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Ins Unbekannte (eBook)

Die Geschichte von Sabina und Fritz
eBook Download: EPUB
2022 | 2. Auflage
288 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61302-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ins Unbekannte -  Lukas Hartmann
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Sabina kommt aus Russland nach Zürich, um sich in der psychiatrischen Klinik von Dr. C.G. Jung behandeln zu lassen. Und wird seine Geliebte. Fritz, der Sohn eines Schreiners, träumt von einer besseren Gesellschaft, bringt die Schweiz an den Rand einer Revolution und rettet Lenin in Russland das Leben. Beide sind sie mutig, widersprüchlich, zerrissen, betreten unaufhörlich Neuland. Ihre Schicksale kreuzen, spiegeln sich - und verlieren sich im Dunkel der europäischen Geschichte.

Lukas Hartmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und für Kinder. Er ist einer der bekanntesten Autoren der Schweiz und steht mit seinen Romanen regelmäßig auf der Bestsellerliste.


Wo war sie denn? Sie wusste es nicht genau. Die Eltern hatten Sabina zu dieser langen Reise genötigt, vor allem die überbesorgte Mutter, der Vater schwieg und wich Sabinas Blicken aus. Er hatte ein schlechtes Gewissen, und das geschah ihm recht. Sie war ja kein Kind mehr, sie war eine junge Frau. Man durfte sie nicht so brutal behandeln, nie hätte er sie, als sie jünger war, im Beisein der Brüder mit Rutenhieben auf den nackten Hintern bestrafen dürfen. Sie musste sich danach vor ihnen verbergen, sich irgendwo in ihr drin verkriechen, und wenn man sie herauslocken wollte, wehrte sie sich mit aller Kraft, sie schrie, schlug um sich, egal, ob eine Berührung sanft war oder grob. Man brachte sie schon in Rostow zu Ärzten, schob sie in weiß gestrichene Räume hinein, sie hörte die Mutter weinen, den Vater schwer atmen. Man legte sie auf eine Couch, es waren mehrere Hände an ihr, sie stieß sie weg, man band sie fest, Gesichter über ihr, die sie nicht kannte und verscheuchen wollte, sie lachte alle aus, mit Absicht schrill und theatralisch, und das galt als Krankheitssymptom, ausgerechnet bei ihr, die Ärztin werden wollte, sie hatte doch schon, zum Entsetzen der Mutter, kranke Puppen aufgeschnitten und wieder zusammengenäht. Dann wurde der Familie von Verwandten geraten wegzufahren, weit weg, dorthin, wo das medizinische Niveau höher war als in Russland, in eine Schweizer Klinik, in der man sich auch um das Seelische kümmere, sagte die Mutter, die ja selbst Zahnärztin war. Sabina sprach fließend Deutsch, aber der Ort, zu dem sie nun in der Mietkutsche fuhren, hieß Burghölzli, das Wort verstand sie nicht, und weil ihr der Klang so drollig erschien, fügte sie sich und ließ sich in das abweisend wirkende Gebäude hineinbegleiten.

»Ich werde nichts schlucken, nichts trinken«, sagte sie sehr laut, »und ich will keine Spritze.«

»Ach Gott«, seufzte die Mutter und fasste Sabina an der Hand, »man wird dich doch nicht quälen, mein Kind.«

Sabina schüttelte aber die Hand ab, rutschte ganz an den Rand des gepolsterten Sitzes, schloss die Augen und tat, als sei sie sogleich eingeschlafen. Da spürte sie wieder eine Hand auf ihrer Schulter, viel zu lastend, es war, sie wusste es, die des Vaters. Sie fuhr auf und schrie: »Lass mich!« Das Gewicht verschwand, es fiel von ihr ab wie etwas Totes, Schlaffes, sie lachte laut, hysterisch nannten sie es, das wusste sie. Sollte sie miauen wie eine zornige Katze? Sie tat es und hörte das langgezogene »Ach« der Mutter. Vom Vater hörte sie nichts.

Eine Tür wurde geöffnet, Sabina fühlte sich hinausgedrängt, eine stämmige Pflegerin in weißer Tracht mit weißer Haube gehörte nun auch zum Trupp, sie war kräftiger als Sabina und stieß sie vorwärts in einen Raum. Alles weiß, erbarmungslos weiß. Man nötigte die Patientin auf einen Stuhl mit harter Rückenlehne. Da war Leder hinter ihr, das mochte sie nicht, Leder stammte von Tieren.

»Ich will anderswo sitzen«, quengelte sie. »Versteht ihr, anderswo!«

Sie begann laut zu schluchzen; nun habe ich mein Repertoire durchgespielt, dachte sie. Oder doch nicht? Sie glitt vom Stuhl, warf sich auf den Boden. Der war härter als die Stuhllehne, aber sie achtete nicht darauf, lachte laut. Inzwischen waren zwei andere Pflegerinnen dazugekommen, gemeinsam versuchten sie, die Patientin zu bändigen. Sabina wehrte sich, sie hatte eine Kraft, die sie von sich gar nicht gekannt hatte. Man hob sie gemeinsam wieder auf den Stuhl, jemand versuchte, sie mit einem Riemen festzubinden, nun half sogar der Vater mit, und das war abscheulich. Sie wand sich, sie schrie.

»Wir tun Ihnen doch nichts«, verstand sie in mehreren Variationen.

Sie spielte ja Klavier, sie mochte Variationen und lachte wieder. Aber nun waren ihre Arme am Körper festgebunden.

»Doch, ihr tut mir weh«, jammerte sie und übertrieb den Schmerz.

»Hört auf«, sagte der Vater im Hintergrund, genau das hatte sie gewollt. Aber man hörte, wie gewöhnlich, nicht auf ihn. Er war nur in ihrer Kindheit ein Herrscher gewesen.

»Was macht ihr da?«, hörte sie plötzlich die sanfte Stimme eines Mannes.

Da war jemand lautlos eingetreten.

»Bindet sie los«, sagte der Mann.

Verlegene Stille, aber man gehorchte. Sabina atmete mit Vorsatz laut und keuchend; außerdem war sie nun wirklich erschöpft. Sie blinzelte ins Helle, der Mann, der vor ihr stand, schien ihr übergroß, auch er trug einen weißen Kittel. Ein Arzt offenbar, jung noch, mit solchen wie ihm hatte sie in letzter Zeit genug zu tun gehabt. Aber er hatte ein gütiges Gesicht, die Augen waren von unbestimmbarer Farbe. Hellblau? Eher gräulich. Die Verwandtschaft mit »greulich« brachte sie zum Lachen, so gut beherrschte sie die deutsche Sprache, in der Gymnasialklasse war sie deswegen bewundert worden. Er stutzte, lächelte, das sah sie wohl, ein hübscher Mann, ungewöhnlich würdig für sein Alter.

»Wie ist die Farbe Ihrer Augen?«, fragte sie, was seine Erheiterung zu steigern schien.

»Warum interessiert Sie das?«, fragte er zurück und kniff nun seine Augen zusammen.

»Einfach so«, sagte sie.

»Sie werden es bestimmt herausfinden«, gab er zurück, eher scherzhaft als ernst. »Ich bin übrigens Ihr Arzt, Ihnen zugeteilt. Mein Name ist Jung, Doktor Jung.«

Das reizte sie zu einem weiteren Lachanfall. »Eben habe ich gedacht, Sie seien noch sehr jung. Und jetzt heißen Sie auch so.« Sein Lachen war weniger melodiös als ihres, leicht angespannt, fand sie. Ringsum blieb alles still, kaum ein Geräusch war zu hören außer der Unterhaltung zwischen den beiden.

»Ich bin wohl älter, als Sie meinen«, sagte er, nun ernsthaft, sogar leicht beleidigt, wie ihr schien.

»Sind Sie verheiratet?«, fragte sie und freute sich über seine sichtliche Irritation, seine Mundwinkel zitterten leicht. Sie sah nun, dass er eine randlose Brille trug, die ihn älter machte, und einen dünnen Schnurrbart, der ihm nicht stand.

»Ja, das bin ich, Fräulein Spielrein. Aber die Fragen stelle ich, wenn Sie das bitte akzeptieren wollen.«

Sie tat, als ob sie ihn nicht verstanden hätte. Sie richtete sich halb auf. »Und ist Ihre Frau denn in froher Erwartung?«

Er schwieg, musterte sie abwartend; die Schwestern wagten kaum zu atmen; nur von einer, der jüngsten, kam ein Geräusch, das klang wie ein unterdrücktes Lachen.

Sabina sank zurück aufs Bett, sie murmelte etwas, die Wörter, die sie zustande brachte, wurden lauter, blieben aber unverständlich, dann hob und senkte sich ihr Körper in immer schnellerem Rhythmus. Doktor Jung gab einer Schwester einen Wink, sie legte eine Hand auf Sabinas Bauch, das beruhigte sie sogleich. Erst seit Kurzem wusste sie, wie Kinder entstanden, das hatte ihr die Mutter viel zu lang verheimlicht, und Sabina hatte eigene Theorien dazu fabriziert, die sie allesamt wieder verwarf. Eine Zeit lang war sie davon überzeugt gewesen, dass das Kind im Oberschenkel der Mutter, der ja bei vielen Frauen sehr ausladend war, entstand und dann herausgeschnitten wurde. In einem medizinischen Buch, das im elterlichen Bücherregal – nicht bei der Biologie, sondern listigerweise bei der Geographie – hinter anderen verborgen war, hatte sie die Antwort gefunden. Sie hatte sie geahnt, auch durch die Andeutungen der Schulkameradinnen, aber es hatte ihr gegraut vor der Vorstellung dessen, was da bei der sogenannten Kopulation zwischen Mann und Frau geschah, es war ihr gleichzeitig klar, dass die Brüder längst Bescheid wussten. Sie hatte die Mutter damit konfrontiert, und diese hatte den Kopf gesenkt und sich herausgeredet, dass man eine junge Frau doch so lange wie möglich vor diesen Dingen verschonen müsse. Sabina, die schon ihre Menstruation hatte, sah das nicht ein und redete zwei Wochen lang kein Wort mehr mit der Mutter; der Vater blieb ohnehin bei solchen Dingen außen vor, obwohl er sie, wenn sie vorlaut gewesen war, auf den nackten Hintern geschlagen hatte, was mit der Zeugung in keiner Weise verbunden war.

Sie stellte sich den Doktor Jung vor, wie er auf seiner Frau lag und in sie eindrang, weil das beim Zeugungsakt offenkundig nötig war, und stöhnte dabei abwehrend auf.

Besorgt fühlte ihr die junge Schwester den Puls, und Doktor Jung fragte, ob ihr nicht gut sei. Doch Sabina beruhigte sich.

»Es ist nichts«, sagte sie mit klarer Stimme. »Gar nichts.«

»Wir sehen uns schon morgen wieder«, eröffnete ihr der Doktor, bevor er ging. »Wir sehen uns von nun an jeden Tag um elf. Ich wünsche mir, dass Sie um diese Zeit bereit sind, zur Konsultation in mein Besprechungszimmer geführt zu werden.« Dann stand er auf und verließ ohne Händedruck oder ein weiteres Zeichen den Raum, und Sabina kam sich plötzlich, zu ihrer eigenen Verwunderung, verlassen vor, obwohl sie ja flankiert war von ihren Eltern.

Sie war enttäuscht, sie hätte den Doktor gerne weiter herausgefordert. Das sollte man als junge gefügige Frau nicht tun; gerade deshalb tat sie es, sie konnte dem Zwang nicht entrinnen.

»Herr Doktor Jung«, sagte sie, völlig beherrscht in die Runde, »hätte mir gewiss geraten, was man bei hartnäckiger Verstopfung tun kann.« Sie liebte die beiden deutschen vokalreichen Wörter, die sie hier aneinandersetzte, »hartnäckig« und »Verstopfung«, sie klangen fremdartig und anziehend, ganz anders als »Regen« oder »Besen«. Den Anwesenden im Konsultationszimmer schien für einen Augenblick der Atem zu stocken.

»Ich mag es nicht«, fuhr Sabina fort und achtete nicht darauf, dass die Mutter sich mahnend räusperte, »wenn der Stuhlgang« – auch eines dieser seltsamen Wörter –...

Erscheint lt. Verlag 28.9.2022
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • 2. Weltkrieg • Auswandern • Carl Gustav • Exil • Fritz • Genf • Genosse • Gewerkschaft • Grimm • Grimm, Robert • GULAG • Holocaust • Hysterie • Invasion • Jean • jung • Jung, Carl Gustav • jungianische Psychoanalyse • Kolchose • Kommunismus • Kommunist • Leidenschaft • Lenin • Moskau • Nazis • Piaget • Piaget, Jean • Platten • Platten, Fritz • Plombierter Waggon • Psychiater • Psychiatrie • Psychoanalyse • Psychoanalytiker • Robert • Rostow am Don • Russland • Sabina • Schweizer Autor • Schweizer Generalstreik • Schweizer Geschichte • Schweizer Literatur • Sowjetunion • Spielrein • Spielrein, Sabina • Stalin • Stalin-Terror • Zürich • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-257-61302-4 / 3257613024
ISBN-13 978-3-257-61302-5 / 9783257613025
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