Unterwegs nach Chevreuse (eBook)
160 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27565-2 (ISBN)
Schnell freunden sie sich an, und sie führt ihn in ihre Kreise ein: eine Gruppe fragwürdiger Gestalten, die sich regelmäßig in einer Wohnung in Auteuil trifft. Als sie Jean eines Tages ins Chevreuse-Tal und anschließend in ein verschlafenes Dorf mitnehmen, dämmert ihm, dass nichts an dem Ausflug zufällig ist. Denn er kennt diesen Ort aus früheren Zeiten.
Und er weiß, dass er ein wertvolles Geheimnis birgt.
Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen unter anderem die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014), Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015), der Prosatext Schlafende Erinnerungen (2018), das Theaterstück Unsere Anfänge im Leben (2018) sowie zuletzt der Roman Unsichtbare Tinte (2021).
Elisabeth Edl, 1956 geboren, lehrte als Germanistin und Romanistin an der Universität Poitiers und arbeitet heute als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin in München. Sie wurde u. a. mit dem Celan-Preis, Petrarca-Preis, Voß-Preis, dem Österreichischen Staatspreis, dem Romain Rolland-Preis und dem Prix lémanique de la traduction ausgezeichnet. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres der Republik Frankreich.
In flirrend leichter Sprache schreibt der Nobelpreisträger Patrick Modiano sein großes Werk über die schwebende Unzuverlässigkeit der Erinnerung weiter.
Der neue Roman des Literaturnobelpreisträgers: Patrick Modiano „vervollständigt seine traumwandlerische Suche nach der verlorenen Zeit“. La Croix
Es war »Totenkopf«, die ihn eines Abends mitgeschleppt hatte zu der Wohnung in Auteuil. Diesen Spitznamen, den sie schon trug, bevor er sie kennenlernte, hatte sie wegen ihrer Kaltblütigkeit bekommen und weil sie oft einsilbig war und verschlossen.
Mit ihrer sanften Stimme sagte sie manchmal, wenn sie sich vorstellte: »Sie dürfen ›Totenkopf‹ zu mir sagen.« Ihr richtiger Vorname war Camille. Und jedes Mal, wenn er an sie dachte, zögerte Bosmans, ob er Camille schreiben sollte oder »Totenkopf«. Camille war ihm lieber.
Anfangs durchschaute er nicht ganz, was all die Leute, die er in der Wohnung in Auteuil sah, miteinander verband. Fanden sie dort zusammen über das »Netz«, eine stillgelegte Telefonnummer, durch die verschiedene Stimmen unter Pseudonym Verabredungen trafen? Camille, genannt »Totenkopf«, hatte ihm von diesem »Netz« erzählt und von der stillgelegten Telefonnummer AUTEUIL 15.28, und dank eines merkwürdigen Zufalls, hatte sie gesagt, war es die ehemalige Nummer der Wohnung. Und diese schien, trotz der verstohlenen Gegenwart des Kindes und des jungen Mädchens in dem hinteren Zimmer, nicht richtig bewohnt, sondern vielmehr als Treffpunkt zu dienen und als Ort für kurze Begegnungen.
Unter den im Salon versammelten Personen, einem Raum mit drei großen, sehr niedrigen Diwanen, von dem eine Doppeltür seltsamerweise in ein Badezimmer führte, unter diesen Personen, die nur noch Schatten waren in seiner Erinnerung, wegen des immer viel zu schwachen Lichts in der Wohnung, hatte Camille, genannt »Totenkopf«, ihm eine Freundin vorgestellt, eine gewisse Martine Hayward, die sie offenbar seit langem kannte.
Ein sommerlicher Spätnachmittag, und der Tag würde andauern bis abends um zehn. Sie hatten alle drei die Wohnung verlassen. Ein Wagen stand ein Stück weiter oben in der Straße geparkt, der Wagen von Martine Hayward. »Totenkopf« hatte sich ans Steuer gesetzt. Dieser Spitzname passte nicht wirklich zu ihr, doch sie wollte ihn gern behalten, denn sie hatte Sinn für schwarzen Humor.
»Es stört Sie doch nicht, wenn wir ins Chevreuse-Tal fahren?«, hatte Martine Hayward zu ihm gesagt, die auf der Rückbank neben ihm saß. »Nur einmal hin und zurück.«
Während der Fahrt hatte Camille die meiste Zeit geschwiegen.
»Wir sind jetzt im Chevreuse-Tal«, hatte Camille gesagt, an jenem Spätnachmittag, und sich zu ihm umgedreht. Die Landschaft war hier ganz anders, als hätte man eine Grenze passiert. Und später verspürte er jedes Mal, wenn er dieselbe Strecke zurücklegte, von Paris und der Porte d’Auteuil kommend, dasselbe Gefühl: nämlich hineinzugleiten in eine kühle Zone, vom Laub der Bäume geschützt vor der Sonne. Und im Winter glaubte man, denn im Chevreuse-Tal lag mehr Schnee als anderswo, man folge kleinen Bergstraßen.
Ein paar Kilometer vor Chevreuse war Camille, genannt »Totenkopf«, in einen Waldweg gebogen, an dessen Zufahrt ein Holzschild stand mit halb verwaschener Aufschrift: »Auberge du Moulin-de-Vert-Cœur«. Ein Pfeil zeigte die Richtung.
Sie hatte das Auto vor einem großen Fachwerkhaus geparkt. Seitlich der Speisesaal eines Restaurants mit Panoramafenstern. Martine Hayward war ausgestiegen.
»Ich brauche nur einen Augenblick.«
Sie waren eine Weile sitzen geblieben, er und Camille. Und als Martine Hayward nicht gleich wiederkam, waren sie ebenfalls ausgestiegen.
Camille hatte ihm erklärt, Martine Haywards Ehemann habe diesen Landgasthof geführt, die Auberge du Moulin-de-Vert-Cœur, aber der Laden sei eingegangen — zu viele bürokratische Schikanen und Instandhaltungskosten, Schulden, nicht genug Gäste, und sowieso habe Martine Haywards Mann nichts von einem Hotelier oder professionellen Gastwirt. Zuerst musste man das Hotel schließen, wenig später auch das Restaurant. Nur noch ein baufälliges Haus, das aussah wie eine normannische Villa, verloren im tiefsten Chevreuse-Tal. Eine Scheibe fehlte in einem der Panoramafenster des Restaurants.
Bosmans hatte Camille ausgefragt nach diesem Monsieur Hayward, doch sie antwortete nur ausweichend. Zurzeit sei er im Ausland, komme aber bald zurück nach Frankreich. Während seiner Abwesenheit sei es schwierig für Martine Hayward, allein in diesem großen, verlassenen Haus zu leben. Camille hatte angeboten, sie könnte zu ihr ziehen in eins der fünfzehn leerstehenden Zimmer, bis zur Rückkehr ihres Mannes, doch inzwischen hatte Martine Hayward ein Häuschen zur Miete gefunden, ganz in der Nähe.
Sie erschien wieder, in der Hand einen schwarzen Lederkoffer, und sie stellte den Koffer auf die Außentreppe, um die Eingangstür aus massivem Holz abzuschließen, als wäre sie der letzte Gast, mit dem Auftrag, die Auberge du Moulin-de-Vert-Cœur für immer dichtzumachen.
*
Camille setzte sich wieder ans Steuer. Und Martine Hayward auf die Rückbank, neben ihn.
»Jetzt zeige ich dir den Weg«, hatte sie gesagt.
Sie mussten zurück auf die Straße und in östlicher Richtung weiterfahren bis nach Toussus-le-Noble. Plötzlich schien Bosmans dieser Name vertraut, ohne dass er recht wusste warum. Als sie am Flugplatz vorbeikamen, erhellte sich alles. Der Name »Toussus-le-Noble« rief ihm eine Flugschau ins Gedächtnis, die er eines Sonntags erlebt hatte, in seiner Kindheit. Oder war es in Villacoublay gewesen, dem anderen Flugplatz, ganz in der Nähe? Er hatte keine genaue Karte der Region im Kopf, aber diese beiden Flugplätze bildeten für ihn die Grenze des Chevreuse-Tals. Außerdem war nach Toussus-le-Noble das Licht nicht mehr dasselbe, man gelangte in eine andere Region, und das Chevreuse-Tal war ihr Hinterland.
»Noch ein kleiner Umweg, und dann fahren wir zurück nach Paris«, hatte Martine Hayward gesagt, wie um sich bei ihm zu entschuldigen.
Sie kamen nach Buc. Bosmans spürte einen Stich im Herzen. Dieser Name, den er vergessen hatte, dieser so kurze und so helle Name, man hätte meinen können, er reiße ihn jäh aus einem langen Schlaf. Er war versucht, ihnen zu gestehen, dass er hier in der Gegend gelebt hatte, aber das ging sie nichts an.
Bei der Einfahrt ins nächste Dorf erkannte Bosmans sofort das Rathaus und den Bahnübergang. »Totenkopf« passierte den Bahnübergang und nahm die große Straße bis zum Kirchplatz. Sie hielt vor der Kirche, wo er Chorknabe gewesen war, in einer Weihnachtsnacht. Martine Hayward sagte, es sei besser, umzukehren und den Gleisen zu folgen. Dann würde man den Bahnhof schon finden und auch den Weg gegenüber, wie man es ihr erklärt hatte.
Der öffentliche Park zog sich an den Schienen entlang. Die Betonabsperrungen und das Gebüsch, die ihn von der Straße trennten, hatten sich nicht verändert. Bosmans fühlte sich fünfzehn Jahre zurückversetzt, als würde eine bestimmte Zeit seiner Kindheit von neuem beginnen. Allerdings war der öffentliche Park viel kleiner als der in seiner Erinnerung, wo er zum Spielen hingebracht wurde während der Ferien, im Sommer, bei Einbruch der Nacht. Auch der Bahnhof erschien ihm winzig, und die bröcklige Fassade machte ihm deutlich, wie viel Zeit vergangen war.
Camille lenkte den Wagen in die leicht abschüssige Allee. Jetzt spürte er sein Herz pochen. Die Brache linker Hand verdiente noch immer, dass man sie »Urwald« nannte, wie damals, als er sich mit seinen Kameraden von der Jeanne-d’Arc-Schule so tief hineinwagte, bis alle sich verirrten. Die Vegetation war inzwischen noch üppiger.
Sie parkte den Wagen an der Ecke Rue du Docteur-Kurzenne. Eine Frau in schwarzer Bluse wartete vor der Eisentür und dem Gartenzaun der Nummer 38. Martine Hayward winkte und ging zu ihr. Die Frau hatte eine Mappe unterm Arm. Camille stieg nun ebenfalls aus dem Wagen, er dagegen blieb auf der Rückbank sitzen. Als er jedoch sah, dass die Frau einen Schlüsselbund aus ihrer Handtasche holte und die Eisentür aufschloss, gab er sich einen Ruck. Er musste sich Gewissheit verschaffen. Er wiederholte insgeheim diesen Ausdruck, »sich Gewissheit verschaffen«, um zu verstehen, was er wirklich bedeutete, und vielleicht auch, um sich Mut zu machen.
Martine Hayward stellte ihn der Frau in schwarzer Bluse vor: »Ein Freund, Jean Bosmans«, und Camille drehte sich lächelnd zu ihm: »Das ist die Dame vom Maklerbüro.« Aber nach so vielen Jahren vor diesem Haus zu stehen verursachte ihm ein leichtes Schwindelgefühl.
Er folgte...
Erscheint lt. Verlag | 25.7.2022 |
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Übersetzer | Elisabeth Edl |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Chevreuse |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • 21. Jahrhundert • Auteuil • Diebe • Erinnerung • Familie • Jean Bosmans • Jouy-en-Josas • Kleinkriminelle • Liebe • Nobelpreisträger • Paris • preisgekrönte Literatur • Vergessen • Weltliteratur |
ISBN-10 | 3-446-27565-7 / 3446275657 |
ISBN-13 | 978-3-446-27565-2 / 9783446275652 |
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