Schatten der Schuld (eBook)
352 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2837-9 (ISBN)
Julia Niermann wurde 1970 in London geboren und wuchs in Großbritannien und Deutschland auf. Sie promovierte 2005 in Psychologie an der University of Durham und machte 2010 einen Master in Creative Writing an der University of Lancaster. Sie arbeitet seit mehreren Jahren als freie Autorin und Übersetzerin und lebt mit ihrem Mann und vier Kindern in Berlin.
Julia Niermann wurde 1970 in London geboren und wuchs in Großbritannien und Deutschland auf. Sie promovierte 2005 in Psychologie an der University of Durham und machte 2010 einen Master in Creative Writing an der University of Lancaster. Sie arbeitet seit mehreren Jahren als freie Autorin und Übersetzerin und lebt mit ihrem Mann und vier Kindern in Berlin.
Prolog
1. Januar 1900
Das neue Jahrhundert ist eine halbe Stunde alt, und ganz Berlin ist auf den Beinen. Wir schlängeln uns durch die Massen, mein Arm fest um Gretes Taille, durch die Besoffenen, die Singenden, die Weinenden, die Streitenden. Vorbei an Droschken, deren Pferde frostig-weiße Atemwolken schnauben; vorbei an abgemagerten Bettlern und frierenden Dirnen; an feinen Herren mit Zylindern und noch feineren Damen und ihren mit Straußenfedern verzierten Hüten. Ein Leierkastenspieler lässt sein kostümiertes Äffchen an einer Strippe tanzen, sehr zur Belustigung der Passanten, die trotz der klirrenden Kälte innehalten. Rußpartikel schweben wie die Schneeflocken, die bis gestern aus dem grauen Himmel fielen, sichtbar in der Luft und landen auf der Krempe meiner Mütze. Die Luft ist so kalt, dass selbst das Atmen schwerfällt.
Eine alte Frau in einem zerlumpten schwarzen Kleid hockt wie eine riesige Krähe vor einem Korb voller Pfannkuchen. Sie grinst, als wir an ihr vorbeilaufen, zeigt einen Mund voller Zahnlücken und preist halbherzig ihre Ware an. Wir bleiben kurz stehen, aber beim näheren Hinsehen wirkt das Gebäck alt und hart. Ich bücke mich und rieche daran: ranziges Frittierfett. Ich schlinge meinen Arm wieder um Gretes Taille und ziehe sie weiter. Mein Magen knurrt – ich habe seit Stunden nichts gegessen –, aber ich weiß, dass zu Hause Mammas buondì auf mich warten.
Grete ist ein süßes Mädchen, klein und zierlich, mit blonden Löckchen, die frech aus ihrem Hut hervorlugen, und einem Mund wie eine Erdbeere. Sie trägt einen langen dunkelvioletten Wollmantel und einen Muff aus Kaninchenfell. Sie hat zwei Bier getrunken und einen Schnaps, ihre Wangen glühen. Sie hatte den Anschein erweckt, durchaus noch ein weiteres Bier zu wollen, aber mein Geld war aufgebraucht. Um Mitternacht haben wir uns mit einem uns spendierten Weinbrand zugeprostet, uns ein frohes Neues gewünscht, und obwohl sie meinem Kuss ausgewichen ist und mir lediglich ihre Wange hingehalten hat, mache ich mir leise Hoffnungen auf ein paar Zärtlichkeiten, bevor der Tag anbricht.
Wir kennen uns erst seit einer Stunde.
Um kurz nach elf saß ich noch allein im Gasthof Zur Windmühle, ein schales, zwei Stunden altes Bier vor mir, das mir bis Mitternacht reichen musste. Die paar Mark, die mir übrig blieben, wollte ich nicht unnötig ausgeben. Meine Pfeife steckte kalt und leer geraucht in meiner Jackentasche. Ich hätte zu Hause mit meiner Familie feiern können, aber dort kann ich nicht ich sein. Also zog es mich hierher, ich wollte allein sein. Allein sein unter Fremden.
In einer Ecke der verrauchten Kneipe, wo der fette alte Wirt sein Akkordeon so traktierte, dass die schiefen Töne durch Mark und Bein sämtlicher Kneipengäste gingen, erspähte ich plötzlich eine junge Frau. Sie war etwas unbeholfen geschminkt, wie ein kleines Mädchen, das mit dem Wangenrot und dem Lippenstift seiner Mutter gespielt hat. Unbeholfen war auch die Art, wie sie dastand und sich umschaute, als suche sie nach etwas oder jemandem und dabei selbst nicht so richtig wusste, nach wem oder was.
Ich war natürlich nicht der Einzige, dem sie auffiel – in die Windmühle, wie auch in andere Kneipen, dürfen normalerweise keine Frauen. Aber heute, am Silvesterabend, wurde das nicht so genau genommen. Schon bald war sie umringt von eifrigen Kerlen, die beim Anblick einer unbegleiteten Schönheit geifernd ihre Männlichkeit feilboten. Ich wartete einige Augenblicke, um sicherzugehen, dass sie nicht doch mit einem verabredet war. Als sich ihre zarte Stimme zu einem »Nein, aber nein doch, ich möchte nicht« erhob, nahm ich mein immer wärmer werdendes Bier in die Hand und gesellte mich zu ihr.
»Da bist du ja, Chérie!«, sagte ich und nahm ihre Hand, hob sie zu meinem Mund und berührte selbstbewusst den Handschuh mit meinen Lippen.
Nun, ich bin wahrlich kein Romeo – sie hingegen zweifellos eine Julia! –, aber es war vermutlich meine etwas knabenhafte Erscheinung, die zu ihrer Entscheidung maßgeblich beitrug.
Sie zögerte eine lange Sekunde, schaute kurz nach links und rechts auf die lüsternen, gierigen Blicke der Männer und sagte dann: »Ja, da bin ich. Ich wurde … aufgehalten.«
Ich versicherte ihr, dass sich eine Dame nie fürs Zuspätkommen entschuldigen müsse, geleitete sie zu meiner Ecke zurück und bestellte ihr ein Bier. Wir stellten uns gegenseitig vor – sie: Grete, ich: Toni – und tranken zusammen einige Biere. Doch der Geräuschpegel verhinderte tiefgründigere Gespräche, und so verließen wir die Windmühle und stürzten uns ins bunte Treiben des neuen Jahrhunderts.
Die Stimmung heizt sich jetzt zunehmend auf; auf ein Rempeln folgt nur noch selten eine freundliche Entschuldigung, Meinungsverschiedenheiten werden mit Fäusten statt Worten ausgetragen, und im Nordwesten verkündet eine schwarze Rauchwolke, dass irgendwo im Wedding ein Haus in Flammen steht.
Von links krachen Knallkörper, so laut, dass Grete zusammenzuckt. Ich nehme sie fester in den Arm, sie riecht nach Lavendel-seife und ein bisschen nach Fisch. Frischem Fisch – nicht wie ein Marktweib, das sich seit Wochen nicht gewaschen hat. Vielleicht arbeitet sie ja auf dem Fischmarkt. Sie sieht dafür etwas zu vornehm aus, aber man weiß ja nie. Ich werde sie danach fragen, wenn es sich ergibt.
»Ich kenne eine Abkürzung«, sage ich. »So kommen wir raus aus der Menge.»
»Eine Abkürzung wohin?«, fragt sie, ein wenig atemlos. Sie zittert.
»Vielleicht findet sich ja irgendwo ein ruhiges Plätzchen«, sage ich, obwohl in dieser Nacht sicher in ganz Berlin kein ruhiges Plätzchen zu finden sein wird.
Wir biegen links in eine Gasse, die zur Metzer Straße führt. Dort, wo die Gasse in die Straße mündet, ist es in der Regel menschenleer. Grete zögert kurz, scheint verunsichert.
»Hier stinkt’s«, sagt sie und verzieht ihr hübsches Gesicht.
Sie hat recht: Die Luft hier ist kaum einzuatmen, ohne sich den ekelerregenden Gestank von Fäkalien und Fäulnis in die Nase zu ziehen. Ich nehme ihre Hand, und wir laufen zügig weiter in Richtung der Straße. Unsere Schritte hallen an den turmhohen Backsteinwänden wider, das zarte Klacken ihrer Schnürstiefeletten und das dumpfe Auftreten meiner etwas zu großen Knopfstiefel.
Am Gemäuer flackern Laternen, die leise zischen und dennoch kaum Licht spenden. Eine große Ratte huscht an uns vorbei und verschwindet augenblicklich wieder im Schatten. Ich kann mich gerade noch beherrschen, nicht zusammenzuzucken. Es sind noch ungefähr zehn Meter bis zum Ende der Gasse, und obwohl sich die Metzer Straße scheinbar auch mit einer lauten Menschenmenge gefüllt hat, kann ich es kaum erwarten, wieder frische Luft zu atmen.
Doch plötzlich: Schritte hinter uns. Vom Alkohol verlangsamt, schaffe ich lediglich eine Halbdrehung, bevor ich von hinten gepackt werde. Ich spüre zwei große Männerpranken auf meinen Schultern. Sie wirbeln mich herum, und gleichzeitig sehe ich, wie ein anderer Mann nach Grete greift. Er reißt ihr den Kaninchenmuff vom Hals. Er landet in der Rinne.
Mein Angreifer drückt mich gegen die kalte Wand. Er ist mindestens zwei Köpfe größer als ich.
»Mach die Taschen leer!«, faucht er. »Aber dalli.« Er fletscht gelb-gräuliche Zähne.
Ich habe kein Geld in der Tasche, dafür aber ein Klappmesser. Ich stecke die rechte Hand in die Tasche, aber bevor ich das Messer aufklappen kann, hat er es schon gesehen und schlägt meine Hand gegen die Wand. Meine Knöchel knacken schmerzhaft beim Aufprall. Das Messer fällt zu Boden, und er tritt es weg.
»Toni!« Ich höre ein Wimmern von Grete.
»Hab keine Angst, Grete‚ alles wird gut«, sage ich, habe aber meine Stimme nicht mehr unter Kontrolle und höre, wie sie quietschend in die Höhe schießt.
Mein Angreifer richtet sich bei meinen Worten auf. »Was zum – ?«
Er reißt mir mit einem Ruck die Mütze vom Kopf. Der Knoten, zu dem ich meine Haare zusammengebunden habe, löst sich, und lange Locken fallen auf meine Schultern und in mein Gesicht. Der Mann greift sich ein Büschel Haare und reißt meinen Kopf hart nach hinten. Im schummrigen Licht der Gasse glotzt er mich an. Seine Haut ist fahl und durchzogen von roten Äderchen.
»Joachim, das glaubst du nicht!«, ruft er seinem Freund zu. Aus seinem Mund strömt der Gestank von Eiter und Bier. Mein Magen dreht sich um.
»Was?«, brummt Joachim, der damit beschäftigt ist, Grete zu begaffen.
»Ein Mädchen«, sagt er. »Das hier ist ein Mädchen.«
Ich atme flach und schnell, mein Puls rast. Ich drehe den Kopf ein kleines Stück nach links und sehe, wie Joachim Gretes Arme an die Wand gedrückt hält. Sie weint. Der Lärm aus der Metzer Straße nimmt zu. Der Schrei einer Frau, das Bellen von Hunden, johlende Männer. Das Geklapper von Pferdehufen und das Quietschen von ungeölten Achsen der vorbeifahrenden Kutschen. Das Ganze untermalt vom ohrenbetäubenden Knallen vereinzelter Feuerwerkskörper. Auch wenn wir nach Hilfe schrien – keiner...
Erscheint lt. Verlag | 29.12.2022 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Babylon • Berlin 1900 • BI • divers • Feminismus • Gastarbeiter • historisch • Italien • Jahrhundertwende • Korruption • Krimi • Liebesgeschichte • Queer • Saga • Stern • Transgender • Trockenwohnen |
ISBN-10 | 3-8437-2837-2 / 3843728372 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2837-9 / 9783843728379 |
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