Gesammelte Gedichte (eBook)
1120 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77216-4 (ISBN)
»Jürgen Beckers Werk verfolgt mit eindrucksvoller Konsequenz die Zeitstruktur individueller Wahrnehmung, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der genauen Beobachtung alltäglicher Begebenheiten, aber auch in den Bewegungen der Erinnerung. So entsteht wie nebenbei eine Chronik der Bundesrepublik, von der Erfahrung des Krieges über die Wiedervereinigung bis hin zum Smartphonezeitalter. Die Gedichte zeigen uns als geschichtliche Wesen, voll innerer Brüche, immer am Rand des Unbekannten, Unüberschaubaren, Verschwindenden.« Marion Poschmann
<p>Jürgen Becker wurde 1932 in Köln geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Während der Kriegs- und Nachkriegsjahre, zwischen 1939 und 1947, lebte er in Erfurt. Nach Aufenthalten in Osterwieck/Harz und Waldbröl kam er 1950 nach Köln zurück. 1953 Abitur. Nach kurzem, abgebrochenem Studium begann er seine Existenz als freier Schriftsteller; seinen Lebensunterhalt bestritt er jahrelang mit wechselnden Tätigkeiten, als Arbeiter und Angestellter, als Werbeassistent und Journalist. Er arbeitete für den WDR und in den Verlagen Rowohlt und Suhrkamp. Zwanzig Jahre lang, bis 1993, leitete er die Hörspielredaktion des Deutschlandfunks.</p> <p>Große Aufmerksamkeit fand Jürgen Becker mit seinem ersten Prosabuch <i>Felder</i> (1964); die beiden folgenden Bücher <i>Ränder</i> (1968) und <i>Umgebungen </i>(1970) festigten seinen Ruf als Verfasser experimenteller Literatur. Zugleich wirkte er mit seinen ersten Hörspielen (<i>Bilder, Häuser, Hausfreunde</i>) am Entstehen des »Neuen Hörspiels« mit. In seinem 1971 veröffentlichten Fotobuch<i> Eine Zeit ohne Wörter</i> verschmolz er seine literarische Arbeit mit dem visuellen Medium. Die künstlerischen Grenzüberschreitungen der Avantgarde hatte er 1965 bereits mit dem Band <i>Happenings</i> dokumentiert, einer Gemeinschaftspublikation mit dem Happening-Künstler Wolf Vostell.<br /> In den Siebziger- und Achtzigerjahren konzentrierte sich Jürgen Becker auf die Lyrik. Die in dieser Zeit entstandenen Gedichtbände - darunter <i>Das Ende der Landschaftsmalerei</i> (1974), <i>Odenthals Küste</i> (1986), <i>Das Gedicht der wiedervereinigten Landschaft</i> (1988) - platzierte die Kritik in die obersten Ränge der zeitgenössischen Poesie. Gleichzeitig schrieb Jürgen Becker weiterhin Hörspiele und die beiden Prosabücher <i>Erzählen bis Ostende</i> (1980) und <i>Die Türe zum Meer</i> (1983). Dazu korrespondierte er weiterhin mit dem visuellen Medium: <i>Fenster und Stimmen </i>(1982), <i>Frauen mit dem Rücken zum Betrachter</i> (1989), <i>Korrespondenzen mit Landschaft </i>(1996) entstanden nach Collagen seiner Frau, der Malerin Rango Bohne, <i>Geräumtes Gelände</i> (1995) nach Bildern seines Sohnes, des Fotografen Boris Becker.<br /> Wende und Wiedervereinigung wirkten entscheidend auf das Schreiben Jürgen Beckers ein. Die Wiederentdeckung der Orte und Landschaften zwischen Elbe und Oder, Rügen und Thüringer Wald motivierten seine Gedichtbände <i>Foxtrott im Erfurter Stadion</i> (1993) und <i>Journal der Wiederholungen</i> (1999),...
Fragment aus Rom
hier,
wo immer das ist: das ist jetzt die Frage
(jetzt immer): was ist und was drankommt,
hier
ist jetzt … /
neuerdings wieder nachts,
in diesen Träumen, diesige weiße Pisten
und plötzlich die heiße Last der Luft,
Miami
wirklich, wie
zehn, täglich, Zypressen vor Augen,
Quadrat-Himmel drüber. Luft.
Brauchbarer Blick zum Ausruhn, wie jetzt,
in der heißen Stille
von hier
fortgehen
kommt
der ganze Sommer noch (?)
Kein Sommer gewesen; gesagt vor zehn Jahren
unter einem Teerdach, kalt und naß, mit Löchern
von Krähen … (gewesen.
gesagt. geblieben.)
und seither
das Fortgehen aus dem weißen Haus unter den Pappeln
du bist immer fortgegangen
ein Kind
und weiter
fort
flog er zum ersten Mal
und weiter
wechselt die Häuser:
lebt jetzt in anderen Städten
Immer unterwegs so
– Regionalismus, den Hut
setz ich mir wieder auf, wenn ich ganz alt bin;
nun fragt eine Rivista an: Roma
ha un ruolo nel suo nuovo libro?
Zunächst Zypressen.
Kiesweg.
Katze kommt vom Dach nicht runter.
Beppino und Poststreik.
Ich will eine Eidechse sein.
Wasserstreik.
Im Winter haben wir ganz schön gefroren.
Krieg der Ateliers.
Quasi Reihenhausidyll.
Frauen. Kinder. Wäscheleinen.
Mauer ums Ganze, den Park.
… und in dieser Stille … kann man (Ehrengast)
nur sagen von einer gewissen Schwerhörigkeit an;
elezioni communali:
im Dröhnen, wochenlang,
der Lautsprecherkämpfe schläfts sich schlecht
in unserer Lorbeer-Kolonie;
Hammer & Sichel
sah ich erst wieder, ganz legal,
auf der
Piazza Bologna
kreisen
mit Horst-Wessel-Lied die Fiats 500 des MSI.
Gestern: ist
eine Verdunklungslandschaft – Ich
halte sie unvollkommen besetzt
mit meinen Thyssenhütten, Fahrrädern;
dem Jahrgang 40 soll ich mal singen
von Zarah Leander
und sagen was Dienst war und
Menschenfressen-Spiel
im Grünen Herz meines Landes,
Gestern:
ist eine Totenkopf-Heimat:
ich verzichte,
hisse Eimer
(im lebendigen Kopf
ein Speicher mit all dem Früheren voll).
Das Haus im Forst steht weit entfernt.
Die Fahrräder der Kinder
liegen wahrscheinlich umgefallen auf dem Gartenweg.
Die Gartentür steht wahrscheinlich wieder offen.
Die Terrasse müßte um diese Vormittagszeit
von der Sonne hell beschienen sein.
Möglicherweise alles nicht.
Was passiert denn.
Angst vor dem Möglichen.
vota (Sotrop
schreibts in seine Bilder, wenn
er nicht eben einen lupft oder schnackt
bei Bianchi); wochenlang (wieder; im Dröhnen …)
in unserem unpolitischen Herrenpark
pickt Remo (weiße Tauben, blöd und fett, morgens
dazwischen im Mais) nach den votierbaren Programmen
vom Himmel; der Himmel
wird Werbefläche hier, ewig (heißt es, wie alles), und
Remos Kokeleien machen nichts
vom Krankheits-Dunst über Nordrhein-Westfalen;
und was da flattert (friedlich, faul),
sind nicht die Uhus von Gelsenkirchen –
(denk dran [aber Du schreibst ja im Brief]:
an unseren Wahlnachtjammer in St. Pauli.)
's ist im Wind:
ist alles was man hier weiß
Du
weißt noch, September letztes norddeutsches Jahr,
in dieser Schnapsnacht, als unser Berliner Zampano
die letzte SchlechterVerliererSzene schmiß, sodaß
die christlichen Bildschirme grinsten, sodaß
ich nachher ins Kissen biß und
gelähmt lag –
Du
weißt nicht: wie ich mit schrieb, sagte
verändern
(einst)
– gelähmt
weiß ich nicht und mache weiter:
es geht ja weiter
entschieden unentscheidbar,
das weißt Du,
daran halte ich nicht fest
im Zweifel / nur im Zweifel
bin ich nicht und halte doch still, nur
den Zweifel, sonst nichts, im Rücken
sage ich weiter verändern, frage ich
wie aber was –
Du weißt nicht,
ich kann es Dir nicht sagen,
Du weißt noch,
September, daß ich gelähmt lag und
still war,
bis jetzt
nicht
in Ruhe gelassen
– hier –
in der Ruhe der Insekten und Statute (denn
weiter die Geräuschanlagen im Kopf): pluralisiere
ich mich weiter.
Stimmen. Wohin
er geflogen ist, und in welchen Städten
wir leben. Mit Statussymbol. Vergammelt. Aus
öffentlicher Hand. Fulltimejob. Che gioia vivere.
Diese Lippen auf Lippen. Alle Augen unterwegs.
Ein Ohr in der Gruga-Halle, eins
in der Brandung vor Big Sur. Sie schliefen
in Zelten und Jugendherbergen. Im Park
in meinem Pavillon … verträume ich …
glückliche Stunden.
Und via Grammatik
verteilt man sich weiter und der Kopf ist
noch immer ein Globus
(Miami
erst wirklich zum Beispiel) (Wirklich auch
Mister John Faulks: »Sucht Erdöl in der Nordsee.
Studiert Wahltrends in England. Baut Staudämme
in Malaysia. Ohne London zu verlassen.«).
Ohne
Wirkliches zu verlassen (mit Zucker und Löschpapier
für die Reise) entfernen wir uns
in (: ich weiß ich verschleiße) wirkliche Luft,
Landkartenträume, neue Gegend –
...Erscheint lt. Verlag | 19.6.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Lyrik / Gedichte |
Schlagworte | Abbildungen • Alltag • alltäglich • Bewegungen • Bilder • BRD • Bremer Literaturpreis 2021 • Bundesrepublik • Chronik • Collage • DDR • Deutsche Einheit • Deutschland • Erinnerung • Fotos • Geburtstag • Gedichtband • Gedichtbände • Gedichte • Gedichtsammlung • Georg-Büchner-Preis 2014 • gleichzeitig • Gleichzeitigkeit • illustriert • Individuell • Joseph-Breitbach-Preis 2023 • Kalter Krieg • Krieg • Lyrik • Lyrisch • Mauer • Mauerfall • mit Illustrationen • Mitteleuropa • Nachkriegszeit • neues Buch • Poesie • poetisch • Sammlung • Smartphone • Technologie • Ungleichzeitig • Ungleichzeitigkeit • Verschwinden • Wahrnehmung • Wende • Wiedervereinigung • Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2013 • WORTMELDUNGEN-Literaturpreis 2021 • Zeitgeschichte • Zeitstruktur • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-518-77216-3 / 3518772163 |
ISBN-13 | 978-3-518-77216-4 / 9783518772164 |
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