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Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit (eBook)

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eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
544 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11928-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit -  Natasha Pulley
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»Komm nach Hause, wenn du dich erinnerst.« 1898 erwacht Joe Tournier ohne jegliche Erinnerungen am Bahnhof Gare du Roi in Londres. Die Welt steht Kopf: England ist französisch, und Joe wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Nur wenig später, als er wieder in Freiheit ist, trifft eine rätselhafte Postkarte bei ihm ein, die 90 Jahre zu ihm unterwegs war. Auf der Postkarte ist ein Leuchtturm auf einer Insel in den Äußeren Hebriden mit dem Namen Eilean Mor abgebildet, auf der Rückseite steht ein kurzer Text: 'Liebster Joe, komm nach Hause, wenn du dich erinnerst. M.'  Was hat es mit dem Leuchtturm auf sich und wie kann ein Mann mittleren Alters aus einer 90jährigen Vergangenheit heraus vermisst werden? Und wer ist M.? Joe macht sich schließlich auf die nicht ungefährliche Reise nach Schottland, um den Leuchtturm zu suchen und findet stattdessen einen Weg in die Vergangenheit. Unversehens gerät er in die Turbulenzen der großen Schlachten zwischen England und Frankreich, die lange vor seiner Geburt entschieden wurden. Schnell wird klar, dass jeder Schritt in die Vergangenheit auch seine Zukunft beeinflusst.  'Halten Sie sich das Wochenende frei und lassen Sie sich entführen.' - New York Times

Natasha Pulley studierte in Oxford Englische Literatur. Nach Stationen im Buchhandel und bei der Cambridge University Press in den Bereichen Astronomie und Mathematik setzte sie ihre Studien in Tokyo fort. Sie erhielt ein Stipendium der Gladstone's Library als Writer in Residence. Gegenwärtig hat sie Lehraufträge an den Universitäten von Bath und Cambridge. Ihr Debüt Der Uhrmacher in der Filigree Street gewann den Betty Trask Award und wurde ein internationale Bestseller. Zuletzt erschien in der Hobbit Presse ihr Roman Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit.

Natasha Pulley studierte in Oxford Englische Literatur. Nach Stationen im Buchhandel und bei der Cambridge University Press in den Bereichen Astronomie und Mathematik setzte sie ihre Studien in Tokyo fort. Sie erhielt ein Stipendium der Gladstone's Library als Writer in Residence. Gegenwärtig hat sie Lehraufträge an den Universitäten von Bath und Cambridge. Ihr Debüt Der Uhrmacher in der Filigree Street gewann den Betty Trask Award und wurde ein internationale Bestseller. Zuletzt erschien in der Hobbit Presse ihr Roman Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit. Jochen Schwarzer, geboren 1967 in Nienburg/Weser, lebt als Übersetzer englischsprachiger Literatur in Berlin. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen Stephen King, Redmond O'Hanlon, Patrick Rothfuss und Hunter S. Thompson.

1


Londres, 1898 (93 Jahre nach Trafalgar)


Den meisten Menschen fällt es schwer, sich ihrer frühesten Erinnerung zu entsinnen. Es kostet sie Mühe, so als streckten sie sich nach ihren Zehen. Joe aber ging es nicht so – was daran lag, dass diese Erinnerung eine Woche nach seinem dreiundvierzigsten Geburtstag entstand.

Er stieg aus dem Zug. Das war es: das Allererste, woran er sich erinnerte. Das Zweite war schon nicht mehr so klar fassbar. Es war das ihn beschleichende unheimliche Gefühl, dass alles um ihn herum zwar seinen gewohnten Gang ging, zugleich aber ganz grundsätzlich etwas nicht stimmte.

Es war früher Morgen und garstig kalt. Dampf zischte direkt über ihm aus der schwarzen Lokomotive. Da sich der Bahnsteig nur eine Handbreit über den Gleisen erhob, befanden sich die Doppelzylinder der Räder auf Höhe seiner Taille. Er war dem so nah, dass er das Wasser im Kessel sieden hörte. Schnell trat er ein paar Schritte beiseite, sich ängstlich bewusst, dass sich die Lok jeden Moment ruckartig vorwärtsbewegen konnte.

Der Zug war gerade erst eingefahren. Der Bahnsteig war voller Leute, die sich, müde und steifbeinig von der Reise, in Richtung Bahnhofshalle bewegten. Der süßliche Geruch von Kohlenrauch hing in der Luft. Da es draußen gerade erst hell wurde, tauchten die kugelförmigen Lampen alles in ein fahles Licht, in dem selbst der Dampf einen langen, vagen Schatten warf und wie ein scheuer Teufel wirkte, der noch nicht recht wusste, ob er feste Gestalt annehmen sollte oder nicht.

Joe hatte nicht die leiseste Ahnung, was er dort tat.

Er wartete ab, denn Bahnhöfe waren ja schließlich überall auf der Welt Orte, an denen man schon mal verwirrt sein konnte. Es geschah aber nichts. Er konnte sich nicht erinnern, dort angekommen oder von irgendwo fortgegangen zu sein.

Er sah an sich hinab. Mit einem Anflug des Entsetzens stellte er fest, dass er sich nicht einmal erinnern konnte, sich angezogen zu haben.

Seine Kleidung war ihm fremd. Ein sehr schwerer Mantel mit Schottenkarofutter. Eine schlichte Weste mit interessanten Knöpfen, auf denen Lorbeermuster eingeprägt waren.

An einem Schild sah er, dass er sich auf Bahnsteig drei befand. Weiter hinten am Zug ging ein Schaffner an den Coupés entlang und sagte immer wieder das Gleiche, leise und respektvoll, da er Fahrgäste der ersten Klasse zu wecken hatte.

»Londres, Gare du Roi, alle aussteigen bitte! Londres, Gare du Roi …«

Joe fragte sich, warum zum Teufel die Bahngesellschaft Londoner Bahnhofsnamen auf Französisch angab, und fragte sich dann verwirrt, warum er sich das überhaupt fragte. Alle Bahnhöfe in London trugen französische Namen. Das wusste doch jeder.

Dann berührte ihn jemand am Arm und fragte auf Englisch, ob mit ihm alles in Ordnung sei. Er zuckte so heftig zusammen, dass er sich einen Nerv im Nacken zerrte. Ein greller Schmerz schoss ihm den Hals hinab.

»Verzeihung … könnten Sie mir bitte sagen, wo wir hier sind?«, fragte er und merkte sogleich, wie lächerlich das klang.

Der Mann schien jedoch nichts Ungewöhnliches dabei zu finden, auf einem Bahnhof jemandem mit Gedächtnisverlust zu begegnen. »In London«, sagte er. »Gare du Roi.«

Joe wusste nicht, warum er auf etwas anderes gehofft hatte als darauf, was er den Schaffner hatte sagen hören. Er schluckte und wandte den Blick ab. Der Dampf begann sich nun zu lichten, und überall tauchten Schilder auf – zur Kolonialbibliothek, zum Musée Britannique, zur Métro. Ein Stückchen weiter stand auf einer Tafel, dass der Verkehr auf der Desmoulins-Linie wegen Schachtarbeiten unterbrochen sei, und dahinter führten schmiedeeiserne Tore in den Nebel hinaus. »Ganz sicher … London in England?«, fragte er schließlich.

»Ja«, sagte der Mann.

»Oh«, sagte Joe.

Nun schnaufte der Zug wieder Dampf und verwandelte den Mann damit in ein Gespenst. Inmitten der leichten Panik, die Joe nun befiel, dachte er, dass er Arzt sein müsse, denn er wirkte immer noch nicht erstaunt. »Wie heißen Sie?«, fragte der Mann. Er hatte entweder eine junge Stimme oder sah älter aus, als er war.

»Joe.« Nach einigem Grübeln fiel es ihm wieder ein, und das war eine immense Erleichterung. »Joe Tournier.«

»Wissen Sie, wo Sie wohnen?«

»Nein«, antwortete Joe und fühlte sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen.

»Dann bringen wir Sie am besten in ein Krankenhaus«, sagte der Mann.

Er bezahlte eine Droschke, und Joe dachte, er würde es dabei bewenden lassen, doch dann fuhr der Mann tatsächlich mit und sagte, es mache ihm nichts aus, er habe nichts Dringendes zu tun. Unzählige Male versuchte Joe in den darauffolgenden Monaten, sich zu erinnern, wie der Mann ausgesehen hatte. Doch obwohl er ihm die ganze Droschkenfahrt gegenübergesessen hatte, gelang es ihm nicht. Er wusste nur noch, dass der Mann aufrecht gesessen hatte, ohne sich anzulehnen, und dass er etwas Fremdländisches an sich gehabt hatte – trotz der Tatsache, dass er auf jene strenge Art und Weise Englisch sprach, wie streitbare ältere Herren es taten, die sich all die Jahre standhaft geweigert hatten, Französisch zu lernen, und die einem nur einen finsteren Blick zuwarfen, wenn man sie mit Monsieur ansprach.

Sie war zum Verrücktwerden, diese kleine Lücke in seiner Wahrnehmung, denn alles andere hatte er später noch bestens parat. Die Droschke war noch ganz neu, das Leder frisch und nach Politur duftend, die sich noch wächsern anfühlte. Er konnte sich später sogar noch daran erinnern, dass Dampf von den Rücken der Pferde aufgestiegen war und dass die Federung geknarrt hatte, als sie vom Kopfsteinpflaster vor dem Bahnhof auf den glatteren Straßenbelag der Rue Euston eingebogen waren.

Bloß das Aussehen des Mannes war wie wegradiert. Und es war, als hinge dieses Vergessen weniger mit einer Gedächtnislücke zusammen, als vielmehr mit einer Art Schleier, der ihn verhüllte.

Die Straße kam ihm einerseits bekannt vor und andererseits überhaupt nicht. An jeder Ecke, die Joe zu kennen meinte, gab es entweder einen anderen Laden als den, den er erwartet hatte, oder es stand dort gar kein Gebäude. Droschken ratterten vorbei. Bräunliche Nebelschwaden drifteten über die Fenster der Geschäfte. Der Himmel war verhangen. Joe begann sich zu fragen, ob ihm der Mann womöglich gar nicht helfen wollte, sondern sich die Sache irgendwie zunutze machte; er konnte sich allerdings nicht vorstellen wofür.

Nicht weit entfernt bliesen monströse Türme dunklen Rauch in den metallisch grauen Himmel. Sie waren von einem Gespinst aus Gerüsten und Schrägaufzügen umgeben, und aus den Schornsteinen loderten kleine Flammen. An einem riesigen Silo stand in weißen Lettern auf Französisch: HOCHOFEN 5. Joe schluckte. Er wusste genau, was das war – ein Stahlwerk –, und doch erfüllte es ihn mit dem gleichen unheimlichen Gefühl, dass etwas nicht stimmte, wie die Métro-Schilder auf dem Bahnhof. Er schloss die Augen und versuchte sich zu klar zu werden, was er wusste. Stahlwerke: Ja, dafür war London berühmt, dafür war London da. Sieben Hochöfen in Farringdon und Clerkenwell, die Stahl für die ganze Republik produzierten. Auf Ansichtskarten von London sah es immer beeindruckend aus, dieses hoch aufragende Gewirr aus Rohrleitungen, Kohleschütten und Schloten mitten in der Stadt. Es war eine Quadratmeile, die komplett eingerußt war: die Ruine der St.-Pauls-Kathedrale, die schiefen alten Häuser rund um die Chancery Lane, alles. Deshalb nannte man London »Die Schwarze Stadt«.

Doch all diese Kenntnisse hätten genauso gut aus einem Lexikon stammen können. Er wusste nicht, woher er das alles wusste. Und er erinnerte sich nicht, je durch diese schwarzen Straßen oder durch die Gegend der Stahlwerke gegangen zu sein.

»Sind Sie aus demselben Zug ausgestiegen wie ich?«, fragte er den Mann, in der Hoffnung, dass es sein Unbehagen lindern würde, wenn er sich auf eine ganz bestimmte Sache konzentrierte.

»Ja. Der Zug kam aus Glasgow. Wir saßen im selben Waggon.« Der Mann hatte eine knappe, schneidige Sprechweise, aber seine ganze Körperhaltung brachte Mitgefühl zum Ausdruck. Er sah aus, als koste es ihn große Beherrschung, sich nicht vorzubeugen und Joes Hände zu ergreifen. Joe war froh, dass er das nicht tat. Er wäre sofort in Tränen ausgebrochen.

Er konnte sich nicht erinnern, in dem Zug gewesen zu sein. Der Mann versuchte, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, indem er ihm von der Fahrt erzählte: von der komischen Hochnäsigkeit des Schaffners und davon, wie die Klappbetten einen zu schlucken ...

Erscheint lt. Verlag 24.9.2022
Übersetzer Jochen Schwarzer
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte Alternative Geschichte • Alternative Geschichtsschreibung • Britisch • britische Fantasy • Buch • England • Fantasy • Frankreich • Gedächtnisverlust • historische Fantasy • Homosexualität • Lev Grossman • LGBTQ • Liebesgeschichte • Napoleonische Kriege • Neil Gaiman • Queere Fantasy • Seeabenteuer • Seefahrt • Time Gap • Urban Fantasy • Urlaubsbuch • Urlaubslektüre • Zeitreisen • Zeitsprung
ISBN-10 3-608-11928-0 / 3608119280
ISBN-13 978-3-608-11928-2 / 9783608119282
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