Wie sage ich es meiner Mutter (eBook)
208 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-29558-5 (ISBN)
Wladimir Kaminers Mutter versteht die Welt nicht mehr. Ihre Enkel ziehen vegane Rühreier einer ordentlichen Bulette vor, den früher so geliebten Zoo wollen sie als Ort der Tierquälerei abschaffen, und sogar Omas umweltfreundliche elektrische Fliegenklatsche wird kritisiert. Lange ersehnte Flugreisen gelten plötzlich als böse, und selbst das Internet-Rezept für Gurkensalat hat seine Unschuld verloren. Zeigt es doch, dass ein hinterhältiger Algorithmus steuert, welche Informationen man bekommt. Im Fall von Wladimir Kaminers Mutter sind das eher Kochtipps als Aufrufe zum Klimastreik. Und so leben Oma und Enkel zunehmend auf verschiedenen Planeten. Wladimir Kaminer gibt sein Bestes, seiner Mutter diese neue Welt zu erklären und mit Humor und wechselseitigem Verständnis zwischen den Generationen zu vermitteln - von Biofleisch bis Gendersternchen.
»Der fabelhafte Schriftsteller Wladimir Kaminer ist das, was manche vermeintliche und selbst ernannte Brückenbauer gerne wären, ein echter Brückenbauer nämlich.« Süddeutsche Zeitung
Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Mit seiner Erzählsammlung »Russendisko« sowie zahlreichen weiteren Bestsellern avancierte er zu einem der beliebtesten und gefragtesten Autoren Deutschlands.
Ökologische Gerechtigkeit auf dem Raucherbalkon
Der Sommer war sehr heiß geraten. Bei diesen Temperaturen verwandelte sich die Biomülltonne in unserem Hinterhof in eine Fruchtfliegenproduktionsstätte, und die lästigen Tierchen flogen, ohne um Erlaubnis zu fragen, zu Hunderten durch die geöffnete Balkontür in unsere Küche: Vorderhaus erster Stock, Küchenbalkon zum Hof raus. »Willkommen seist du, neues freches Leben«, dachte die Katze meiner Mutter. Sie freute sich erst über die Ankömmlinge und ging auf die Jagd nach ihnen, machte dann aber schon nach einer Viertelstunde schlapp. Die Katze fühlte sich überfordert. Sie war nicht mehr die Jüngste und obendrein von der Hitze etwas faul und langsam geworden. Bis sie eine Fliege gefangen hatte, waren schon drei Dutzend neue im Anflug. Also kaufte Mama im Pfennigland eine elektrische Insektenklatsche namens Olympia für 4,99 und zog damit sofort den Zorn der Enkelkinder auf sich. Das Verhalten der Oma verstoße gegen die Grundsätze der ökologischen Gerechtigkeit, behaupteten sie.
Meine Mutter wunderte sich sehr darüber, dass man Fliegen nicht elektrisch töten durfte. Gefühlt stand sie doch perfekt im Einklang mit dem Zeitgeist: Man kochte inzwischen elektrisch, fuhr elektrisch Fahrrad, warum also sollte man nicht auch Fliegen elektrisch erledigen und die lästigen Biofliegen aus der Biotonne mit einer Bioklatsche verfolgen? »Alles bio oder was?«, fragte Mama nach.
Ich hatte Schwierigkeiten, es ihr zu erklären. Natürlich war dieses überentwickelte Umweltbewusstsein der jungen Generation eine Folge der Pandemie. Wir Menschen trugen als Umweltzerstörer die Schuld für die Verbreitung der tödlichen Viren, für Überschwemmungen, Waldbrände und Hitzewellen. Wir hatten alles versaut und wurden nun dafür bestraft. Wir durften keine dicken Autos mehr fahren, kein billiges Fleisch mehr essen, und statt des Sandmännchens summte jeden Abend Karl Lauterbach im Fernsehen. »Egal, was wir tun«, erzählte uns der Miesepeter Karl, »die nächsten achtzig Jahre sind für den Arsch.«
Die Schuldgefühle der Natur gegenüber und die Angst, noch mehr kaputt zu machen, traf alle Altersgruppen außer der leichtsinnigen Generation achtzig plus, die einfach unbeschwert weiter vor sich hinlebte. Sie wusste, wie schnell achtzig Jahre vorbeiflutschten, und lehnte die Aufforderung ab, den Planeten zu retten. Das hieße ja, nicht mehr zu reisen und nicht mehr zu grillen, nur damit in achtzig Jahren die überfluteten Niederlande wieder trocken gepumpt werden konnten. »Who the fuck is Niederlande?«, dachten die Älteren insgeheim.
Die Jüngeren nahmen sich das Umweltproblem jedoch sehr zu Herzen. Sie waren schwer damit beschäftigt, nur durch die Nase zu atmen, um weniger CO2 auszustoßen, der Müll wurde sorgfältiger denn je getrennt, und »Kurzstreckenflug« war zu einem Schimpfwort geworden. Meine Kinder suchten in ihrer Umgebung ständig nach Umweltsündern, fanden aber niemanden außer ihrer Oma, die ständig vergaß, ihre Klimaanlage auszuschalten. Sie solle den Ventilator nicht den ganzen Tag laufen und die Biofliegen in Ruhe lassen, meinten die Kinder.
Das ältere Enkelkind hatte außerdem aus der Uni das Konzept der ökologischen Gerechtigkeit mit nach Hause gebracht. Es hatte ein dickes Buch zu dem Thema gelesen, möglicherweise sogar zwei, und fing bald an, danach zu predigen: Der Mensch verhalte sich widernatürlich, sagte das Kind: »Wir müssen eine ökologisch gerechte Welt schaffen!« Wir. Bei uns in der Wohnung. Im ersten Stock und bei dreißig Grad im Schatten, mit Balkon zum Hinterhof und tausend Biofliegen im Anmarsch.
Die ökologisch gerechte Welt drückte uns schwer auf den Magen. Sie sah vor, dass alle dasselbe Recht auf Leben hatten, egal ob Käfer, Fliegen oder Menschen. Wir mussten allen Wesen ihren ganz eigenen Wert einräumen, ohne jeglichen Nutzungsanspruch. Nur dann konnten wir zu Tieren und Pflanzen jene korrekte soziale Beziehung entwickeln, die uns selbst wieder in die Natur eingliederte und zu einer friedlichen Symbiose mit der Außenwelt finden ließ, klärte uns das Kind auf. Wir nickten schweigend und schauten den Biofliegen zu, wie sie uns von unserem Balkon zu verdrängen versuchten. À la guerre comme à la guerre, wie die Franzosen sagen.
Eigentlich hatte die Naturinvasion schon mit den Viren begonnen. Zuerst drängten sie die Menschen von der Straße. Und während wir isoliert und unter Hausarrest von der Welt ausgeschlossen waren, eroberte sich die Natur Stück für Stück unsere mit viel Liebe und Mühe aufgebauten Großstädte zurück und nahm sie in Besitz. Füchse liefen bei Rot über die Kreuzung, ohne Angst, überfahren zu werden. Krähen und Tauben enteigneten die Klappstühle der geschlossenen Außengastronomie und schissen sie voll, und bei vielen Abfalltonnen im Grunewald übernahmen Wildschweine die Mülltrennung. Noch nie da gewesene weiße und blaue Blümchen blühten mitten auf der Fahrbahn aus den Rissen im Asphalt.
Doch kaum sanken die Inzidenzen, starteten die Menschen sofort eine Gegenoffensive. Sie wollten ihre sozialen Räume zurückgewinnen, vor allem die Klappstühle der Außengastronomie. Sie drängten die Natur wieder aus der Stadt, sie sollte dorthin verschwinden, wo sie hergekommen war, nach Brandenburg in den Wald. Doch die Natur zeigte sich zäher als gedacht, sie wollte nicht aufgeben. Nachdem sie einmal Blut geleckt hatte, heulte die Natur nachts vor unseren Fenstern, sie summte und zwitscherte und kletterte auf die Balkone und die Hausfassaden hoch. Den halben Sommer konnte ich nicht schlafen, so heiter verpaarten sich die Singvögel auf dem Hof und veranstalteten dabei auf dem überdachten Mülltonnenplatz ein polyfonisches Konzert in Überlänge. Da konnte Wagner seine ganzen Meistersinger gleich zurück nach Nürnberg schicken. Morgens knallte dann ab sechs Uhr früh die Sonne durch die Fenster, und kaum machte man sie auf, hatte man sofort die Meistersinger in voller Lautstärke und die Fliegen aus der Biomülltonne in der Küche. Machte man die Fenster zu, erwärmte sich die Wohnung auf unerträgliche Temperaturen.
Einmal waren wir vor der Hitze an einen See geflohen und drei Tage nicht zu Hause gewesen, schon hatte jemand ein Nest auf unserem Küchenbalkon gebaut. Ein richtiges Vogelnest mit einem kleinen blauen Ei darin und einer Amsel darauf. Es war unser Raucherbalkon. Die Familienmitglieder nutzten ihn, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen und an einem Glas Wein zu nippen. Im Sommer blieben wir gerne länger auf dem Balkon sitzen, es war dann der schönste Ort der ganzen Wohnung. Nun war er zu einer Krippe geworden. Der freche Vogel hatte sein Nest direkt im großen Aschenbecher gebaut, sein neues Zuhause passte perfekt hinein. Nun saß das Weibchen mit offenem Schnabel da und blickte uns aus runden Augen streng an, als wollte es sagen: »Rauchen tötet. Ab jetzt wird hier nicht mehr gequalmt. Wir wollen nämlich neues Leben aus eurer alten Asche entstehen lassen, hier in diesem Aschenbecher.« Abends kam das Männchen vorbei, und Mutti flog kurz weg, um sich ein wenig die Flügel zu vertreten. Papa setzte sich ins Nest und legte augenscheinlich noch weitere Eier dazu, denn am nächsten Tag zählten wir bereits vier.
Wir waren alle gespannt, und vor allem die Katze meiner Mutter wartete mit Ungeduld auf das neue Leben. Mit dem Einzug der Vögel in den Aschenbecher veränderte sich aber auch unser Alltag. Keiner aus der Familie wagte es, in Anwesenheit des ungeborenen Lebens und direkt vor dem Schnabel der jungen Mutter zu paffen. Unsere erwachsenen Kinder lästerten über uns. »Freut ihr euch schon auf den Nachwuchs? Wie wollt ihr die Kleinen denn nennen? Vielleicht nach euren Zigarettenmarken – R1, R2, R3?« Drei Tage später lagen fünf Eier im Aschenbecher. Wir recherchierten im Internet und fanden heraus: Zwei Wochen sollte es bis zum Schlüpfen dauern, dann noch zwei Wochen feste Kindernahrung im Nest, damit die R1-en zu Kräften kommen und unseren Balkon endlich verlassen konnten.
Am Ende schlüpften nur aus zweien der fünf Eier tatsächlich Küken, die restlichen drei hatten es sich anders überlegt. Anscheinend wussten sie, dass mit unserer Welt etwas nicht stimmte. Die Nichtgeschlüpften wurden von ihren Eltern sorgfältig entsorgt, dann begann die Fütterung. R1 und R2 erwiesen sich als unglaublich hungrige Bestien, sie hatten rund um die Uhr Appetit. Und obwohl wir dank der Biotonne eigentlich genug Fruchtfliegen hatten, die ihnen fast direkt in den Schnabel flogen, wirkten die Eltern überfordert. Dafür begeisterte sich meine Mutter sehr für den Nachwuchs. Sie vergaß ihre Katze und verbrachte jeden Tag viel Zeit auf dem Balkon, um die Küken wachsen zu sehen. Von ihrem eigenen Fütterinstinkt gelenkt, wollte sie die jungen Eltern bei der Nahrungsbeschaffung unterstützen. Sie holte ihre Elektroklatsche und half den Amseln nach Kräften bei der Fliegenjagd. Laut den Erkenntnissen aus dem Internet waren tatsächlich ausgerechnet diese Fliegen und nicht etwa Würmer das beste Essen für die kleinen Amseln. Also bekamen R1 und R2 ihre Fliegen teilweise roh von ihren Eltern und teilweise leicht angeschmort von meiner Mutter. Gemeinsam schafften sie es, die jungen Vögel innerhalb einer Woche auf die Größe einer Zigarrenschachtel zu füttern. Sie konnten sogar schon selbstständig fliegen.
Meine Mutter war von dieser Erfahrung sehr angetan und fühlte sich mit ihrer Fliegenklatsche als Teil einer erstrebenswerten natürlichen Symbiose ganz im Sinne der ökologischen Gerechtigkeit. Sie meinte, sie habe das Konzept jetzt verstanden. Noch lange danach wollte sie in jeder Amsel auf dem Hof R1 oder R2 wiedererkannt haben und winkte ihnen mit der Klatsche. »Ja«, sagte sie, »natürlich...
Erscheint lt. Verlag | 21.9.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2022 • Augenzwinkern • Beobachtung • Bestseller Autor • bestsellerliste spiegel aktuell • eBooks • Geschenk • Gesellschaft • Hardcover Bücher • Humor • lustig • lustige • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2022 • Roman |
ISBN-10 | 3-641-29558-0 / 3641295580 |
ISBN-13 | 978-3-641-29558-5 / 9783641295585 |
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