Kate Kowalski hat schon in ihrer Jugend Geschichten erfunden und aufgeschrieben. Bereits ihr Debüt »Untergehen bei Ebbe« war ein literarischer Erfolg und wurde in zwölf Sprachen übersetzt. Inzwischen hat sie über zwanzig Romane in verschiedenen Genres veröffentlicht. Sie lebt und arbeitet noch immer im Gartenviertel von Kapitolo, wo sie sich eine Wohnung mit der ehemaligen Straßenkatze Möbius und zu vielen Spinnen teilt. Die spektakuläre Geschichte ihrer Flucht vor der Polizei in den Untergrund Kapitolos verarbeitete sie in der hier vorliegenden romanhaften Autobiografie. Es ist ihr erstes Buch nach einer zweijährigen Schreibpause.
3
Die Einheimischen nennen das Polizeipräsidium den Palast der Schneekönigin. Dabei gibt es weder eine Schneekönigin noch einen Palast. Nur zwei moderne, sich in die Höhe schraubende Gebäudeflügel mit Milchglasfassade, die durch einen Backsteinoriginalbau verbunden sind. Dieser duckt sich zwischen die beiden hell strahlenden Anbauten, als schäme er sich für seine dunkle Vergangenheit.
Den Mauern dieses Mittelteils sieht man das Alter an; die unzähligen Jahre voller Tragödien, Anschuldigungen, geflüsterter Berichte, Geständnisse und vergossener Tränen. Von den strahlenden Fassaden des Schneepalasts prallt all dies ab. Und je länger ich dem Beamten Driessen in seinem Büro gegenübersaß, desto mehr kroch mir die Kälte trotz der Winterstiefel von den Füßen langsam nach oben in die Schultern, als wären die weiß gestrichenen Wände tatsächlich aus Eis. Ich versuchte zu begreifen, was geschehen war, aber es wollte mir nicht recht gelingen. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass eine meiner Figuren nach Kapitolo kommen würde. Ich hielt mein Schreiben für unbedenklich und ungefährlich, genau wie mich.
Bei der VdF sah man das offenbar anders. Peer Driessen hatte den Fall wenige Stunden zuvor übertragen bekommen ebenso wie die Koordination mit den zuständigen Beamten der Mordkommission. Er war ein hohes Tier innerhalb der VdF, sein Foto fand sich häufig in Zeitungen und seine Stellungnahmen in Fernsehsendungen. Obwohl erst Ende vierzig, war er bereits seit über zehn Jahren das öffentliche Gesicht der VdF und galt als Hardliner, was die Bestrafung von Autoren und Figuren betraf. Er war tadellos höflich, dabei jedoch keineswegs freundlich. Über der dunklen Hose trug er ein Hemd ohne Schlips, die Ärmel waren nachlässig hochgekrempelt. Doch die Arbeit hatte Spuren hinterlassen. Er besaß tiefe Falten, die sich von den Augenwinkeln über die Wangen bis unter die Ohren zogen, und sah aus wie jemand, der dringend Urlaub benötigte.
Das Licht einer schlichten weißen Deckenlampe bot gerade genug Helligkeit, um Papiere lesen zu können, während es um jeden Gegenstand einen Schattenkragen legte. Hinter dem Schreibtisch hing ein schmales Regal, auf dem zahlreiche gerahmte Fotos standen. Sie zeigten Driessen dabei, wie er entflohene Figuren in Gewahrsam nahm und sie ihrer Strafe zuführte, es waren Ausschnitte seiner anhaltenden erfolgreichen Karriere.
Ich erkannte nicht alle Figuren, die darauf abgebildet waren, nur ein paar. Oskar Matzerath. Sancho Panza. Alexej Wronskij. Das waren spektakuläre Fälle gewesen, weil ihre Autoren bereits verstorben waren und somit nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Die Zeitungen hatten seitenweise darüber berichtet. Mein Blick glitt über die Gesichter, während sich das Zittern meiner Hände verstärkte. Schließlich blieb er an einem Bild hängen, das sich vor vielen Jahren tief in mein Gedächtnis eingegraben hatte.
Driessen hatte einen jungen Mann am Oberarm gepackt, die andere Hand auf seinen Kopf gelegt, während er ihn auf die Rückbank eines Polizeiwagens schob. Der Blick der Figur war der eines eingesperrten Tiers, ihr Name Holden Caulfield. Es hatte sich um einen der wenigen Fälle gehandelt, in denen Leute gegen die Verurteilung einer Figur protestiert hatten, weil sie nicht glauben konnten, dass ausgerechnet Salingers beliebter Protagonist Enten in einem Park abgeschossen haben sollte. Salinger war zu einer hohen Geldstrafe verurteilt worden und danach aus Kapitolo fort- und wieder in seine Heimat gezogen.
Bei Holdens Rückführung in die Fantasiewelt, die im Fernsehen übertragen worden war, hatte ich keinerlei Befriedigung empfunden. Diese Figur war ein Held meiner Jugend gewesen – und zu sehen, wie sie in Handschellen die Stufen des Schwarzen Tempels hinaufgeführt wurde, hatte mich erschüttert. Es kam mir damals so grundlegend falsch vor, dass jemand, der doch für so viele von uns ein Symbol der Freiheit gewesen war, alle Gewalt über sich verlor. Holden hatte sich nicht gewehrt, und als sich die großen, schweren Flügeltüren aus Diamantnuss hinter ihm schlossen, hatte ich still geweint.
Auch jetzt schnürte mir der Anblick dieses Fotos wieder die Kehle zu. Dieses Mal jedoch aus Angst. Denn die Fotos auf dem Regal bezeugten vor allem eines: Hier war jemand, der keine Gnade walten ließ; wer gegen die Regeln verstieß, musste dafür bezahlen, selbst wenn es sich um Jane Austens Emma gehandelt hätte.
Eine instinktive Furcht vor Driessen erfasste mich, obwohl er augenscheinlich nichts tat, was mir hätte Angst bereiten müssen. Trotzdem wurde mein Mund trocken, als er mir sachlich erklärte, weshalb ich hier war, und mir versicherte, dass es sich lediglich um eine erste Befragung handelte und ich jederzeit gehen könne. Auf dem Tisch zwischen uns lagen Papiere und Fotos, die das Verbrechen dokumentierten.
Gegen Mittag war die Polizei zu einer Wohnung in Mitte-West gerufen worden, in der sie die Leiche der 33-jährigen Damla Abbas fand. Sie war mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen worden und musste bereits einige Stunden tot sein. Bei der Untersuchung des Tatorts hatte die Spurensicherung unter anderem die Fingerabdrücke einer Figur entdeckt – meiner Figur.
Driessen schob ein Foto zu mir herüber. Aus der Aufnahme starrte mir eine Tote blind entgegen. Unter ihrem dunklen Haar breitete sich ein Blutfächer wie ein altmodischer Stehkragen aus dem 16. Jahrhundert aus.
»Sind Sie sicher?«, fragte ich, während ich die Finger zwischen die Knie steckte, um das Zittern zu verbergen.
Er nickte, und die Falten erzeugten unruhige Schatten in seinem Gesicht. »Die Fingerabdrücke am Tatort stimmen mit Ihren überein. Das steht zweifelsfrei fest. Natürlich ist es immer möglich, dass jemand bei der Auswertung der Datenbank einen Fehler gemacht hatte, aber die Wahrscheinlichkeit ist doch gering.«
Da Figuren die spiegelverkehrten Fingerabdrücke ihrer Schöpfer besitzen, muss ein jeder Bewohner in Kapitolo bereits zur Einschulung seine Fingerabdrücke registrieren lassen. Immerhin wird einem in der Schule das Schreiben beigebracht – und Worte besitzen Macht, das weiß in Kapitolo jedes Kind. Mit ihnen erschafft man Figuren, Helden und Monster.
Auf diese Weise ist jeder Bürger registriert, ob er nun eine Lizenz zum Schreiben vom Amt für Literatur und Artverwandtes besitzt oder nicht. Wer später in die Stadt zieht, so wie meine Familie, muss sich nachträglich erfassen lassen. Das macht es der VdF so leicht, Figuren ihrem Schöpfer zuzuordnen.
»Sie wissen sicher, dass gegen Sie auf jeden Fall eine Anzeige wegen Übertretung einer Figur im Sinne des Verantwortungsgesetzes gestellt wird.«
Ich nickte. Bei dem Gedanken daran, was mir blühen könnte, sollte sich herausstellen, dass meine Figur einen Menschen getötet hatte, wurde mir übel.
»Haben Sie eine Figurenhaftpflichtversicherung?«
Erneut nickte ich.
»Dann dürfte die Begleichung der Tagessätze kein Problem sein. Allerdings gelten Sie anschließend als vorbestraft, das ist nicht mehr zu ändern.«
Mich überkam das Bedürfnis, mich zusammenzurollen. Ich kannte einige Autoren, die aus demselben Grund vorbestraft waren, manche von ihnen hatten im Anschluss die Stadt verlassen, um an anderen Orten weiterzuschreiben. Die, die hiergeblieben waren, beklagten sich oft darüber, wie beschwerlich es war, die jährliche Verlängerung ihrer Schreiblizenz zu erhalten. Es war jedes Mal ein Kampf mit dem Amt.
Wieder huschte mein Blick über die Fotos auf dem Tisch, die Driessen für mich ausgebreitet hatte. War das, was ich dort sah, wirklich in irgendeiner Weise meine Schuld? Hatte ich eine Figur erfunden, die in die Realität eingedrungen und zum Mörder geworden war? Oder war sie nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und hatte gar nichts mit dem Verbrechen zu tun?
Ich schluckte und wischte mir die schweißnassen Hände an den Oberschenkeln ab, während mir das Herz rasend gegen den Brustkorb schlug. Alles war möglich, und ich ahnte nicht im Geringsten, um welche Figur es sich handeln könnte, doch genau das wollte Driessen in diesem Augenblick von mir wissen.
»Versuchen Sie, ruhig zu bleiben«, sagte er, erreichte damit aber nur das Gegenteil. »Wollen Sie einen Kaffee?«
Wieder einmal nickte ich, und Driessen verließ den Raum, der mir auf einmal noch kälter erschien. Für einen kurzen Moment spielte ich mit dem Gedanken, tatsächlich einfach aufzustehen und zu gehen, doch ich hatte zu viel Angst, dass mir eine Verweigerung in einer möglichen späteren Verhandlung als unkooperativ ausgelegt werden würde. Mir zuckten die Muskeln in Armen und Beinen, weil ich mich so verkrampfte.
Wie hypnotisiert starrte ich zu den Fotos auf dem Wandregal. Ich erkannte nun auch T. H. Whites Protagonisten Wart, der sich nach seinem Übertritt als Brandstifter entpuppt hatte und vor seiner Rückführung zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war. White selbst erhielt zwei Jahre auf Bewährung, weshalb er sich bekanntermaßen auf die Kanalinsel Alderney zurückzog. Würde ich ebenfalls die Stadt verlassen müssen? Das konnte und wollte ich mir nicht vorstellen. Meine engsten Freunde lebten hier, ich hatte alle meine Bücher in Kapitolo geschrieben, und tief in mir saß der Zweifel, ob ich überhaupt in der Lage war, an einem anderen Ort etwas zu Papier zu bringen.
Der Gedanke daran weckte in mir das Gefühl, als würde sich eine unsichtbare Schlinge um meinen Hals zuziehen. Fieberhaft ließ ich das Personal meiner Romane vor dem geistigen Auge Revue passieren. Natürlich dachte ich als Erstes an meine Kriminalromane und...
Erscheint lt. Verlag | 18.1.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | 2023 • Autoren • Buchliebhaber • eBooks • Fantasy • Geheimnisse • Geschichten über Geschichten • Magie • Mord • Neuerscheinung • romanfiguren • Spannung • Worte |
ISBN-10 | 3-641-29195-X / 364129195X |
ISBN-13 | 978-3-641-29195-2 / 9783641291952 |
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