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Herzschuss -  Brigitte Stuiber

Herzschuss (eBook)

Familiendramen um Klimt und Schiele
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
myMorawa von Dataform Media GmbH (Verlag)
978-3-99129-916-5 (ISBN)
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In einem Mosaik aus Chronik und Drama, Fakten und Fiktion wird die bewegende Geschichte der jüdischen Familien Pulitzer, Lederer und Munk und deren Verbindung zu Gustav Klimt und Egon Schiele erzählt: Wie Joseph Pulitzer der Freiheitsstatue zu ihrem Sockel verhilft. Wie Serena Lederer (geborene Pulitzer), Freundin und Mäzenin Gustav Klimts, dem schockierten Kunsthändler Nebehay sämtliche Bilder abkauft. Wie sich Sohn Erich Lederer von Egon Schiele porträtieren lässt und dieser seinen begabten jungen Freund fragt, ob er auch 'mit dem Herzen' malen könne. Wie der 50-jährige Paul Kupelwieser für den risikoreichen Kauf der Inselgruppe Brioni seine gesamte Existenz aufs Spiel setzt. Wie die 24-jährige Ria Munk, Nichte von Serena Lederer, dem dämonischen Charme des deutschen Skandalschriftstellers Hanns Heinz Ewers verfallen, diesem auf die mondäne Insel Brioni nachreist; wo sich eine leidenschaftliche Romanze mit dramatischen Folgen entfaltet... Weshalb ein verdrossener Gustav Klimt den Auftrag, das Porträt der Ria Munk abermals zu malen als 'Sklavenarbeit' verwünscht, und wie das geheimnisvolle Gemälde aus einer Ausseer Villa verschwindet und in einem Museum wieder auftaucht. Welches nicht dessen letzte Station sein sollte...

Brigitte Stuiber, geboren in Wien, Studium der Anglistik und Germanistik in Trondheim und Wien, tätig als Oberstufenlehrerin, Seminarleiterin und Cambridge-Prüferin, lebt in Berndorf (NÖ). Organisation des internationalen Germanist:innen-Symposions: 'Leo Perutz. Unruhige Träume - Abgründige Konstruktionen' (2000) mit H.H. Müller in Wien und Prag; Mitherausgeberin des Folge-Symposionbandes und Verfasserin des Beitrags 'Absichtliche Unabsichtlichkeit. Motive, Quellen und Erzählarchitekturen in Leo Perutz' Turlupin' (2002 bei Sonderzahl); Online-Publikation des EU-Schulprojektes von FRA (European Union Agency for Fundamental Rights) 'Racist Justice. Grim(m) Tales of Biased Texts' (2011) in Wien und Yad Vashem, Jerusalem; dreibändige Lesebuchreihe 'Eisbrecher. Andere Lesetexte' (1995-1998 bei ögv/öbv/hpt); Literaturbuch 'Spurensuche' (2012 bei Hölder-Pichler-Tempsky).

PROLOG

Wien 1936. Versagensangst

Wie eine Tigerschlange überfällt sie dich. Die Angst. Springt dich an, fixiert dich mit starrem Blick, geht dir an die Kehle, würgt dich. Atemlos macht sie dich. Machtlos. Fährt dir in die Knie. Lässt dich zittern. Überzieht dich mit dichtem, feinem Spinnennetz. Lässt dich erstarren. Bewegungslos, reglos verharren. Verstummen. Einen tonlosen Schrei formen. Lässt dich von ameisengleichen Hitze- und Kälteschauern gejagt in den Angstkäfig taumeln. In eine Ecke kauern. Sich ducken. Sich klein machen. Verschwinden wollen. Unsichtbar. Gefangen im Angstkäfig - vergeblich an den Stäben rüttelnd. Den dicht gefügten, unverrückbaren. Davor ein Eisenschloss. Sicher versperrt vom Folterknecht. Deinem ganz persönlichen Folterknecht. Der den Schlüssel hat. Der Schlüssel ist. Zu deiner Angst.

Viele Spielarten hat sie, die Angst. Eine davon, häufig unterschätzt: das Lampenfieber.

Das Ausmaß des Lampenfiebers kommt auf den Anspruch an. Den Anspruch. Von innen, von außen. „Wird mich noch jemand lieben, wenn ich versage?“ Welch ein Risiko! Welch eine Bedrohung! Gewöhnliches Lampenfieber steigert sich so zur Raserei. Höllenangst. Versagensangst zu Todesangst. „Versage ich, ist alles aus. Es muss perfekt sein. Ich muss perfekt sein.“

Wer ich? Ich bin Jolán, 10 Jahre alt. Gebürtig in Sopron. 1926. Vater unbekannt. Mutter lange fort. Hat mich zurückgelassen. Da war ich drei. In Wien. Bei ihrer Tante, der Schwester ihrer Mutter. Jetzt ist meine Mutter Lenke in Spanien. Dort, wo es immer warm ist. Dort, wo Orangen und Zitronen blühen. Sogar im Winter. Dort tanzt sie den Flamenco. Olé! Tanzt mit Kastagnetten und Maskenmännern. Tanzt in Spitzen-Rüschenkleidern mit Krinolinen. Zeigt ein tiefes Rückendekolltee. Trägt einen schwarzen Hut und eine Blume im Haar. Meine Mutter. So schön. So exotisch. So fern. Von Zeit zu Zeit schickt sie kolorierte Karten. Mit viel Rosa und Goldflitter. Auch Fotos, wo sie auf Eseln reitet. Und mit den Fingern scherzhaft Stierhörner aufsetzt.

Ich lebe jetzt bei Nagymama und Nagypapa. (Eigentlich sind sie nicht meine Großeltern, sondern Großtante und Großonkel.) Wir wohnen in Wien. Wir sind arm. Seit Nagypapa sein Geschäft verloren hat und krank ist. Krank ist er aus dem Krieg zurück gekommen, dem verlorenen Krieg. Angespuckt hat man die Soldaten.

Jetzt bin auch ich noch da. Noch ein unnützer Esser. Wenn ein Paket meiner Mutter kommt, wird gleich alles versetzt. Die Seidenkleider, die Krokotaschen, der Nerzmantel, der Brillantring. Nur den lila Teddybären darf ich behalten. Vorerst.

Zu Hause spricht man ungarisch, in der Schule deutsch. Zweimal in der Woche besuche ich am Nachmittag den Ungarisch-Unterricht im Collegium Hungaricum im Palais Trautson.

Nach dem Tod des letzten Fürsten Trautson erwarb die Kaiserin Maria Theresia das Palais für die Königlich Ungarische Leibgarde, als „Pflanzanstalt“ (=Lehranstalt) für ihre tapferen Husaren. Auch nach dem Ende der Monarchie blieb das Palais in ungarischer Hand als Kulturinstitut Collegium Hungaricum, ein kleines Stück Ungarn – mitten in Wien.

Jetzt schreiben wir das Jahr 1936. Ich freue mich auf diese Nachmittage in der ungarischen Schule. Mit meiner lieben, jungen Lehrerin, aus deren Mund das Ungarische so sanft klingt. So melodiös wie Wassermurmeln oder Cellotöne. Das Lernen fällt mir leicht. Bald kann ich Ungarisch nicht nur in Wort, sondern auch in Schrift. Ich bin die Beste der Klasse, werde oft gelobt. Freudig laufe ich jedes Mal die pompöse, mit roten Teppichläufern belegte Marmortreppe zum Klassenzimmer hinauf. Nicht ohne respektvollen Seitenblick auf die barbusigen, unheimlich grinsenden Marmorsphingen und die grimmig blickenden Säulenträger.

Der Star der Sala terrena

Nur zweimal im Jahr fürchte ich mich vor dem Gang zum Palais. Einmal vor den Sommerferien und einmal vor Weihnachten. Da findet eine Feier für uns ungarische Kinder statt. Ganz unten in der feierlich-düsteren Sala terrena des Palais. Dort erwartet uns ein festlicher mit den ungarischen Farben rot-weiß-grün gedeckter Tisch und eine feine Jause. Außerdem können wir uns entweder ein Kleidungsstück oder ein paar Schuhe als Geschenk aussuchen.

Eigentlich ein Grund zum Freuen. Für die anderen Kinder, für mich nicht. Denn ich muss jedes Mal – als Star der Klasse - vor unserer Gönnerin, der Gräfin Lederer, ein ellenlanges ungarisches Gedicht aufsagen. Und jedes Mal habe ich die gleiche entsetzliche Angst, das gleiche Lampenfieber. Fehlerlos hat es zu sein, absolut fehlerlos. Das wird von mir erwartet. Man will stolz auf mich sein. So soll ich meine Dankbarkeit beweisen. Beweisen, dass ich nicht so bin wie meine Mutter.

Eines der Gedichte, das ich vortragen sollte, hieß Délibáb (= Fata Morgana). Es beschreibt, wie ein ungarischer Bub mit seinem Vater auf einem Pferdewagen durch die Puszta nach Hause fährt. Es ist sehr, sehr heiß, der Bub ersehnt das Heimkommen. Endlich meint er in der Ferne schon die Kirche des Heimatdorfes und den Dorfweiher zu sehen. „Schau, Vater, wir sind gleich zu Hause!“, ruft er freudig aus. Der Vater schüttelt jedoch den Kopf und sagt, sein Sohn habe sich getäuscht, sie wären noch weit, sehr weit von zu Hause entfernt. Was er gesehen habe, sei nur eine Fata Morgana – eine Luftspiegelung, die durch die große Hitze entsteht…Der Bub ist zwar enttäuscht, aber auch fasziniert: Abrakadabra – wie ein Zauberkunststück kommt es ihm vor.

Jedes Mal vor meinem Auftritt scheint mir der Text aus dem Gedächtnis zu entschwinden – wie eine Fata Morgana. Délibáb. Habe ich es aber wieder einmal geschafft, bin ich der absolute Star der Sala terrena. Ich werde von meiner ungarischen Lehrerin gelobt und geküsst. Die Nagymama lobt mich nie. Und küssen darf sie mich auch nicht, da sie ja lungenkrank ist.

Dieses Mal fürchte ich mich besonders. Vor dem langen Prosatext, den ich auf Ungarisch und Deutsch auswendig aufsagen soll. Vor dem schwierigen Beileidstext für die Gräfin Lederer, unserer Wohltäterin, vor kurzem Witwe geworden.

„Mach mir ja keine Schande, Jolán!“, sagt die Nagymama streng und lässt mich den ungarischen Text zum xten Mal wiederholen. Und immer noch weiß sie etwas daran auszusetzen. Deutsch kann die Nagymama selber nur sehr schlecht, obwohl sie schon so lange in Wien lebt. Sie weigert sich, Deutsch zu lernen: „Der, die, das werd‘ ich nie verstehn!“ Für sie ist Deutsch eine harte, fremde Sprache, die sie nie lieben wird. Mit ihrer schönen, starken Altstimme singt sie lustige und traurige ungarische Weisen. Sie kennt so viele alte Lieder. Zigeunermusik liebt sie besonders. Die echte, die dem ungarischen Volkslied nahe steht. Mit tief traurigem oder kindlich übermütigem Text und wehmütigen Melodien. Wo schluchzende Geigentöne von Vogelgezwitscher abgelöst werden, um schließlich in stampfende Csárdasklänge überzugehen, die einen als trotzige Herausforderung an das Leben die traurigen Weisen vergessen lassen. Den Zigeunerprimás will die Nagymama mit der Bestellung von Liedern, die er nicht kennt, sie aber schon, in Verlegenheit bringen. Es kommt zu einem spielerischen Duell. Meist gewinnt der Primás. In jedem Fall gewinnt er. Ein stattliches Trinkgeld ist ihm sicher. Der Nagypapa befeuchtet dann einen Hunderter und klebt ihn dem Primás auf die Stirn. Vorausgesetzt, er hat schön gespielt. Vorausgesetzt die Nagymama hat gesungen, zu den Csárdásklängen getanzt und gestampft, gelacht und geweint.

Leicht hat sie es nie gehabt, die Nagymama. Das Leben hat sie hart gemacht, hart und verbittert: Die Lungenkrankheit, der Tod der Schwester, die Verantwortung für deren zwei kleine Kinder. Schließlich auch noch der kranke Mann, Konkurs des Geschäfts - Armut. Und obendrein: Schande! Loser Lebenswandel der Nichte, deren Schwangerschaft, Hochzeit mit einem „Zigeiner“, der sie schlägt. Schließlich auch noch: die undankbare Nichte, die sie verlässt. Die sie allein lässt mit der Verantwortung für mich. Dagegen sie: Eiserne Pflichterfüllung als Lebensprinzip, Sorge für andere, nie ein eigenes Leben. Und dieses Leben; ein Leben in der Fremde, nie Heimat geworden. Und immer das Heimweh. Nach dem Land, dem vertrauten Singsang der Sprache, der Muttersprache. Magyarul. Sie denkt ungarisch, hört ungarisches Radio, hält eisern zur ungarischen Nationalmannschaft. Und schreit: „Éljen, a Magyar!“, wenn sie gewinnen, aber auch wenn sie verlieren, singt sie die ungarische Hymne mit. Betet: ungarisch. Fühlt: ungarisch. Träumt: ungarisch, Tanzt: Csárdás. Scherzt, flucht, kocht, bäckt, spricht: ungarisch. Mit mir spricht sie nur: ungarisch. (Spreche ich sie einmal deutsch an, sagt sie: „Ich verstehe dich nicht, sprich ungarisch!“) Und ich? Bin ich Ungarin oder Wienerin, oder beides?

Im...

Erscheint lt. Verlag 6.5.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-99129-916-X / 399129916X
ISBN-13 978-3-99129-916-5 / 9783991299165
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