum langlaufenden Geheimtipp wurde. Zuletzt "Nö", der den Preis für die beste Regie beim Festival in Karlovy Vary erhielt. Regisseur vieler Musikvideos, Komponist der Musik für alle seine Filme, Gründer der Band "Theodor Shitstorm", gemeinsam mit Desiree Klaeukens. Brüggemann lebt in Berlin.

2 Segnung


600 Kilometer südwestlich und 40 Jahre vor dieser Begebenheit lag eine Frau unter einem Mann in einem Bett. Die 70er Jahre gingen dem Ende entgegen. Die Frau hieß Gisela, war 29 Jahre alt, hatte dunkelblonde, leicht gelockte Haare, braune Augen sowie eine Stupsnase und studierte Sozialpädagogik im elften Semester. Ihr Lebensgefährte hieß Günther, war 35, hatte ziemlich viele verschiedene Dinge studiert, zuletzt Deutsch und Geschichte auf Lehramt, und absolvierte derzeit das Referendariat an einem Gymnasium in Kassel. Der Mann, der in diesem Moment auf Gisela lag, war jedoch nicht Günther und sah auch nicht so aus, als würde er Günther heißen. Gisela und Günther führten eine Wochenendbeziehung, Günther wohnte in einem möblierten Zimmer in Kassel und Gisela in einer WG in Heidelberg. Sie organisierte mit ein paar Freunden einen studentischen Filmklub, in dem am Vorabend ein Film namens Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt gezeigt worden war, und der Mann, unter dem Gisela jetzt lag, war der einzige Mann im Publikum gewesen, der nicht offensichtlich schwul oder offensichtlich von seiner Freundin zur Veranstaltung geschleppt worden war. Bei der Diskussion nach dem Film hatte der Mann nichts gesagt, aber seine Blicke wanderten immer wieder zu Gisela, ihr Blick konnte sich von seinem nicht lösen, und erst später war ihr klar geworden, was an ihm anders war als bei vielen anderen Männern: Er schaute ihr nicht auf die Brüste, er tastete ihren Körper nicht mit Blicken ab, er sah ihr einfach nur in die Augen.

Dass der Mann überhaupt zu dieser Veranstaltung gegangen war, war Teil einer Strategie. Es fiel ihm nicht leicht, Frauen kennenzulernen. Wenn er eine Frau attraktiv fand, dann hatte er sogleich die Angst, ihr damit zu nahe zu treten, ihr etwas aufzudrängen, das sie nicht wollte, und eine Ablehnung zu provozieren, die ihn wiederum im Kern seiner Seele treffen würde. In dem Land, aus dem er stammte, fühlte er sich damit allein auf weiter Flur, aber in dem Land, in dem er jetzt war, fühlte er sich noch auf ganz andere Art allein. Viele Frauen in diesem Land betrachteten ihn mit schlecht verhohlener Abneigung, als sei er aus minderwertigem Material gemacht. Andere fanden ihn aufregend, eben weil er anders aussah. In beiden Fällen fühlte er sich behandelt wie ein exotisches Tier. Ein etwas älterer Studienkollege, der aus demselben Land stammte, aber schon mit 14 nach Deutschland gekommen war, hatte ihm eines Abends den Rat gegeben:

»Soziologie ist schön und gut, aber da lernst du niemanden kennen. Die Frauen sind komplizierte Zicken, die Männer sind selbstgefällige Großmäuler, und die fangen dann miteinander Beziehungen an, in denen sie sich das Leben zur Hölle machen, weil die Frauen eben Zicken sind und die Männer Großmäuler. Und wenn dann doch mal eine interessante Frau dabei ist, dann hat sie garantiert einen besonders schlimmen Männergeschmack. Also studier Soziologie, wenn du auf Soziologie stehst, aber wenn du auf Frauen stehst, dann mach was anderes.«

»Und zwar was?«

»Kunstgeschichte. Da sind die schönsten Frauen, und die Männer interessieren sich meistens nicht für die Venus von Botticelli, sondern den David von Michelangelo, wenn du weißt, was ich meine. Mach ein oder zwei Seminare Kunstgeschichte, notfalls im fünften Nebenfach.«

»Ich habe keinerlei Ahnung von Kunst«, hatte der Mann erwidert, »ich würde dort schwitzen und rot werden und mich als völligen Ignoranten entlarven.«

»Würdest du nicht. In Kunstgeschichte kannst du ein ganzes Studium absolvieren, ohne einen Funken Ahnung von der Materie zu haben.«

»Andere können das, ich könnte es nicht.«

Sein Kommilitone hatte geseufzt und gesagt:

»Du bist deutscher als die Deutschen. Dann mach Freizeitaktivitäten. Mach nicht Sport, da ziehst du immer den Kürzeren gegen irgendeinen Platzhirsch, und Mädels, die auf Sportler stehen, sind eh nicht unsere Zielgruppe. Orchester sind gut, aber da muss man halt ein Instrument spielen. Chöre, schwierig, da sind viele Frauen mit energischem Kinn, die sich selbst und die Welt sehr ernst nehmen und beides nicht richtig auseinanderhalten können und auf Kirchentage gehen. Glaub mir, mach irgendwas mit Literatur, Film, Theater. Da sind immer schöne Frauen.«

Der Mann hatte am Ende beide Ratschläge befolgt, aber in den kunsthistorischen Seminaren hatte sich nichts ergeben, und bei den Lesungen, Vorträgen und Theaterabenden, die er besuchte, auch nicht. Dann hatte er den Aushang des Filmklubs gesehen und sich gedacht: Vielleicht kommt hier beides zusammen. Bei diesem Film werden vermutlich nicht viele Männer im Publikum sein, die sich für Frauen interessieren, aber vielleicht wird da irgendeine Frau sein, bei der ich nicht gleich denke, dass sie denkt, dass ich sie vergewaltigen will, weil ich schwarze Haare und dunkle Augen und eine große Nase habe.

Das hatte Gisela in der Tat nicht gedacht. Der Blick dieses Mannes löste in ihr etwas aus, für das sie sich irgendwie vor sich selbst schämte. Sie fand seinen Körper nicht attraktiv. Er war nicht besonders groß, kein bisschen sportlich, eher ein bisschen dicklich, und sein Haaransatz hatte bereits den Rückzug angetreten. Günther sah besser aus. Doch Günther sah sie nicht mit diesen Augen an. Wenn Günther sie ansah, dann bekam sein Gesicht, ja sein ganzer Körper diesen Hundeblick, der sagte: Ich werde dich niemals verlassen. Im Blick dieses Mannes dagegen, der da nach der Vorführung von Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt im Publikum saß und Gisela ansah, in diesem Blick lag etwas, das in Gisela den Wunsch weckte, sofort mit ihm zu schlafen. Nicht der Homosexuelle ist pervers, dachte sich Gisela, sondern wir alle. Da sitzt dieser südländisch aussehende Typ, Araber oder Marokkaner oder was weiß ich, den ich gar nicht besonders attraktiv finde, er schaut mich an, ich will mit ihm schlafen und finde das selber gleichermaßen pervers und erfüllend. Oder auch erfüllend, weil es pervers ist.

Jetzt, wenige Stunden später, lagen sie in Giselas Bett, sie unten und er oben.

Dem Mann war das nicht ganz geheuer. Er hätte nichts dagegen gehabt, in Deutschland eine Frau zu finden, zu heiraten und sich nie wieder bei seinen Eltern blicken zu lassen, vor allem bei seiner Mutter, neben der es keine Luft zum Atmen gab. Doch er hatte nicht das Gefühl, dass dieser Sexualakt in so eine Richtung führen würde. Gisela hatte ihn nach dem Ende des Filmgesprächs mit einer beiläufigen Bemerkung angesprochen und ihn eingeladen, mit den Filmklub-Organisatoren in eine Kneipe mitzukommen. Als die Gruppe sich auflöste, hatte sie ihm vorgeschlagen, in einem anderen Lokal noch einen Absacker zu trinken. Er sagte wenig und sprach so leise, dass sie im Lärm der Kneipe jedesmal nachfragen musste. Sie mochte seine Stimme, gleichzeitig tat er ihr leid und dazu kam ein Stück Abneigung, denn sie wusste, dass sie spätestens bei Tageslicht auch seine Stimme nicht mehr mögen würde. Sie wollte mit ihm schlafen, und sie nahm nicht an, dass er das nicht auch wollte. Als sie ihm in der zweiten Kneipe den Arm um die Schultern legte, war der Mann überrumpelt. Als sie sich dann an ihn schmiegte, erstarrte er zu Stein. Als sie ihn kurzerhand küsste, setzte sein Herz für einen Moment aus, doch dann sagte er sich: Aha. So ist das also in diesem Land. Mach es wie die Einheimischen. Lerne und versuche zu verstehen.

Gisela hatte in ihrem Leben schon mehr Sex gehabt als der Mann. Es war nicht sein erstes Mal, aber auch nicht sein zwanzigstes. Er war fest entschlossen, sich das nicht anmerken zu lassen, also versuchte er sie so ranzunehmen, wie man es als Mann ja vermutlich machen musste. Gisela fand diese Vehemenz etwas befremdlich, das hatte sie so nicht erwartet, vor allem aber spürte sie sein Gewicht und dachte: Du könntest dich ruhig mal ein bisschen leichter machen, mein Freund. Günther war da deutlich geschickter.

»Ich kriege kaum Luft«, keuchte sie.

»Was?«

»Ich kann nicht atmen! Mach dich ein bisschen leichter!«

Erschrocken stützte er sich auf und verlagerte sein Gewicht auf Ellbogen und Knie.

»Besser so?«

»Ja, aber du kannst trotzdem weitermachen. Nicht einfach aufhören.«

Spätestens als er kam, war ihr klar, dass es bei diesem einen Mal bleiben würde. Dieses mechanische Gevögel war unterm Strich enttäuschend, und sie konnte sich nicht richtig erklären, was der Mann eigentlich wollte.

Ihre Beziehung zu Günther hatte mit alledem wenig zu tun. Günther und Gisela waren sich einig, dass Konventionen wie Monogamie und Treue nur die Fassade waren, hinter der sich kapitalistisches Besitzdenken verbarg. Günther wollte Gisela nicht besitzen, er wollte mit ihr zusammen sein und sich in diesem Zusammensein die Freiheit bewahren, auch andere Frauen zu lieben und auch diese Frauen nicht zu besitzen, genausowenig wie sie ihn. Günther und Gisela hatten in ihren Elternhäusern gesehen, in was für eine Alltagshölle die Institution der Ehe führen konnte, und sie waren sich in einig in dem Entschluss, nicht in dieser Hölle zu enden. Dieses schweigende Unglück, diese zähe Masse aus nie offenbarten Sehnsüchten, dieses Missverständnis, mit dem die Leute aus jugendlicher Verknalltheit eine lebenslängliche Fesselung machten – das sollte ihnen nicht passieren. Immer wenn sie gemeinsam eines der beiden Elternhäuser besuchten, in dem die Eltern saßen und an den erwachsenen Kindern ins Leere vorbeischauten, in ihr restliches Leben, wie in einen engen Tunnel, atmeten Günther und Gisela hinterher befreit auf...

Erscheint lt. Verlag 22.8.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-949671-53-6 / 3949671536
ISBN-13 978-3-949671-53-1 / 9783949671531
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