Victory City (eBook)
416 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-30051-7 (ISBN)
Südindien im 14. Jahrhundert: Die neunjährige Waise Pampa Kampana wird von einer Göttin auserkoren, ihre menschliche Hülle und ihr Sprachrohr in die Welt zu sein. In ihrem Namen erschafft Pampa aus einer Handvoll Samen eine Stadt: Bisnaga - Victory City, das Wunder der Welt. All ihr Handeln beruht auf der großen Aufgabe, die ihr die Göttin gestellt hat: den Frauen in einer patriarchalen Welt eine gleichberechtigte Rolle zu geben. Aber die Schöpfungsgeschichte Bisnagas nimmt mehr und mehr ihren eigenen Lauf. Während die Jahre vergehen, Herrscher kommen und gehen, Schlachten gewonnen und verloren werden und sich Loyalitäten verschieben, ist das Leben von Pampa Kampana untrennbar mit dieser Stadt verbunden. Von seinem Aufstieg zu einem Weltreich bis zu seinem tragischen Fall.
Mit »Victory City« kehrt der große Erzähler Salman Rushdie nach Indien zurück, mit einem modernen epischen Roman über Macht, Liebe und darüber, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.
Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)
Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, ging mit vierzehn Jahren nach England und studierte später in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder«, für den er den Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter. 2022 ernannte ihn das deutsche PEN-Zentrum zum Ehrenmitglied. 2023 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
1
Am letzten Tag ihres zweihundertsiebenundvierzig Jahre währenden Lebens beendete die blinde Poetin, Wundertätige und Prophetin Pampa Kampana ihr gewaltiges Prosagedicht über Bisnaga und begrub es in einem wachsversiegelten Tonkrug im Herzen des verfallenen Königsbezirks, eine Botschaft an die Zukunft. Viereinhalb Jahrhunderte später fanden wir diesen Krug und lasen zum ersten Mal ihr unsterbliches Meisterwerk, genannt Jayaparajaya, was so viel wie »Sieg und Niederlage« bedeutet, mit vierundzwanzigtausend Versen lang wie das Ramayana und verfasst in Sanskrit, ein Buch, in dem sie uns all jene Geheimnisse des Reiches verriet, die sie mehr als einhundertsechzigtausend Tage vor der Geschichte verborgen gehalten hatte. Wir kannten nur die übrig gebliebenen Ruinen, und auch unsere Erinnerung an die Geschichte des Reiches lag in Trümmern, zerstört vom Lauf der Zeit, den Unzulänglichkeiten der Erinnerung, den Verfälschungen der Nachgeborenen. Durch die Lektüre von Pampa Kampanas Buch aber wurde die Vergangenheit zurückgewonnen, das Reich Bisnaga so wahrhaft wiedergeboren, wie es einst gewesen war, mit seinen Kriegerinnen, den Goldbergen, der Großmut des Geistes und seinen Zeiten der Kleingeistigkeit, seinen Schwächen und Stärken. Zum ersten Mal vernahmen wir die vollständige Kunde jenes Königreichs, das begann und endete mit einem Brand und einem abgeschlagenen Kopf. Dies hier nun ist seine Geschichte, in schlichterer Sprache nacherzählt von einem Autor, der weder Gelehrter ist noch Poet, nur jemand, der gern Fäden spinnt und diese Version zur schlichten Unterhaltung und vielleicht auch zur Erbauung heutiger Leser darbietet, der alten wie der jungen, der gebildeten und nicht so gebildeten, jenen, die auf der Suche nach Weisheit sind, und jenen, die Narreteien kurzweilig finden, jenen aus dem Norden und jenen aus dem Süden, den Anhängern diverser Götter oder auch keines Gottes, den Weitherzigen und Engstirnigen, Männern und Frauen sowie allen Geschlechtern dazwischen und darüber hinaus, adligen Nachkommen und einfachen Bürgern, guten Menschen und Bösewichten, Scharlatanen und Ausländern, genügsamen Weisen und selbstsüchtigen Trotteln.
Bisnagas Geschichte begann im vierzehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung im Süden dessen, was wir heute Indien nennen, Bharat oder auch Hindustan. Der alte König, dessen von den Schultern kullernder Kopf alles in Gang setzte, machte als Monarch nicht viel her, war er doch einer vom Schlag jener minderen Herrscher, wie sie zwischen dem Niedergang eines großen Königreichs und dem Aufstieg des nächsten den Schauplatz der Geschichte betreten. Er hieß Kampila, stammte aus dem winzigen Fürstentum Kampili und war »Kampila Raya«, wobei mit raya die regionale Form von raja, also König, gemeint ist. Diesem zweitklassigen raya blieb auf seinem drittklassigen Thron gerade mal genügend Zeit, eine viertklassige Burg an den Ufern des Flusses Pampa zu bauen, darin einen fünftklassigen Tempel zu errichten und in den Fels eines steinigen Bergs einige vollmundige Inschriften meißeln zu lassen, ehe die Armee aus dem Norden nach Süden zog und ihn sich vorknöpfte. Die nachfolgende Schlacht war eine recht einseitige Angelegenheit und so unbedeutend, dass sich niemand die Mühe machte, ihr einen Namen zu geben. Kaum hatten die Soldaten aus dem Norden Kampila Rayas Truppen besiegt und einen Großteil seiner Armee niedergemetzelt, packten sie sich den Möchtegernkönig und schlugen ihm das ungekrönte Haupt ab, stopften es mit Stroh aus und schickten es nach Norden dem Sultan von Delhi zum Pläsier. An der namenlosen Schlacht war weiter nichts erwähnenswert, auch nicht am Kopf. Schlachten waren in jenen Tagen ein alltägliches Vorkommnis, weshalb es vielen Leuten nicht der Mühe wert schien, ihnen einen Namen zu geben; und abgeschlagene Köpfe reisten immerzu kreuz und quer durch unser großartiges Land, um diesem oder jenem Fürsten eine Freude zu machen. Der Sultan in der Hauptstadt im Norden besaß davon bereits eine beachtliche Sammlung.
Nach der unbedeutenden Schlacht kam es jedoch überraschenderweise zu einem Ereignis, das den Lauf der Geschichte ändern sollte. Man erzählt sich, die Frauen des winzigen besiegten Königreichs, viele nach der namenlosen Schlacht frisch verwitwet, hätten die viertklassige Burg verlassen, nachdem ein letztes Mal im fünftklassigen Tempel ein Opfer dargebracht worden war, um dann in kleinen Booten den Fluss zu überqueren, dem aufgewühlten Wasser zu trotzen, so unwahrscheinlich dies auch klingen mag, am Südufer eine Weile gen Westen zu wandern, einen großen Scheiterhaufen anzuzünden und in den Flammen Massenselbstmord zu begehen. Feierlich und klaglos verabschiedeten sie sich voneinander und schritten ohne zu zaudern ins Feuer. Als das Fleisch zu brennen begann und der Gestank des Todes sich verbreitete, wurden keine Schreie laut. Sie verglühten in aller Stille; nur das Knistern der Flammen war zu hören. Pampa Kampana hat dies gesehen. Es war, als schickte das Universum selbst ihr eine Botschaft, die besagte: Spitz deine Ohren, atme und lerne. Sie war neun Jahre alt, schaute mit Tränen in den Augen zu und hielt die Hand ihrer trockenäugigen Mutter so fest wie nur möglich, während all die vielen Frauen, die sie kannte, ins Feuer gingen und im Herzen der Glut hockten, standen oder lagen, wobei ihnen Feuerlohen aus Augen und Mündern spien: die alte Frau, die alles gesehen, und die junge Frau, deren Leben gerade erst begonnen hatte; das Mädchen, das ihren Vater hasste, den toten Soldaten; und die Frau, die sich für ihren Ehemann schämte, weil er sein Leben nicht auf dem Schlachtfeld hingegeben hatte; die Frau mit der schönen Stimme, die Frau mit dem Angst einflößenden Lachen und die Frau dürre wie ein Ästchen und die Frau dick wie eine Melone. Ins Feuer gingen sie, und Pampa würgte vom Gestank des Todes, als sie plötzlich mit Entsetzen bemerkte, wie ihre Mutter Radha Kampana sich sanft von ihrer Hand löste und langsam, aber mit unbeirrbarer Überzeugung voran ins Feuer der Toten schritt, ohne sich von ihrer Tochter auch nur zu verabschieden.
Pampa Kampana, die ihren Namen teilte mit dem Fluss, an dessen Ufern dies geschah, sollte den Geruch vom brennenden Fleisch der Mutter für den Rest ihres Lebens in der Nase behalten. Errichtet wurde der Scheiterhaufen aus duftendem Sandelholz, dem man reichlich Nelken, Knoblauch, Kreuzkümmelsamen und Zimtstangen beigegeben hatte, als wollte man aus den brennenden Frauen ein gut gewürztes Gericht zubereiten, das den siegreichen Generälen des Sultans zu deren kulinarischem Genuss vorgesetzt werden sollte, doch diesen Düften – dazu noch Kurkuma, die großen Kardamomkapseln und auch die kleinen – gelang es nicht, das einzigartig pikante, kannibalische Aroma bei lebendigem Leib gebackener Frauen zu überdecken, was ihren Duft letztlich noch unerträglicher machte. Pampa Kampana sollte nie mehr Fleisch essen, und sie brachte es auch nie wieder über sich, in der Küche zu verweilen, wenn Fleisch zubereitet wurde, da all die Gerichte Erinnerungen an ihre Mutter weckten; und wenn irgendwer totes Tier aß, musste Pampa Kampana den Blick abwenden.
Pampas Vater war jung gestorben, lang vor der namenlosen Schlacht, folglich gehörte ihre Mutter nicht zu den frisch Verwitweten. Arjuna Kampana war bereits vor so vielen Jahren gestorben, dass Pampa sich kaum an sein Gesicht erinnern konnte. Was sie von ihm wusste, hatte Radha Kampana ihr erzählt, nämlich dass er ein gütiger Mann gewesen war, der allseits beliebte Töpfer der Stadt Kampili, und dass er seine Frau ermuntert hatte, gleichfalls das Töpfern zu lernen, weshalb sie nach seinem Tod das Geschäft übernehmen und sich ihm mehr als ebenbürtig erweisen konnte. Radha wiederum leitete die kleine Pampa an, und so war schon das Kind überaus geschickt im Formen von Schalen und Gefäßen auf der Töpferscheibe, was sie eine wichtige Lektion lehrte, nämlich die, dass es kein Handwerk gab, das nur Männer auszuüben vermochten. Pampa Kampana hatte geglaubt, das wäre ihr Leben und sie würde Seite an Seite mit ihrer Mutter schöne Dinge herstellen. Dieser Traum war nun ausgeträumt. Die Mutter hatte ihr die Hand entzogen und sie ihrem Schicksal überlassen.
Lange hatte Pampa sich eingeredet, Radha habe sich der Gruppe nur angeschlossen, weil sie sich nicht ausgrenzen wollte, war sie doch seit jeher eine Frau, der viel an der Freundschaft anderer Frauen lag. Pampa sagte sich, dass die flammende Feuerwand nur ein Vorhang war, hinter dem sich die Frauen auf einen Plausch trafen, und dass sie bald wieder hervorkommen würden, womöglich ein wenig angesengt, womöglich nach Küchengerüchen duftend, die aber gewiss bald wieder verflogen. Und dann würde Pampa mit ihrer Mutter nach Hause gehen.
Erst als sie die letzten gebratenen Hautfetzen von Radha Kampanas Knochen fallen und darunter den nackten Schädel sah, begriff sie, dass ihre Kindheit vorbei war und dass sie sich von nun wie eine Erwachsene benehmen musste, die niemals den letzten Fehler ihrer Mutter begehen durfte. Sie würde dem Tod ins Gesicht lachen und sich dem Leben zuwenden. Sie würde ihren Körper nicht opfern, bloß um toten Männern ins Jenseits zu folgen. Sie würde sich weigern, jung zu sterben, und stattdessen leben und in ihrem Trotz über die Maßen alt werden. Und es war ebendies der Moment, da sie den himmlischen Segen erhielt, der alles ändern sollte, der Augenblick, da die Stimme der Göttin Pampa, alt wie die Zeit selbst, aus ihrem neunjährigen Mund ertönte.
Es war eine Stimme so gewaltig wie der Donner eines hohen Wasserfalls in einem Tal sanfter Echos. Darin klang eine nie zuvor gehörte Musik an, der sie später den Beinamen Güte gab. Natürlich war sie...
Erscheint lt. Verlag | 20.4.2023 |
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Übersetzer | Bernhard Robben |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Victory City |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2023 • Bestseller • Bestsellerautor • Booker Prize • eBooks • Fabel • Feminismus • friedenspreises des deutschen buchhandels • Indien • Indische Götter • Märchen • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Patriarchat • Roman • Romane • Roman für Frauen • Roman für Männer • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Südindien |
ISBN-10 | 3-641-30051-7 / 3641300517 |
ISBN-13 | 978-3-641-30051-7 / 9783641300517 |
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